Sleepy Joe? Ein Feuerwerk

Da wir in letzter Zeit ziemlich viel mit uns selber beschäftigt waren, mit Corona und Armin und Annalena, haben wir nur im Augenwinkel wahrgenommen, was sich in Amerika tut. Dieses Versäumnis wollen wir heute wettmachen und Joe Biden gebührende Aufmerksamkeit zollen.

Der amerikanische Präsident, dem niemand viel zutraute, brennt seit seinem ersten Amtstag ein wahres Feuerwerk ab. Er redet nicht viel, er ist kein Menschenfänger wie Barack Obama oder Bill Clinton und schon gar nicht ein ichsüchtiger Blender wie sein Vorgänger. Er macht nicht viele Worte, sondern handelt und dabei verstößt er beständig gegen den Ruf, der ihm anhängt. Donald Trump nannte ihn „Sleepy Joe“. Barack Obama bemerkte mokant, man sollte Bidens Talent nicht unterschätzen, alles zu versauen.

Ginge es mit rechten Dingen zu, müsste wenigstens Obama öffentlich  Abbitte leisten. Joe Biden macht ziemlich viel ziemlich richtig und das im Akkord.

In der vorigen Woche lud der Präsident zu einem digitalen Klimagipfel ein. 40 Länder schalteten sich zu, auch China und Russland fehlten nicht. Dabei kündigte der Präsident an, die USA würden den Ausstoß an Treibhausgasen bis 2030 im Vergleich zu 2005 halbieren. Daraufhin sagte Xi Jinping zu, den Kohleverbrauch ab 2025 zu mindern. Wladimir Putin versicherte, wie tief sein Land „die mit dem Klimawandel verbundene Besorgnis“ teile.

Ja, Skepsis ist legitim, selbst Zynismus. Versprechungen von Staats- und Regierungschefs waren nur zu oft schon Schall und Rauch. Aber wahr ist auch, dass keine größere Macht auf dem Erdball noch so tun kann, als wäre die Erderwärmung jenseits der 1,5 Grad kein monströses Problem für die Menschheit. Und niemand kann übersehen, dass Amerika wieder als Weltmacht mit Autorität auftritt und nach vier Jahren der Ignoranz Führung ausübt.

Wie nebenbei nannte der amerikanische Präsident, ebenfalls in der vorigen Woche, das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs einen Völkermord. Nicht Obama, nicht Bill Clinton waren so weit gegangen – aus Sorge vor der Reaktion der Türkei, welche die Verantwortung für das Massaker pompös von sich weist. Wie nebenbei bezeichnete Biden den russischen Präsidenten als Mörder, verlängerte den New-Start-Atomvertrag und lud ihn zu einem Staatsbesuch ein. 

Nicht schlecht. Nicht getwittert, ins Gesicht gesagt. Bidens Stil verbindet Freimut mit Angeboten. Er sagt, was ist und macht Vorschläge für die Verbesserung der Verhältnisse. Das kann eine Gratwanderung sein, aber noch ist er nicht abgestürzt. Endlich ist Amerika wieder auf einer Umlaufbahn mit Europa. Endlich führt die Supermacht wieder auf den Feldern, auf die es ankommt – dieser Kombination aus Klimapolitik, Sicherheitspolitik, Außenpolitik und Wirtschaftspolitik. Von der Handhabung dieser historisch herausragenden Probleme hängt ab, was sich in den nächsten Jahrzehnten auf der Welt ereignen wird.

Joe ist nicht verpennt, er ist hellwach. Hager wie er ist, sieht er aus, wie der ältere Herr, der er ist. Was er nicht gut kann, meidet er, zum Beispiel große Reden zu halten, bei denen er sich gerne verhaspelt. Was er nicht ist, fällt wohltuend auf. Weder bespiegelt er sich andauernd, noch lobt er sich ermüdend selber. Weder macht er große Versprechungen noch schielt er auf den Friedensnobelpreis. In amerikanischen Filmen spielt Harrison Ford häufig solche Mr. Durchschnittsamerikaner, die in der Stunde der Gefahr über sich hinaus wachsen. So ein Mensch, in dem wider Erwarten viel mehr steckt, als die anderen ihm je zugetraut hätten, scheint Joe Biden zu sein.

Als er seinen Amtseid ablegte, sagt er, er wolle Amerika mit sich selber versöhnen. Wie macht man das? Durch Handeln. Gegen die Pandemie ging er brachial vor: Impfen, Impfen, Impfen überall dort, wo Autos vorfahren können. Sollte dieses Riesenland tatsächlich in den nächsten Wochen Herdenimmunität erreichen, wäre das ein beispielhafter Erfolg, der Europäern zu denken geben müsste.

Zudem stürzt sich Amerika unter Biden in ungeheure Schulden, um das Land von innen wieder aufzubauen. Riesige Summen sollen zum Beispiel in die marode Infrastruktur fließen. Darin liegt ein gewaltiger Paradigmenwechsel, denn jahrzehntelang galt die Religion, dass der Privatsektor besser als der Staat weiß, was der Gesellschaft gut tut. Jetzt ist es der Staat, der sich um die öffentlichen Güter kümmern muss, die sträflich vernachlässigt wurden. 

Außerdem bekamen Millionen Amerikaner Geld aus einem 1,9-Billionen-Paket, deren Arbeitslosenhilfe sonst ausgelaufen wäre, genauso wie geringverdienende Familien mit Kindern. Andere Familien bekamen Steuererleichterungen, weitere Millionen Amerikaner erhielten Schecks über 1400 Dollar, um die Pandemie zu überstehen. Diese Verteilung war sozial dringend notwendig und politisch zielte sie auf die weiße Unterschicht, die zu Trump übergelaufen war, weil die Demokraten sie ignorierten.

Natürlich kann viel schief gehen, muss aber nicht. In diesen Projekten steckt gesunder Menschenverstand, der Gutes für die Armada der Vernachlässigten in Amerika erreichen möchte. Ob sich das Land, das in zwei Lager zerfällt, die sich hassen, entspannen lässt, werden wir so schnell nicht wissen. Jedenfalls wird der Hass aus dem Weißen Haus nicht noch geschürt.

In Washington zeigt seit dem 20. Januar, wozu Mr. Durchschnittsamerikaner fähig ist. Er formuliert keine Doktrin, aber ironischerweise versucht er, was Trump versuchte, Amerika wieder groß zu machen: Einerseits als ein Land, das beweist, dass Demokratien sich grunderneuern können, sozial wie ökonomisch. Andererseits als eine Weltmacht, mit der weiterhin zu rechnen ist und die vielleicht sogar ein Beispiel setzen kann.

Und was lernen wir für uns daraus? Na ja, dass sich auch hierzulande ein stets Unterschätzter, ein Unglamouröser wider Erwarten zu Großem aufschwingt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.