Wir sind auf der Zielgeraden, hat Markus Söder gesagt, aber sie fällt sehr lange aus. Zielgerade klingt gut, optimistisch, zuversichtlich, lässt hoffen auf ein Ende der Pandemie oder besser gesagt: auf den Anfang vom Ende hoffen. Wäre gut, wenn er recht behält, der vormalige Kanzlerkandidat, der sich die Deutungshoheit über den Gang der Ereignisse nicht nehmen lässt.
Man tut ihm bestimmt nichts Böses an, wenn man ihm unterstellt, dass er von dem Impftempo oder der Rückgabe einiger Freiheitsrechte redet und dabei die Bundestagswahl im Sinn hat. Am 26. September stimmen die Deutschen zuallererst darüber ab, ob und wie die Regierenden mit der Pandemie fertig geworden sind. Die Stimmung war schon schlechter, das ist wahr. Sie scheint ins Bessere zu drehen, das können wir den Zeitungen, dem Fernsehen und den sozialen Medien entnehmen.
Grund dafür gibt es ja auch. Stand heute sind etwas mehr als 26 Prozent der Deutschen geimpft, davon 7,7 Millionen zweimal. Endlich geht es hurtig voran mit dem Impfen, kein Zweifel. In Kürze sollen auch Betriebsärzte eingebunden werden und an Vakzinen mangelt es nicht mehr, wie gut.
Gehen wir mal fröhlich davon aus, dass bis Ende Juni die Hälfte der Deutschen geimpft ist und davon die Hälfte zweimal. Wie viele werden es dann Anfang September sein, wenn die heiße Phase im Bundestagswahlkampf beginnt? Wie wird dann die Grundstimmung im Land ausfallen?
Wie für die Pandemie stehen Vorhersagen über den Wahlausgang auf Treibsand. Was sich heute sagen lässt, kann morgen schon wegrutschen. Wer heute hochschießt, fällt morgen womöglich wieder herunter. Meinungsumfragen fast fünf Monate vor Ultimo sind nichts als Gefühl und Wellenschlag. Fragen Sie mal Martin Schulz danach. Er ist der Kronzeuge für den fahrlässigen Glauben an den empirischen Wert bloßer Momentaufnahmen weit vor dem Wahltag.
Annalena Baerbock könnte daraus lernen, dass große Gefahr von Höhenflügen ausgeht, die zu nahe an die Sonne heranführen. Ihre bestens inszenierte Vorstellung als Kanzlerkandidatin und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über das Klimaschutzgesetz sind wie gemalt für die Grünen und jagen ihre Zahlen hoch auf 28 Prozent. Von dort kann es eigentlich nur bergab gehen, sagen wir auf realistisch 22, 23 Prozent, was ein herausragendes Ergebnis für sie wäre. Nur mal zur Erinnerung: 2017 landeten die Grünen bei 8.9 Prozent.
Die grüne Kanzlerkandidatin hat sich Kenntnisse in der Außenpolitik aufgeladen und gibt sie nun in Interviews preis. Das macht sie gut, wie sie vieles gut macht. Nur hat sie den Fehler begangen, dass sie sich zur Unzeit politisch festlegt. Es geht um den Bau von Nord Stream 2, der Ostsee-Pipeline über 1200 Kilometer von Wyborg nach Lubmin. Wenige politische Probleme sind ähnlich komplex, derart durchdrungen von höchst unterschiedlichen strategischen, politischen und wirtschaftlichen Interessen auf nationaler und internationaler Ebene. Schwieriger geht’s kaum.
Die Kandidatin ist gegen das Projekt, das kurz vor der Fertigstellung steht, das wissen wir jetzt. Die Grünen wollen es schon länger stoppen.
Einfache Lösungen in hochheiklen Fällen gibt es nur für den, der nicht in der Nähe der Macht ist. Annalena Baerbock ist aber in der Nähe der Macht. Dagegen zu sein, weil die amtierende Regierung für das Projekt ist, ist eher dürftig.
Und die Konkurrenz? Die Aufholjagd der abgestürzten CDU wird zwangsläufig darin bestehen, Annalena Baerbock als naiv und unerfahren hinzustellen und die Grünen als eine reale Gefahr für das Land. Mit einer Angstkampagne dürften CDU und CSU versuchen, das Schlimmste zu verhüten – dass die Grünen am 26. September das Weltkind in der Mitten sind, das sich den Koalitionspartner aussuchen kann.
Fast fünf Monate noch. Viel Zeit, viele Fehler zu machen, für sämtliche Kanzlerkandidaten neben Annalena Baerbock. Viel Zeit fürs Impfen. Viel Zeit für Gefühl und Wellenschlag durch nicht ganz seriöse Umfragen, die nichtsdestoweniger politisch durchschlagen. Diese Zielgerade wird uns verdammt lang vorkommen.
Auf t-online.de veröffentlicht, heute.