Auf die Grünen kommt es an

Markus Söder hat mal wieder etwas Interessantes gesagt, das wir beachten sollten. Er sagte, er halte Grün-Schwarz für falsch, denn „als Juniorpartner der Grünen in eine Regierung einzutreten, würde der Union auf Dauer fundamentalen Schaden zufügen.“

Wo er Recht hat, hat er Recht. Versteht sich eigentlich von selber für die Union, die es immer so gehalten hat. Macht verloren, ab in die Opposition. Diesmal aber könnte es anders kommen, geht dem Söder Markus offenbar durch den Kopf und deshalb sagt er schon jetzt, dass sich die Union den Grünen unterwerfen darf.

Aber aus welchem Grund zieht er heute schon die rote Linie?

Dafür gibt es drei Erklärungen. Erklärung Nummer 1: Söder gibt die Wahl verloren, weil der Wechselwunsch so groß ausfällt, dass die Aufholjagd der Union scheitern wird. Damit es auf sie ankommt, müsste sie bei rund 40 Prozent landen, so dass sie mit der FDP regieren kann. An die 40 glaubt er nicht, glauben wir nicht.

Erklärung Nummer 2: Söder hält Armin Laschet für untauglich und erinnert zum soundsovielten Mal daran, dass er der Kandidat mit der Schlagkraft gewesen wäre, die dem anderen abgeht. Aber die 40 liegt auch außerhalb seiner Reichweite.

Erklärung Nummer 3: Söder, ein großer Rechthaber, will am 26. September sagen können, er habe die Zeichen an der Wand schon Monate vor der Wahl erkannt.

Natürlich geht in der Union die Angst um, dass auf Angela Merkel nicht ein Mann folgt, sondern eine Frau. Natürlich sehen die Meinungsumfragen momentan übel aus, aber normalerweise gibt das kein Polit-Profi unverblümt zu. Söder hätte sagen können: ist noch lange hin, schau mer mal, was passiert. Aus Erfahrung könnte er wissen, dass derjenige, der heute im Sonnenglast erstrahlt, morgen im Schatten verkümmern kann. Wem käme da nicht Martin Schulz in den Sinn?

Etwas mehr als vier Monate noch. Die Grünen liegen vorne. Warum? Weil die Regierung in einer entscheidenden Phase der Pandemie fahrig und glücklos handelte. Nun aber fällt die Inzidenz. Sie fällt, falls Karl Lauterbach, unsere Kassandra, wiederum richtig liegt, bis Mitte Juni unter 50. Stand heute sind 33 Millionen Deutsche geimpft, davon 11 Millionen zweimal. Die dritte Welle ist wohl gebrochen.

Es geht voran, es wird besser. Es gibt Grund zur Zuversicht. Es darf geplant werden: runde Geburtstage, Konzerte, Theater, Familientreffen, Reisen. Wir sind im Freien zurück. Die Regierung, die einiges versiebte, hat jetzt einiges richtig gemacht.

Mit den Lockerungen dürfte sich die Stimmung bessern. Mit der Rückkehr zum einem gewissen Maß an Normalität sollten sich die Gemüter entspannen. Die Meinungsumfragen sind ja auch ein Akt der Rache der Bürger an der Regierung. Deshalb fiel die Union ins Bodenlose und die Grünen erklommen ungeahnte Höhen. Manches wird sich wieder einrenken. Dann sollten die Grünen abnehmen, die Union zunehmen.

Eines aber wird sich wohl kaum bis zum 26. September verändern: Diese Grundstimmung, dass es Zeit für einen Wechsel ist. Die Wahl ist wirklich eine Richtungswahl.

Nicht auf die Union kommt es am 26. September an. und diese Einsicht fällt Markus Söder ungeheuer schwer. Auf die Grünen kommt es an. Selbst wenn sie weniger Prozente als die Union bekommen sollten, werden sie die Königsmacher sein. Auch dann können sie sich eine Koalition aussuchen: mit SPD und FDP oder mit der Union, je nach Lage der Dinge.

Deshalb werden die Grünen zwangsläufig im Zentrum des Wahlkampfes stehen. Das ist gut so, denn was sie wollen und was sie können, sollten die Wähler wissen. Und jedes Wort, das Annalena Baerbock oder Robert Habeck, Anton Hofreiter oder Boris Palmer von sich geben, wird auf die Goldwaage gelegt.

Bisher gab es nur Geplänkel, es ist ja noch lange hin. Dass einigen Grünen der hintersinnige Wahlkampf-Slogan „Deutschland. Alles ist drin“ missfällt, so dass sie „Deutschland“ daraus streichen wollen, ist kurios. Der halbherzige Versuch, den Grünen daraus einen Strick zu drehen, versandete allerdings. Das eilfertig ausgegrabene Habeck-Zitat, „Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen“, stammt aus einem Buch, geschrieben im Jahr 2010, in dem er einen linken Patriotismus zu definieren suchte. 

Erstaunlicherweise erzeugte ein schwerer Fehler, den Annalena Baerbock begangen hat, nur ein schwaches Echo. Sie hatte die Regel missachtet, wonach Kandidaten sich in komplexen Problemen niemals festlegen sollten. Es ging um das hoch umstrittene Projekt Nord Stream 2,  von dem Baerbock meinte, ihm müsse „die politische Unterstützung entzogen“ werden. Ziemlich kühn, ziemlich fahrlässig, ziemlich überholt. Denn jetzt wissen wir, dass der US-Präsident Joe Biden seinen entschiedenen Widerstand gegen die Ostsee-Pipeline aufgegeben hat. Deshalb kann das Projekt zu Ende gebaut werden, wenn auch gegen den Widerstand Polens und der baltischen Staaten.

Es kann passieren, dass Annalena Baerbock als Kanzlerin, so sie es denn wird, vollziehen muss, was sie für falsch hält. Eine Lektion in Sachen Wahlkampf und Realpolitik. Bald schon werden solche Anfängerfehler härter bestraft werden.

In vier Monaten kann sehr viel passieren, kann sich einiges ändern, zum Besseren wie zum Schlechteren. Die Union sucht noch nach dem angemessenen Wahlkampfmodus. Findet Armin Laschet seinen Ton, vergisst Markus Söder seinen Phantomschmerz und lassen wir die Pandemie ganz hinter uns, dann kann es ein richtig interessanter, dramatischer Wahlkampf werden, in dem die großen Probleme des Landes verhandelt werden.

Verdient haben wir ihn.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Das Leid und der Irrsinn

Es gibt Probleme, die verlieren an Schärfe, weil Zeit vergeht. So fand sich Deutschland unter Qualen mit den Gebietsverlusten nach dem Zweiten Weltkrieg ab. Es gibt andere Probleme, die eine unerwartete Wendung von heute auf morgen eine Lösung finden. So war es, als Amerika und China plötzlich beschlossen, diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Und es gibt den Nahen Osten – das verzweifelte Beispiel für Probleme, die nicht vergehen, sondern sich mit Härte und Hass vollsaugen.

Im Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis herrschte sieben Jahre lang explosive Ruhe. Damit ist es vorbei und diesmal lässt die Hamas noch mehr Raketen auf den Süden Israels niederregnen als beim letzten Mal. Allerdings sind die Geschosse wieder nicht raffiniert genug, um die hochgradig raffinierte israelische Luftabwehr in Verlegenheit zu bringen, aber einige Raketen kommen eben doch durch und töten Zivilisten. Im Gegenschlag töten israelische Artillerie und Luftwaffe wichtige Figuren in der Hierarchie der Hamas, aber natürlich auch Kinder, Frauen und Männer.

Dieser Irrsinn wiederholt sich seit vielen Jahren. Aber wie viel Leid vertragen die Menschen, verträgt diese Weltgegend eigentlich? Wie viele Verletzte, Versehrte,Tote? 

Dass der Konflikt diesmal wieder in einen Krieg umschlagen kann, hängt an zynischen Kalkulationen auf beiden Seiten. Wer, wie die Regierung Netanyahu, arabische Familien aus ihren Häusern in Ostjerusalem vertreiben lässt, weiß natürlich, dass Unruhen folgen. Wer außerdem Polizisten mit Blendgranaten in die Al-Aqsa-Moschee schickt, in der sich die Betenden versammelt haben, provoziert mit Bedacht. Vielleicht herrschte in der israelischen Regierung die Illusion vor, dieser Konflikt sei kontrollierbar und werde bald schon wieder abklingen. Ist er aber nicht. Denn nun ziehen arabische Israelis und Israelis durch friedliche Städte wie Akkon, liefern sich Straßenschlachten und plündern Geschäfte. Das ist neu, das bleibt.

Dass der Konflikt nach Israel einwandert, hilft paradoxerweise beiden Feinden, Benjamin Netanyahu wie der Hamas. Das ist die Logik, die hier im Nahen Osten herrscht.

Netanyahu war gerade daran gescheitert, eine neue Regierung zu bilden. Gehört er aber nicht mehr der Regierung an, droht ihm wegen etlicher Anklagen das Gefängnis. Nun schart sich das Land wieder um ihn, weil er in Konflikten aufblüht und Sicherheit ausstrahlt. Vermutlich kann er sich auf diese Weise an der Macht halten.

Die Hamas herrscht im Gaza, dem kleinen Küstenstreifen am Mittelmeer mit mehr als zwei Millionen Menschen, armselig und voll gepfropft. Sie hat nichts zu bieten, außer wilder Kriegsrhetorik und bitterer Repression. Sie beantwortet jede israelische Provokation dankbar mit Raketenbeschuss. Militanz ist ihr Lebenselixier. Der ewige Konkurrent Mahmud Abbas tat der Hamas zusätzlich den Gefallen, die Wahlen im Westjordanland abzusagen. Die letzte Wahl fand vor 17 Jahren statt. 

Viel wäre gewonnen, wenn die Palästinenser untereinander weniger verfeindet wären und mehr Energie auf den zivilen Aufbau in Gaza aufbrächten. An Geld mangelt es nicht, Das fließt reichlich, zum Beispiel aus Katar und der EU. Am Willen mangelt es, etwas aufzubauen. Und an der Einsicht, dass sich Israel nicht ins Meer treiben lässt.

So ist das immer schon, so geht das schon lange zu. Nichts wird sich ändern. Nichts wird besser. Es gibt diese trostlose Routine, mit der der türkische Präsident Erdogan so tut, als sei ihm das Schicksal der Palästinenser eine Herzensangelegenheit. Protest kommt auch aus den Golfstaaten, die sich aber in Wahrheit unter der Regie der USA mit Israel arrangiert haben, denn sie haben ja einen gemeinsamen Feind. Das ist der Iran, der die Kriege in Syrien und im Jemen nutzt, um Hegemonialmacht zu werden. Dazu hält sie sich Milizen wie Hamas und Hisbollah für Stellvertreterkleinkriege gegen Israel.

Die Palästinenser werden sowohl von der arabischen Welt  allein gelassen als auch im Machtspiel des Nahen Ostens missbraucht. Die einseitige Solidarität in den deutschen Städten, grundiert mit grellem Antisemitismus, ist nicht mal ein schwacher Trost. Grund genug zur Erkenntnis, dass sich die Palästinenser auf niemand verlassen können – dass sie sich selber helfen müssen. 

Israel ist militärisch haushoch überlegen. Solange Premiers vom Schlage Netanyahu regieren, wird es sich im Westjordanland und Ostjerusalem ausbreiten. Die Gerichte hindern sie nicht daran, im Gegenteil. Die israelische Friedensbewegung, die für Ausgleich mit den Palästinensern eintritt, unterstützt nur eine kleine Minderheit. An der Koexistenz zweier Staaten glaubt niemand mehr. 

So lädt sich dieser ewige Konflikt in diesen Tagen noch mehr mit Verzweiflung, Hass und Hilflosigkeit auf. Wie lange noch? Bis auf beiden Seiten Leute an die Macht kommen, die einsehen, dass es so nicht weitergeht. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was zum Lesen: Bob Dylan

I

Ich lese und höre gerade viel von Bob Dylan, der am 24. Mai 80 wird. Diese Ballade hat er für seine erste Frau Sara Lowndes geschrieben, ein unverhüllt biographischer Text, der mir enorm gut gefällt. Wohl der Frau, der so ein wunderbares Lied gewidmet wird.

Sara laid on a dune, I looked at the sky
When the children were babies and played on the beach.
You came up behind me, I saw you go by.
You were always so close and still within reach.

Sara, Sara
Whatever made you want to change your mind?
Sara, Sara
So easy to look at, so hard to define.

I can still see them playin‘ with their pails in the sand.
They run to the water their buckets to fill.
I can still see the shells fallin‘ out of their hands.
As they follow each other back up the hill.

Sara, Sara
Sweet virgin angel, sweet love of my life.
Sara, Sara
Radiant jewel, a mystical wife.

Sleepin‘ in the woods by a fire in the night.
Drinkin‘ white rum in a Portugal bar.
Them playin‘ leapfrog and hearin‘ about Snow White
You in the marketplace in Savanna-la-Mar.

Sara, Sara
It’s all so clear, I could never forget
Sara, Sara
Lovin‘ you is the one thing I’ll never regret.

I can still hear the sounds of those Methodist bells
I’d taken the cure and had just gotten through
Stayin‘ up for days in the Chelsea Hotel
Writin‘ „Sad-Eyed Lady of the Lowlands“ for you.

Sara, Sara
Wherever we travel we’re never apart.
Sara, oh Sara
Beautiful lady, so dear to my heart.

How did I meet you? I don’t know.
A messenger sent me in a tropical storm.
You were there in the winter, moonlight on the snow
And on Lily Pond Lane when the weather was warm.

Sara, oh Sara
Scorpio Sphinx in a calico dress
Sara, Sara
Ya must forgive me my unworthiness.

Now the beach is deserted except for some kelp
And a piece of an old ship that lies on the shore.
You always responded when I needed your help
You gave me a map and a key to your door.

Sara, oh Sara
Glamorous nymph with an arrow and bow
Sara, oh Sara
Don’t ever leave me, don’t ever go.

Das zarte Pflänzchen Zuversicht

Karl Lauterbach hat gesagt, er gehe davon aus, dass Mitte Juni die Inzidenz unter 50 fallen dürfte. Unser aller Karl ist ja eigentlich für düstere Einschätzungen der Pandemie zuständig. Damit hat er uns genervt, geärgert, vor allem dann, wenn er auch noch Recht behielt. Da er nun zur Zuversicht übergeht, wollen wir ihm folgen und inständig darauf hoffen, dass es so schnell so erfreulich kommt, wie der schlaue Professor meint. 

Plötzlich brechen gute Nachrichten über uns herein, man glaubt es kaum, entwöhnt, wie wir sind. Bald ist Pfingsten. Wir dürfen reisen. Wer Berge und Seen liebt: auf nach Bayern. Wer Meer will: Nord- und Ostsee lassen sich anfahren. Griechenland macht auf. Portugal macht auf. Die Balearen haben schon aufgemacht. Man glaubt es kaum, aber wir können uns aussuchen, wohin wir fahren oder fliegen wollen. Fast wie früher. Fast wie vor Corona.

In Deutschland heißt Lockerung jetzt Experiment. So richtig trauen Bürgermeister, Landräte und Ministerpräsidenten dem Frieden wohl noch nicht. Deshalb geben sie der zarten Blüte Freiheit eine vorläufige Note. Ohne Auflagen geht es ohnehin nicht. Masken und Testen begleiten uns weiterhin. Papierkram muss ausgefüllt werden, was immer man unternehmen will. Wer sich genau erkundigt, welche Bedingungen in welchem Bundesland oder in welchem Ausland herrschen und worauf geachtet werden soll, ist gut beraten. Denn die Hauptsache ist die doch Rückgewinnung von ein bisschen Freiheit, oder?

Die Stimmung ändert sich, das merkt jeder, der kein Miesepeter ist. Natürlich  hängt der Wandel mit dem Impfen zusammen. Die Zahl der Erstgeimpften steigt rasant, genauso wie die Zahl der zweimal Geimpften. Das war vorherzusehen, das konnte man wissen und trifft jetzt eben ein. Die nächtliche Ausgangssperre lässt sich kaum noch lange halten. Und wenn es gut geht, geht es von nun an bergauf. 

Es hat ja Folgen, wenn Restaurants wenigstens draußen öffnen, wenn Menschen Geld für ihren Konsum ausgeben, wenn sie wegfahren oder wegfliegen – wenn der kapitalistische Kreislauf, der so lange leer lief, wieder leicht rotiert. In Amerika betrug das Wachstum im letzten Quartal 13 Prozent. 13 Prozent! Wirklich eine Menge. Amerika ist weiter mit dem Impfen, schon wahr, aber offensichtlich holen wir auf. Auch bei uns reden die überschwänglichen Optimisten schon wieder davon, dass Deutschland bald wieder zum Impfweltmeister aufsteigt.

Interessant sind die Fragen, die nach dem Brechen der dritten Welle aufkommen werden. Wie sieht die Normalität aus, zu der wir im Spätsommer zurückkehren könnten – wie die Normalität vor Corona? Wie hat uns wohl die Pandemie verändert – individuell und national? Wie sieht die Welt danach aus?

Antworten können nur vorläufig sein, was denn sonst. Jedenfalls ist die Pandemie nicht vorbei, solange sie zum Beispiel in Indien wütet, weil es dort einen völlig verantwortungslosen Premierminister gibt. Haben wir Pech, entstehen dort neue Mutanten, die uns nicht erspart bleiben. Überhaupt  könnten wir uns schon mal darauf einrichten, dass es bei zweimal impfen nicht bleibt, sondern im Herbst Nummer 3 ansteht. Aber was soll’s, Vorsorge darf schon sein.

Besonders spannend ist für mich, ob die Pandemie uns kulturell verändert. Wir wissen jetzt aus Erfahrung, dass sich der Schalter umlegen lässt. Sind wir dazu bereit, das Gelernte zum Beispiel auf die Klimapolitik anzuwenden? Gibt es in Deutschland eine Mehrheit für die Friday-for-Future-Haltung, die alles dem Ziel unterwirft, die Erderwärmung zu minimieren? Glaube ich nicht, aber zur neuen Normalität wird schon ein Vetorecht gegenüber kapitalistischen Auswüchsen in Stadt und Land gehören. Vielleicht setzt sich auch die Neigung zum Weniger durch: weniger fliegen, weniger arbeiten, weniger konsumieren.

Auf jeden Fall könnten wir uns ein Beispiel an dem Amerika Joe Bidens nehmen. Dort widmet sich der Staat dem Ausbau der Infrastruktur, der Stabilisierung der Mittelklasse und dem Kampf gegen Armut. Ist doch eine wirklich lohnenswerte Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Gesellschaften nicht auseinander fliegen. Wer für inneren Frieden sorgt, kann seinem Land auch weitgehende Reformen abverlangen.

Ich finde es erfreulich, dass sich in absehbarer Zeit die Blicke auf die Normalität nach der Pandemie richten werden. Das Positive macht doch erheblich mehr Spaß als das Negative. Und irgendwann werden wir hoffentlich mal sagen: Die Stimmung in der Pandemie änderte sich damals im Mai 2021, als die Länder sich wieder nach innen und außen öffneten und aus diesem zermürbenden Stillstand neue Lebenslust entsprang.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Dreht sich die Stimmung und wem nützt es?

Wir sind auf der Zielgeraden, hat Markus Söder gesagt, aber sie fällt sehr lange aus. Zielgerade klingt gut, optimistisch, zuversichtlich, lässt hoffen auf ein Ende der Pandemie oder besser gesagt: auf den Anfang vom Ende hoffen. Wäre gut, wenn er recht behält, der vormalige Kanzlerkandidat, der sich die Deutungshoheit über den Gang der Ereignisse nicht nehmen lässt.

Man tut ihm bestimmt nichts Böses an, wenn man ihm unterstellt, dass er von dem Impftempo oder der Rückgabe einiger Freiheitsrechte redet und dabei die Bundestagswahl im Sinn hat. Am 26. September stimmen die Deutschen zuallererst darüber ab, ob und wie die Regierenden mit der Pandemie fertig geworden sind. Die Stimmung war schon schlechter, das ist wahr. Sie scheint ins Bessere zu drehen, das können wir den Zeitungen, dem Fernsehen und den sozialen Medien entnehmen.

Grund dafür gibt es ja auch. Stand heute sind etwas mehr als 26 Prozent der Deutschen geimpft, davon 7,7 Millionen zweimal. Endlich geht es hurtig voran mit dem Impfen, kein Zweifel. In Kürze sollen auch Betriebsärzte eingebunden werden und an Vakzinen mangelt es nicht mehr, wie gut. 

Gehen wir mal fröhlich davon aus, dass bis Ende Juni die Hälfte der Deutschen geimpft ist und davon die Hälfte zweimal. Wie viele werden es dann Anfang September sein, wenn die heiße Phase im Bundestagswahlkampf beginnt? Wie wird dann die Grundstimmung im Land ausfallen?

Wie für die Pandemie stehen Vorhersagen über den Wahlausgang auf Treibsand. Was sich heute sagen lässt, kann morgen schon wegrutschen. Wer heute hochschießt, fällt morgen womöglich wieder herunter. Meinungsumfragen fast fünf Monate vor Ultimo sind nichts als Gefühl und Wellenschlag. Fragen Sie mal Martin Schulz danach. Er ist der Kronzeuge für den fahrlässigen Glauben an den empirischen Wert bloßer Momentaufnahmen weit vor dem Wahltag.

Annalena Baerbock könnte daraus lernen, dass große Gefahr  von Höhenflügen ausgeht, die zu nahe an die Sonne heranführen. Ihre bestens inszenierte Vorstellung als Kanzlerkandidatin und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Klimaschutzgesetz sind wie gemalt für die Grünen und jagen ihre Zahlen hoch auf 28 Prozent. Von dort kann es eigentlich nur bergab gehen, sagen wir auf realistisch 22, 23 Prozent, was ein herausragendes Ergebnis für sie wäre. Nur mal zur Erinnerung: 2017 landeten die Grünen bei 8.9 Prozent.

Die grüne Kanzlerkandidatin hat sich Kenntnisse in der Außenpolitik aufgeladen und gibt sie nun in Interviews preis. Das macht sie gut, wie sie vieles gut macht. Nur hat sie den Fehler begangen, dass sie sich zur Unzeit politisch festlegt. Es geht um den Bau von Nord Stream 2, der Ostsee-Pipeline über 1200 Kilometer von Wyborg nach Lubmin. Wenige politische Probleme sind ähnlich komplex, derart durchdrungen von höchst unterschiedlichen strategischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen auf nationaler und internationaler Ebene. Schwieriger geht’s kaum.

Die Kandidatin ist gegen das Projekt, das kurz vor der Fertigstellung steht, das wissen wir jetzt. Die Grünen wollen es schon länger stoppen. 

Einfache Lösungen in hochheiklen Fällen gibt es nur für den, der nicht in der Nähe der Macht ist. Annalena Baerbock ist aber in der Nähe der Macht. Dagegen zu sein, weil die amtierende Regierung für das Projekt ist, ist eher dürftig.

Und die Konkurrenz? Die Aufholjagd der abgestürzten CDU wird zwangsläufig darin bestehen, Annalena Baerbock als naiv und unerfahren hinzustellen und die Grünen als eine reale Gefahr für das Land. Mit einer Angstkampagne dürften CDU und CSU versuchen, das Schlimmste zu verhüten –  dass die Grünen am 26. September das Weltkind in der Mitten sind, das sich den Koalitionspartner aussuchen kann.

Fast fünf Monate noch. Viel Zeit, viele Fehler zu machen, für sämtliche Kanzlerkandidaten neben Annalena Baerbock. Viel Zeit fürs Impfen. Viel Zeit für Gefühl und Wellenschlag durch nicht ganz seriöse Umfragen, die nichtsdestoweniger politisch durchschlagen. Diese Zielgerade wird uns verdammt lang vorkommen.

Auf t-online.de veröffentlicht, heute.

Bürgerliche Selbstvernichtung

Christoph Metzelder war mal ein richtig guter Fußballspieler mit einem Körper, der sich ihm durch ständige Verletzungen entzog, so dass ihm die ganz große Karriere versagt blieb. Er war intelligent, damit fiel er damals auf. Mehr noch ist er aber ein trostloses Beispiel dafür, dass die wenigsten Menschen an ihrer Intelligenz scheitern – sie scheitern an ihrem Charakter.

Wer bekannt ist und mit Kinderpornographie auffällig wird, begeht bürgerliche Selbstvernichtung. Metzelder geriet nicht in Verdacht pädophiler oder gar päderastischer Neigungen. Was er besaß, diente der sexuellen Stimulierung, so viel scheint klar zu sein. Nach zwei Jahren des Schweigens fand Metzelder vor Gericht ein paar Zerknirschungssätze, die ebenso überfällig wie zweckgerichtet waren. Mit seiner Reue verschaffte er sich eine Bewährungsstrafe. Das ist ebenso legitim wie schal.

Bei Kindern hört es auf. Solche Fotos, die Metzelder auf seinem I-Phone stapelte, entstehen durch Missbrauch, durch Vergewaltigung. Die Erwachsenen, die sie dazu zwingen, zielen auf einen Markt aus gestörten Voyeueren, der viel größer zu sein scheint, als man denkt. Die Kinder, denen das angetan wird, sind fürs Leben gezeichnet und deshalb ist es in unserer Gesellschaft, die sich gelegentlich im Übermaß liberal gibt, nur folgerichtig, wenn Menschen wie Metzelder geächtet werden.

Es gab einmal, nicht lange ist es her, einen Bundestagsabgeordneten namens Sebastian Edathy. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, er habe Material im „Grenzbereich zu dem, was Justiz unter Kinderpornografie versteht“, über das Internet bestellt. Edathy räumte ein, dass der Vorwurf zutraf, beharrte jedoch darauf, dass er damit keine Schuld eingestand, bezahlte 5 000 Euro, woraufhin das Gerichtsverfahren im März 2015 eingestellt wurde.

Offenbar war Edathy der Typus des stillen Konsumenten. Metzelder schickte offenbar Frauen Screenshots von obszönen Bildern mit Kindern und Jugendlichen. Eine Frau erzählte anonym in der „Zeit“, dass er ihr Fotos geschickt habe, bevor sie eine Nacht in Hamburg verbracht hätten. Sie gab vor, sie hätte Metzelder entlarven wollen. Gegen diese Frau, die als Hauptbelastungszeugin gilt, ermittelt die Hamburger Staatsanwaltschaft wegen „motivierender Handlungen“.

Metzelder hat sich öffentlich entschuldigt. Was ihm in seiner Eigenschaft als unvollendeter Fußballer an Ehren zuteil geworden war, gibt er zurück. Aus seiner Stiftung, die auch noch „Zukunft Jugend“ heißt, zog er sich zurück, was denn sonst. Kein TV-Sender wird ihn noch als Experten einladen. In seinem Heimatverein TUS Haltern hat er weder als Vorsitzender noch als Mentor noch als Großfußballer eine Zukunft. Aus der Welt, in der er ein Star war, hat er sich herauskatapultiert.

Was wird aus solchen Leuten? Metzelder ist 40 Jahre alt. Was kann er noch aus seinem Leben machen?

Normalerweise gibt eine Gesellschaft Menschen, die gefehlt haben, eine zweite Chance: Wenn sie eine Pleite hingelegt haben oder im Gefängnis saßen oder sonst irgendwie Mist gebaut haben, für den sie büßen mussten. Sie können von neuem anfangen. Sie bleiben nicht geächtet.

Kinderpornographie ist etwas anderes. Sie lässt sich nicht vergessen. Das Unrecht, das diesen Kindern angetan wurde, damit sich Erwachsene daran delektieren können, lässt sich mit Reue nicht mindern.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Sleepy Joe? Ein Feuerwerk

Da wir in letzter Zeit ziemlich viel mit uns selber beschäftigt waren, mit Corona und Armin und Annalena, haben wir nur im Augenwinkel wahrgenommen, was sich in Amerika tut. Dieses Versäumnis wollen wir heute wettmachen und Joe Biden gebührende Aufmerksamkeit zollen.

Der amerikanische Präsident, dem niemand viel zutraute, brennt seit seinem ersten Amtstag ein wahres Feuerwerk ab. Er redet nicht viel, er ist kein Menschenfänger wie Barack Obama oder Bill Clinton und schon gar nicht ein ichsüchtiger Blender wie sein Vorgänger. Er macht nicht viele Worte, sondern handelt und dabei verstößt er beständig gegen den Ruf, der ihm anhängt. Donald Trump nannte ihn „Sleepy Joe“. Barack Obama bemerkte mokant, man sollte Bidens Talent nicht unterschätzen, alles zu versauen.

Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste wenigstens Obama öffentlich  Abbitte leisten. Joe Biden macht ziemlich viel ziemlich richtig und das im Akkord.

In der vorigen Woche lud der Präsident zu einem digitalen Klimagipfel ein. 40 Länder schalteten sich zu, auch China und Russland fehlten nicht. Dabei kündigte der Präsident an, die USA würden den Ausstoß an Treibhausgasen bis 2030 im Vergleich zu 2005 halbieren. Daraufhin sagte Xi Jinping zu, den Kohleverbrauch ab 2025 zu mindern. Wladimir Putin versicherte, wie tief sein Land „die mit dem Klimawandel verbundene Besorgnis“ teile.

Ja, Skepsis ist legitim, selbst Zynismus. Versprechungen von Staats- und Regierungschefs waren nur zu oft schon Schall und Rauch. Aber wahr ist auch, dass keine größere Macht auf dem Erdball noch so tun kann, als wäre die Erderwärmung jenseits der 1,5 Grad kein monströses Problem für die Menschheit. Und niemand kann übersehen, dass Amerika wieder als Weltmacht mit Autorität auftritt und nach vier Jahren der Ignoranz Führung ausübt.

Wie nebenbei nannte der amerikanische Präsident, ebenfalls in der vorigen Woche, das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs einen Völkermord. Nicht Obama, nicht Bill Clinton waren so weit gegangen – aus Sorge vor der Reaktion der Türkei, welche die Verantwortung für das Massaker pompös von sich weist. Wie nebenbei bezeichnete Biden den russischen Präsidenten als Mörder, verlängerte den New-Start-Atomvertrag und lud ihn zu einem Staatsbesuch ein. 

Nicht schlecht. Nicht getwittert, ins Gesicht gesagt. Bidens Stil verbindet Freimut mit Angeboten. Er sagt, was ist und macht Vorschläge für die Verbesserung der Verhältnisse. Das kann eine Gratwanderung sein, aber noch ist er nicht abgestürzt. Endlich ist Amerika wieder auf einer Umlaufbahn mit Europa. Endlich führt die Supermacht wieder auf den Feldern, auf die es ankommt – dieser Kombination aus Klimapolitik, Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Wirtschaftspolitik. Von der Handhabung dieser historisch herausragenden Probleme hängt ab, was sich in den nächsten Jahrzehnten auf der Welt ereignen wird.

Joe ist nicht verpennt, er ist hellwach. Hager wie er ist, sieht er aus, wie der ältere Herr, der er ist. Was er nicht gut kann, meidet er, zum Beispiel große Reden zu halten, bei denen er sich gerne verhaspelt. Was er nicht ist, fällt wohltuend auf. Weder bespiegelt er sich andauernd, noch lobt er sich ermüdend selber. Weder macht er große Versprechungen noch schielt er auf den Friedensnobelpreis. In amerikanischen Filmen spielt Harrison Ford häufig solche Mr. Durchschnittsamerikaner, die in der Stunde der Gefahr über sich hinaus wachsen. So ein Mensch, in dem wider Erwarten viel mehr steckt, als die anderen ihm je zugetraut hätten, scheint Joe Biden zu sein.

Als er seinen Amtseid ablegte, sagt er, er wolle Amerika mit sich selber versöhnen. Wie macht man das? Durch Handeln. Gegen die Pandemie ging er brachial vor: Impfen, Impfen, Impfen überall dort, wo Autos vorfahren können. Sollte dieses Riesenland tatsächlich in den nächsten Wochen Herdenimmunität erreichen, wäre das ein beispielhafter Erfolg, der Europäern zu denken geben müsste.

Zudem stürzt sich Amerika unter Biden in ungeheure Schulden, um das Land von innen wieder aufzubauen. Riesige Summen sollen zum Beispiel in die marode Infrastruktur fließen. Darin liegt ein gewaltiger Paradigmenwechsel, denn jahrzehntelang galt die Religion, dass der Privatsektor besser als der Staat weiß, was der Gesellschaft gut tut. Jetzt ist es der Staat, der sich um die öffentlichen Güter kümmern muss, die sträflich vernachlässigt wurden. 

Außerdem bekamen Millionen Amerikaner Geld aus einem 1,9-Billionen-Paket, deren Arbeitslosenhilfe sonst ausgelaufen wäre, genauso wie geringverdienende Familien mit Kindern. Andere Familien bekamen Steuererleichterungen, weitere Millionen Amerikaner erhielten Schecks über 1400 Dollar, um die Pandemie zu überstehen. Diese Verteilung war sozial dringend notwendig und politisch zielte sie auf die weiße Unterschicht, die zu Trump übergelaufen war, weil die Demokraten sie ignorierten.

Natürlich kann viel schief gehen, muss aber nicht. In diesen Projekten steckt gesunder Menschenverstand, der Gutes für die Armada der Vernachlässigten in Amerika erreichen möchte. Ob sich das Land, das in zwei Lager zerfällt, die sich hassen, entspannen lässt, werden wir so schnell nicht wissen. Jedenfalls wird der Hass aus dem Weißen Haus nicht noch geschürt.

In Washington zeigt seit dem 20. Januar, wozu Mr. Durchschnittsamerikaner fähig ist. Er formuliert keine Doktrin, aber ironischerweise versucht er, was Trump versuchte, Amerika wieder groß zu machen: Einerseits als ein Land, das beweist, dass Demokratien sich grunderneuern können, sozial wie ökonomisch. Andererseits als eine Weltmacht, mit der weiterhin zu rechnen ist und die vielleicht sogar ein Beispiel setzen kann.

Und was lernen wir für uns daraus? Na ja, dass sich auch hierzulande ein stets Unterschätzter, ein Unglamouröser wider Erwarten zu Großem aufschwingt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute. 

Trauer muss der Robert tragen

In der „Zeit“ hat Robert Habeck sein Herz ausgeschüttet. Er findet es ungerecht, dass er nicht der erste Kanzlerkandidat der Grünen sein darf. Er beklagt, dass seine politische Erfahrung nicht zählt und er sagt, dass der Tag der Nominierung für ihn „der schmerzhafteste Tag in meiner politischen Laufbahn“ war. Kann man verstehen. Kann man?

Das Interview begann am Montag zwei Stunden nach der öffentlichen Verkündigung, dass Annalena Baerbock sein darf, was er nicht sein darf. Robert Habeck stellte sie vor, führte sie ein, überließ ihr dann die Bühne. Ich dachte noch, das fällt ihm bestimmt nicht leicht, aber er macht es gut, souverän und heiter. Was ihn wirklich tief innen bewegte, erzählte er gleich darauf den beiden „Zeit“-Journalisten. Trauer muss der Robert tragen und wir alle sollen wissen, was ihm entgeht und damit auch uns.

Das Interview ist für mich der schlagende Beweis dafür, warum es richtig war, Annalena Baerbock zur historischen Figur der Grünen zu erheben. Robert Habeck ist zweifellos ein bemerkenswerter Politiker, aber er wirkt auf mich oft so, als sei er im Übermaß mit sich selbst beschäftigt, als beobachtete er sich selber dabei, wie er redet und argumentiert und in Talkshows neben anderen Politikern aus anderen Parteien sitzt und sich von ihnen unterscheidet. Nicht zufällig unterliefen ihm Fehler, offenbarte er Wissenslücken und fiel im Rennen mit Annalena Baerbock zurück.

Natürlich hat sich Robert Habeck mit seinem Interview einen Bärendienst erwiesen. Er hätte besser geschwiegen, anstatt der „Zeit“ sein Herz auszuschütten. Die Grünen werden es ihm übel nehmen und Annalena Baerbock weiß spätestens jetzt, wo seine Loyalität endet. Ich liebe Was-wäre-gewesen-Fragen: Also, was wäre gewesen, hätte Annalena Baerbock verzichten müssen? Ich glaube nicht, dass sie ihren Jammer zu Markte getragen hätte. Geweint wird daheim, nicht vor anderen.

Interessanterweise haben sich bei den Grünen und in der Union in dieser Woche zwei Protagonisten ähnlichen Typus durchgesetzt. Annalena Baerbock wie Armin Laschet zeichnet Beständigkeit und Hartnäckigkeit aus. Sie nehmen nicht alles persönlich, sonst hätte Laschet die kleine Höllentour, die mehr als eine Woche andauerte, keinesfalls überstanden. Was er über sich lesen und von Söder hören musste, grenzte durchaus an Körperverletzung, aber so sind Machtkämpfe nun einmal.

Menschen dieses Schlags lassen sich nicht unterkriegen, auch wenn Robert Habeck lange Zeit als smarter Schriftsteller mit Hang zum Philosophieren faszinierte. Sie haben einen langen Atem und schießen auf den letzten Metern nach vorne. Beharrlichkeit, ein starkes Selbstbewusstsein und eine Prise Demut begründen einen stabilen Charakter.

Auch die beiden Unterlegenen haben das Entscheidende gemeinsam. Bei Robert Habeck und Markus Söder dreht sich vieles ums Ich. Wenn Söder sagt, die Union müsse „sexy und solide“ zugleich sein, dann verstehen wir ihn richtig, wenn wir denken, dass er sexy und solide sei; würde Armin Laschet das Wort sexy in den Mund nehmen, würden wir uns kringeln. Robert Habeck war lange damit beschäftigt, uns zu versichern, dass er nicht so wie andere Politiker ist und dass er schon gar nicht ein Berufspolitiker. Ist er nicht ganz, das stimmt schon, aber weit davon entfernt ist er inzwischen auch nicht mehr.

Habeck und Söder sind Individualisten und nehmen sich als Person wichtiger als die Sache, die sie vertreten. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie schlechte Kanzlerkandidaten gewesen wäre, aber sie sind eben nicht zufällig unterwegs auf Grund gelaufen.

Natürlich braucht ein Land beide Charaktertypen, die Leisen und die Lauten, die Beherrschten und die Selbstbespiegler. Treffen sie aufeinander und treten sie gegeneinander an, fordern sie sich ihr Möglichstes ab und wir erleben ein Drama, das dankbare Gewinner und trauernde Verlierer hinterlässt.

Annalena, geh du voran

Da alles so ruhig und wie selbstverständlich verlief, könnte man leicht übersehen, dass die Grünen heute Geschichte geschrieben haben. Erstmals nominieren sie jemanden aus ihrer Reihe für das Kanzleramt. Erstmals haben sie, von heute aus gesehen, sogar Aussichten darauf, dass Annalena Baerbock Nachfolgerin von Angela Merkel wird. Erstmals haben sie die Chance, eine Regierung zu bilden. 

Der Kellner wird zum Koch. Die Grünen sind, wenn nicht Grundstürzendes bis zum 26. September passiert, in der besten aller Lagen. An ihnen führt dann wohl kein Weg vorbei. Selbst wenn sie nicht die stärkste Fraktion stellen sollten, bleiben sie die Königsmacher. Aller Voraussicht nach können sie sich aussuchen, mit wem sie eine Koalition bilden wollen. Voraussetzung dafür bleibt, dass sie gehörig über 20 Prozent liegen, sagen wir bei 23/24. Dann geht nichts an ihnen vorbei. Dann können sie sich aussuchen, ob sie mit der Union regieren oder besser mit SPD und FDP. 

Was für eine Ironie der Geschichte: Die Grünen als staatstragende Partei, deren Wahlkampfslogan lauten könnte: Wir wollen wieder stolz sein auf unser Land. Sie gebärden sich als Garanten politischer Stabilität im Lande sein, während CDU/CSU, eigentlich die Inkarnation der Berechenbarkeit, aus dem Ruder läuft. So machtversessen, wie sie üblicherweise ist, so machtvergessen führen sich ihre Spitzenleute derzeit auf. Darin liegt das Verdienst der Herren Laschet und Söder, die sich einen Zweikampf liefern, was natürlich demokratisch in Ordnung ist, aber destruktiv ausfällt, weil sie vergessen haben, Regeln für die Auswahl der Nummer Eins aufzustellen. Hätten sie mal besser von den Grünen gelernt.

So zieht sich das Duell hin. Die Herren Laschet und Söder fliegen in Berlin ein, reden stundenlang miteinander, fliegen ergebnislos wieder weg. Notorisch zweitrangige Gremien wie Frauenunion oder Kreisvorsitzende geraten mit ihren Bedenken und Vorlieben in die Schlagzeilen, da das Zentrum brach liegt. Die Welt, soweit Berlin die Welt ist, steht auf dem Kopf. 

Annalena Baerbock also. Keine Überraschung. Jung, Intelligent und beherrscht. Schnell im Kopf und stark im Lernen. Kompetent und zielstrebig. In den vergangenen Monaten hat sie sich mit Wissen vollgesaugt, vorzugsweise in der Außenpolitik. Vermutlich ahnt sie, was in den nächsten Wochen auf sie zukommen wird. Die Journalisten, die sie halb amüsiert, halb respektvoll, jedenfalls wohlwollend beschrieben und begleitet haben, dürften sie ab jetzt weniger freundlich auf Schwächen abklopfen, wobei ihr Mangel an Verwaltungs- und Regierungserfahrung an erster Stelle stehen werden.

Ist ja auch so. Joschka Fischer war vorher Landesminister gewesen, ähnlich wie Robert Habeck besaß er eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Apparaten. Annalena Baerbock besitzt Willensstärke wie die beiden, mindestens genauso viel Selbstvertrauen wie sie. Ja, sie fängt von vorne an und das ausgerechnet in einer Bundesregierung, wenn es im September so kommt, wie es sich heute abzeichnet. Zweifellos geht sie persönlich ein enormes Risiko ein und ihre Partei lässt sich fast freudig darauf ein.

Das ist gut so und spannend ohnehin. Auch Angela Merkel war nicht von vornherein die Angela Merkel, zu der sie geworden ist. Vielleicht können sich Frauen wie Merkel oder Baerbock aus Mangel an Eitelkeit stärker auf die Sache konzentrieren und begehen deshalb weniger Fehler. Nicht zufällig fiel Robert Habeck wegen seiner Wissenslücken zurück.

Ich persönlich freue mich über die Metamorphose der Grünen zur staatstragenden Partei und auch darüber, dass eine Frau in die Runde der Herren kommt. Die Konstellation hat sich mit der Ausrufung der grünen Kandidatin verändert. Sofern sich bei der Union ein paar unabhängige Köpfe finden sollten, könnten sie die Frage Laschet öder Söder neu stellen: Wer kann Annalena Baerbock besser neutralisieren/ausbooten/einschränken – der väterlich-gütige Armin Laschet oder der Rocker-Macho Markus Söder?

Heute beginnt der Bundestagswahlkampf. Die Grünen eröffnen haben ihn entspannt und geschmeidig begonnen. Sie hatten einen Zeitplan und halten ihn ein. Und von jetzt an ist jeder entscheidungslose Tag für die Union ein doppelt verlorener. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.