Seine beste Zeit ist vorbei

Zumindest kennen wir jetzt die Prioritäten, die der Bundeskanzler setzt. Er will das Land zusammenhalten und für wirtschaftliches Wachstum sorgen. Das sind ehrenwerte Ziele, keine Frage. Jedem Bundeskanzler in der nunmehr 75jährigen Geschichte der Bundesrepublik standen diese beiden fundamentalen Aufgaben vor Augen und erstaunlicherweise haben die meisten von ihnen mehr richtig als falsch gemacht.

Das Problem mit den Einlassungen des Bundeskanzlers, im Ton der Selbstverständlichkeit vorgetragen, besteht darin, dass sie den umfassenden Problemen der Jetzt-Zeit nicht gerecht werden. Deshalb ist er dabei, mehr falsch als richtig zu machen. Die Diskrepanz erschließt sich aus einem Interview-Satz im „Stern“ über den Haushalt 2025: Jetzt beginne der „übliche mühsame Prozess, Wünsche und Wirklichkeit in Einklang miteinander zu bringen“.

Üblicher Prozess? In diesen unüblichen Zeiten sehnt man sich ja geradezu nach mehr Üblichkeit, mehr Normalität. Nur sollte nicht ausgerechnet der Bundeskanzler dem Wunsch nach langweiliger Wirklichkeit nachgeben. Es mag ja unter bestimmten Umständen eine Stärke sein, die Ruhe zu bewahren, aber  es ist eine Schwäche, so zu tun, als ob alles gar nicht so schlimm ist, wie es uns da draußen im Lande vorkommt.

Olaf Scholz war mal Finanzminister und auch als Kanzler ist er es geblieben. Deshalb stellt er sich auf die Seite des amtierenden Finanzministers Christian Lindner und fordert seine Minister dazu auf, ihrer Verantwortung für den ausgeglichenen Haushalt nachzukommen.

Wenn Historiker irgendwann mal fragen, wann eigentlich diese Bundesregierung gescheitert ist, dann werden sie den 21. November 2023 heranziehen, den Tag, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass Notfallkredite wie zum Beispiel 60 Milliarden Euro aus der Pandemie nicht umgewidmet werden dürfen.

Seither kann die Regierung, kann der Kanzler nicht mehr auf Sondervermögen ausweichen und muss folglich Prioritäten setzen. An ihnen wird er gemessen. Und die Messung sieht nicht gut aus.

Ökologische Transformation? War gestern. Ist schwierig. Ist gesegnet mit Pfusch am Bau. Gerade hat das Bundesverwaltungsgericht der Regierung vorgehalten, dass ihr Klimaschutzgesetz auf  „me­tho­di­schen Män­geln“ und „teil­wei­se auf un­rea­lis­ti­schen An­nah­men“ beruhe. Ziemlich peinlich, wenn einer Koalition zum wiederholten Male Dilettantismus bescheinigt wird, oder?

Dann hat ja mal jemand eindrucksvoll von einer Zeitwende gesprochen. Richtig, das war Olaf Scholz. Wie es aussieht, soll sich die Bundeswehr aber mit den 100 Milliarden Euro zufrieden geben, die er in seinem Großmut versprochen hat. Mehr ist nicht drin. Die sechs bis sieben Milliarden Euro, die der Verteidigungsminister für 2025 zusätzlich beansprucht, bekommt er nicht.

Richtig, Boris Pistorius ist ebenfalls Mitglied der SPD, aber was soll’s. Vom Kanzler hat er nichts zu erwarten. Die Schuldenbremse bleibt Tabu. Soll er schauen, wo er bleibt, der Boris. Und ansonsten gilt auch für ihn der Befehl aus dem Kanzleramt: Sparen nicht  vergessen!

Vor ein paar Tagen besuchte der Bundeskanzler das Vorauskommando der deutschen Brigade in Litauen, die in drei Jahren kampfbereit sein soll und dann die Nato-Ostflanke schützen muss. Der einzige Konstruktionsfehler daran ist die bilaterale Übereinkunft mit Litauen. Sinnvoller wäre es gewesen, daraus ein Projekt der Nato zu machen, zum Beispiel nach dem Vorbild des multinationalen Kampfverbandes in Stettin, den übrigens ein deutscher Drei-Sterne-General führt.

Die baltischen Staaten rüsten konsequent auf wie auch Polen oder Finnland. Für sie ist die Gefahr real, dass Wladimir Putin oder seine Nachfolger die Reconquista fortsetzen werden, die sie in Georgien 2008 und in der Ukraine seit 2014 betreiben. Zwischendurch konnte man denken, Deutschland stelle sich ebenfalls entschieden auf das Undenkbare ein, weil es denkbar geworden ist. Denkste, tut es nicht.

Die Zeit mag sich gewendet habe, Olaf Scholz aber scheint es vergessen zu haben. Deutschland werde keine Wehrpflichtarmee bekommen, sagte er vor wenigen Tagen ultimativ, als er nach und nach allerlei Sinnvolles für sinnlos erklärte.

Ja, was dringt denn in diesen Panzer aus Stoizismus und Selbstgerechtigkeit vor? Oder schüttelt Scholz einfach ab, was ihn in Unsicherheit stürzen könnte? Er will ja Kanzler bleiben, auch nach der nächsten Bundestagswahl, hat er vor einigen Tagen gesagt. Ernsthaft? Aber doch nicht in der Erscheinungsform, in der wir ihn kennen, oder?

Ich finde es seltsam, dass Olaf Scholz nicht auf die Idee kommt, dass entschlossene Führung, zu der auch die Vorbereitung auf den militärischen Ernstfall gehört, im Wahlvolk gut ankommt und der Rechten das Wasser abgraben könnte. Das Immer-weiter-so im Ausbau des Wohlfahrtsstaates genügt eben nicht in dieser Zeitenwende. Das könnte Olaf Scholz von seinem Vorgänger Helmut Kohl lernen. Und an Gerhard Schröder ließe sich studieren, à propos Agenda 2010, dass dem Land gut tut, was die SPD für unsozialdemokratisch hält.

Auf der Strecke bleibt Boris Pistorius, der eine kriegstüchtige Bundeswehr aufbauen will. Ohne Unterstützung des Bundeskanzlers kann das Vorhaben nicht gelingen. Olaf Scholz hat ihn aber wie nebenbei ins Leere laufen lassen. Nicht mehr Geld. Keine Debatte über Wehrpflicht. Hab dich nicht so, Boris.

Die beste Zeit für den Verteidigungsminister ist vorbei. Was tun? Wenn er sich dem Kanzler fügen sollte, bleibt Deutschland ohne Streitkräfte, die den Namen verdienen und er persönlich verliert an Popularität. Tritt er aber zurück, bringt er die ganze Regierung ins Wanken. Keine leichte Entscheidung.

Und wieso geht der Kanzler das Risiko ein, dass Pistorius den Bettel hinschmeißt? Weil er denkt, der Boris macht das ja doch nicht. Wenn er sich da nicht mal irrt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Redet weniger, handelt endlich

Vor ein paar Tagen war der finnische Präsident Alexander Stubb zu Besuch in Berlin und wenn es gut geht, hat er Olaf Scholz seinen kühlen, wachen Realismus nahe gebracht. 

Von den Finnen lässt sich Wirklichkeitssinn lernen. Sie waren entschlossen neutral, so lange es sinnvoll war, und nun sind sie entschlossenes Mitglied der Nato. Denn die Welt hat sich gedreht und deshalb hat sich dieses kleine Land an einer langen Grenze mit Russland neu justiert. Die Gründe nannte Stubb in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Erstens: Russland wird auch nach Putin von Hardlinern regiert werden. Zweitens: Russland wird weiterhin aufrüsten und die Kriegswirtschaft beibehalten. Drittens: Russland wird den Versuch fortsetzen, die Ukraine auszulöschen. Die Offensive gegen Charkiv ist der Beleg dafür.

Soweit ein kleines Land mit 5,5 Millionen Einwohnern auf den Ernstfall vorbereitet sein kann, hat sich Finnland vorbereitet. 900 000 Männer und Frauen unterzogen sich einer militärischen Ausbildung; 280 000 von ihnen lassen sich rasch einberufen. Die Arsenale mit Langstreckenraketen sind voll. Die Luftwaffe ist modern. Erstaunlicherweise hat Finnland neben Polen die größte Artillerie Europas.

Von den Finnen lernen, heißt sich auf den Krieg einzustellen und somit potentielle Gegner illusionslos soweit abzuschrecken, wie es möglich zu sein scheint. Dazu hat die Zeitenwende in Europa geführt. Und noch etwas lässt sich von den Finnen, aber auch von den Litauern, Esten und Letten lernen: Nicht viel reden, lieber handeln.

In Deutschland wird viel geredet und weniger gehandelt. Am Verteidigungsminister liegt es nicht. Boris Pistorius redet, damit gehandelt wird. Er versucht aus der Zeitenwende die Konsequenzen zu ziehen. Damit ist er in der Regierung ziemlich einsam.

Die Einsamkeit liegt in der Partei begründet, der er angehört. Die SPD ist notorisch zerrissen, wenn Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik getroffen werden müssen. Die Kluft wird noch tiefer ausfallen, sobald die Konsequenz nicht mehr zu leugnen ist: Der Aufbau einer kriegstüchtigen Bundeswehr kostet sehr viel Geld, das bislang in den Sozialstaat geflossen ist, den ebenfalls ein Sozialdemokrat verantwortet: Markus Heil.

Der zweite Grund für die Einsamkeit des Boris Pistorius ist Olaf Scholz. Die Klarheit und Entschlossenheit, die der Kanzler vorige Woche an seinem finnischen Besucher und bei seinen Stippvisiten in Lettland und Litauen studieren konnte, geht ihm persönlich ab. Oder freundlicher gesagt: Sollte er lernfähig sein, so konnte er sich vorige Woche mit Wissen vollsaugen, das ihm zu denken geben sollte.

Die kleinen Nato-Staaten sind fest davon überzeugt, dass Russland unter Putin oder irgendwelchen Nachfolgern expansiv und revisionistisch bleiben wird. Wenn ein so großes Land auf Kriegswirtschaft umstellt, hat es auch nach der Ukraine einiges vor. Die Folge daraus ist, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich alles in die Waagschale werfen müssen um, erstens, der Ukraine im Krieg mehr noch als bisher zu helfen, damit, zweitens, mehr Zeit zur Vorbereitung auf die nächsten Überfälle bleibt.

Militärische Experten gehen davon aus, dass in fünf bis acht Jahren die nächsten russische Angriffskriege zu erwarten sind. Bis dahin müsste also Deutschland kriegstüchtig und die Bundeswehr kriegstauglich sein. Daraus folgt, dass die Regierung schnellstens über die Wiederaufnahme der Wehrpflicht entscheiden sollte, egal ob nach schwedischem Vorbild oder nach altem deutschen Muster oder mit einem sozialen Jahr für junge Frauen wie Männer. Und natürlich muss die Finanzierung für mehr Soldaten und die Aufrüstung zu Land, See und in der Luft gesichert sein, sei es über eine Lockerung der Schuldenbremse oder über Umschichtung im Etat oder, was vermutlich nötig sein wird, über beides.

Nimmt man den Ernst der Lage so ernst, wie es die kleinen Länder vormachen, dann haftet unseren Diskussionen über die Schuldenbremse, das Bürgergeld, die Gender-Politik etc. etwas Unernstes an. Die Regierung ist im Übermaß mit sich selber beschäftigt, weil sie bessere Einsichten, siehe Zeitenwende, nicht angemessen beherzigt. Die Ausnahme bleibt Boris Pistorius und er findet damit Anerkennung, wie die Umfragen zeigen.

Gerade jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges. Nie wieder Krieg sollte auch heißen, dass Deutschland fortan friedfertig bleiben würde. Nun ist die Welt unfriedlich und Deutschland sollte sich rasch darauf einstellen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Mein Glücksgedenktag

Der 10. Mai ist für mich ein bedeutungsreicher Tag. An einem 10. Mai bekam ich eine Bronchoskopie, was damals, vor genau 56 Jahren, eine ziemlich viehische Angelegenheit war.

Der Ort hieß Kutzenberg und war eine Lungenheilanstalt, wie der korrekte Name lautete, und lag am Rande der Fränkischen Schweiz. Mich hatte eine Tuberkulose niedergestreckt, ich war seit dem 15. März 1968 hier.

Als ich am ersten Morgen bei strömenden Regen und wolkenverhangenem Himmel aufwachte, nahm ich das als das denkbar schlechteste Omen an. An diesem Tag, dem 16. März 1968, wurde ich 18 Jahre alt. Vom Führerschein hatte ich geträumt, die ersten Fahrstunden schon absolviert. Endlich würde ich unabhängig sein von meinem Vater und Bruder und Freunden, die mich großzügig nach Haidt gefahren oder von dort abgeholt hatten. Jedesmal musste ich fragen oder betteln, nicht sehr erhebend. Von da an wollte ich selber Ellen, meine schöne Freundin, abholen und nach Hause fahren. Mein Vater hatte mir einen billigen Gebrauchtwagen versprochen.

Nix da. Alles anders. Kein Glückstag, sondern eine größere Anzahl an Pechtagen. An einem Morgen war ich daheim im Bad einfach umgekippt. Mein Vater fand mich zusammengekrümmt und rief seinen Briefmarkenfreund an, der im Zivilstand Röntgenfacharzt war. Es stellte sich heraus, dass ich Tuberkulose hatte. Zwei Wochen blieb ich zu Hause; Schule fiel für mich aus. Mein Frühstück begann mit einem Schluck Sekt, damit der zusammengebrochene Kreislauf einigermaßen in Schwung kam. Dann endlich war ein Bett in Kutzenberg frei.

Tuberkulose hieß in Kutzenberg Motten, weil sich die Tuberkelbazillen auch so in die Lungen fraßen wie Motten in Pullover. Sie brachten den Koch und den Seemann um, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ich war 18 und nicht daran gewohnt, dass gar nicht so alte Menschen um mich herum starben. Ich war eher fassungslos als verzweifelt. Ich wollte nur weg von hier, so schnell wie möglich.

Am 10. Mai 1968 stand eine Bronchoskopie an, morgens um 9 Uhr. Der Operateur sagte zu meinen Eltern, er wollte mal in die Lunge hineinschauen, die möglicherweise um einen Teil gekürzt werden musste, um mich zu heilen. Mir sagten weder der Arzt noch meine Eltern etwas über den Zweck der Untersuchung.

Mein Problem war die Hiluswurzeldrüse am Eingang zur Lunge. Sie war geplatzt und käseartige Stücke in die Lunge gelangt. Sie mussten dort wieder heraus. Die Bronchoskopie diente als Vorstufe zur Operation. Daran war der Seemann gestorben und der Koch war nicht aus der Anästhesie erwacht.

Ich hatte Angst. Ich wusste auch ohne Offenbarung durch Ärzte oder Eltern, was auf dem Spiel stand. Sehr früh am Morgen der Operation bekam ich eine Leck-mich-am-Arsch-Spritze zu meiner Beruhigung. In Kutzenberg ging es weniger elaboriert zu als auf dem Zauberberg.

Und dann geschah das Wunder. Die Bronchoskopie holte aus der Lunge heraus, was dort fehl am Platze war. Keine Operation. Kein Schnippeln an der Lunge. Kein Sterben.

Und deshalb ist der 10. Mai für mich ein Glücksgedenktag.

p.s. Über die geographische Zuordnung von Kutzenberg entspann sich ein kleiner, freundschaftlicher Meinungsaustausch. In einer ersten Fassung hatte ich groteskerweise die Lungenheilanstalt in die Sächsische Schweiz versetzt. Den Irrtum bemerkte mein Klassenkamerad Reinhard Lang (wir haben vor exakt 55 Jahren Abitur gemacht) und machte mich in einer Mail sanft darauf aufmerksam, dass Kutzenberg in der Fränkischen Schweiz liege. Bei einem Telefonat mit Ellen, meiner schönen Jugendfreundin, die ein Fels in dieser Krankheitszeit war, korrigierte sie wiederum diese Zuordnung und amüsierte sich königinnenlich darüber. Daraufhin schlug ich die Geschichte Kutzenberg nach und weiß nun mehr, als ich je wissen wollte. Gemeindeteil des oberfränkischen Marktes Ebensfeld im Landkreis Staffelstein. Lage 70 Meter oberhalb der Mainaue. 1139 erstmals erwähnt in einer Schenkung an das Kloster Banz, einer Benediktinerabtei nördlich Bambergs. 1801 gibt es dort einen Hof mit zwei Häusern, zwei Stadeln, einem Schafhaus und Nebengebäuden, die zum Besitz des Bamberger Fürstbischofs gehörten. 1871: 18 Einwohner und 9 Gebäude. 1904 erwirbt die Kreisgemeinde den Gutshof, um dort eine zweite Kreisirrenanstalt (so hieß es eben damals) einzurichten. Dort sollen dann 600 Patienten in Pavillons leben. 1925: 656 Einwohner in 28 Wohngebäuden. 1940/41 werden 446 Patienten nach Hartheim bei Linz deportiert und umgebracht. Nach dem Krieg wird der Schwerpunkt auf die Behandlung der Tuberkulose gelegt. 1955: 600 Patienten und 260 Ärzte, Krankenschwestern etc. in der Klinik. Ab 1960 neue Bettenhäuser. In einem kam ich vom 15. März bis zum 23. August 1968 unter.

Kutzenberg, das hat Ellen klar gestellt, liegt im Obermainland und die Lungenheilstätte heißt heute auch Bezirksklinikum Obermain. Ich habe mich mit mir selber darauf geeinigt, dass mein Kutzenberg am Rande der Fränkischen Schweiz zu finden war.

Wer sind wir und was wollen wir

Wir steuern auf zwei Tage zu, an denen die Grundlagen für Deutschland gelegt wurden. Grund genug, um einen Blick zurück nach vorne zu legen.

Übermorgen sind es 79 Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Der 8. Mai 1945 war ein sonniger Tag in einem wüsten Land. Meine Eltern erzählten mir, es sei still gewesen, wie aus der Zeit gefallen. Sie waren jung, 20 und 25 Jahre alt. Die Stümpfe meines Vaters, dort, wo beide Beine amputiert worden waren, waren endlich geheilt, so dass er jetzt Prothesen tragen konnte. Sie waren in einer ramponierten Villa in Hof einquartiert, immerhin. Aber das Schlimmste sei diese absolute Ungewissheit gewesen, diese schreckliche Unsicherheit, wie es weitergehen würde, was die Sieger nach der bedingungslosen Kapitulation mit ihnen machen würden.

Vier Jahre später war es erstaunlich glimpflich weitergegangen. Am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet. Weder die Gründung noch die Demokratie waren ihre freie Wahl. Die Deutschen mussten sich zu ihrem Glück zwingen lassen. Die Bundesrepublik war ein angloamerikanisches Produkt und richtete sich geschickt damit ein. Die Deutschen, die Europa überfallen und unvergleichliche Kriegsverbrechen begangen hatten, waren trotz alledem Glückskinder der Geschichte.

75 Jahre ist der Gründungstag her. 75 Jahre sind eine lange Zeit. Wie zwischen dem Wiener Kongress und der Wende zum 20. Jahrhundert. Wie zwischen der französischen Revolution und dem ersten der drei deutschen Einigungskiege.

1949 hatten die Deutschen Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und den Marshall-Plan. In der Folge stellten sich das Wirtschaftswunder und das Land wurde Mitglied der Europäische Union und der Nato.

Natürlich lief nicht alles so glatt, wie es scheint. Deutschland war ja geteilt. Noch 1989 wandte der Großschriftsteller und Nobelpreisträger Günther Grass gegen die Wiedervereinigung ein, die Teilung sei doch die Konsequenz aus Auschwitz und die DDR eine kommode Diktatur. Tatsächlich waren die Ursachen und Gründe für den großen Krieg und seine Folgen lange umstritten und führten immer wieder zu  dramatischen Diskussionen in Politik und der Öffentlichkeit.

Der liberalen Mehrheit sprach der Bundespräsident Richard von Weizsäcker 40 Jahre nach 1945 aus dem Herzen. „Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse dunkle Zukunft. Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle zu sagen gilt: Der 8.Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden  System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Das Wir, das Weizsäcker meinte, schloss die unterjochten Völker und die in den Vernichtungslagern befreiten Juden, Sinti, Roma ein  – alle Menschengruppen, die von den Nazis als unwertes Leben erniedrigt worden waren. Die Rede war das Musterbeispiel, wie man einer ungeheuer komplexen Geschichtsetappe gerecht werden kann.

So verstand sich das deutsche Narrativ, das seither am 8. und 23. Mai wiederholt wurde. Aber so einfach, so unumstritten ist es jetzt nicht mehr. Dagegen setzt die erstarkte national bis nationalistisch gesonnene Rechte eine konkurrierende Erzählung. Sie lässt sich zum Beispiel in der „Sezession“ nachlesen, dem Zentralorgan der Rechten. Der Verleger heisst Götz Kubitschek, ist der Vordenker der AfD und der Anreger für eine Umdeutung der Geschichte der Deutschen seit dem 23.Mai 1945.

Aus dieser Sicht hat der maßlose Opportunismus der Deutschen dazu geführt, sich vor allem mit der Siegermacht USA zu identifizieren und deren Vorliebe für Konsumismus und Materialismus zu übernehmen. So ging das eigentlich Deutsche verloren, wobei nicht ganz klar ist, worin es bestand. Das erschließt sich leichter in der Gegenwart, etwa im Verhältnis zu Russland, das in der AfD gerade wegen Putins eiserner Autokratie hoch geschätzt wird. In diesem Zusammenhang erscheint auch der Angriffskrieg gegen die Ukraine als ein Zeichen imposanter Stärke. Im Unterschied dazu war es eine Schwäche der Regierung Kohl, die um der Wiedervereinigung willen die Oder-Neiße-Grenze zu Polen anerkannte, so argumentiert die Rechte.

Russland ist für die deutsche Rechte in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Nimmt die Demokratie Rücksicht auf Minderheiten, ist die Autokratie weit davon entfernt, Rücksicht auf LGBTQ zu nehmen oder zu gendern. Aus der Perspektive der intellektuellen und weniger intellektuellen Rechten läuft dort vieles richtig, was hier falsch läuft.

Revisionismus ist ihr Leitmotiv. Der lange Weg nach Westen, den Deutschland seit 1945 unternahm, ist für sie ein Irrweg. Sie will zurück zum Nationalstaat und zu einer Orientierung, in deren Zentrum Bismarck steht. Das Jonglieren mit mehreren Kugeln. Das Nichtfestlegen, das aber einhergeht mit der Vorsicht, nicht allein zu stehen. Das Selbstgefühl einer europäischen Vormacht aus eigenem Recht. 

Längst Vergangenes lebt hier wieder auf. Die Folge ist die Verachtung der Europäischen Union, weil sie den Nationalstaat schwächt, und das Misstrauen in die Nato, die unter Hegemonie der USA steht.

Make Germany strong again – der Trumpsche Schlachtruf ist auch der Schlachtruf der AfD. Und weil Wladimir Putin gerne Abgesandte der europäischen Rechten empfängt und sie auch alimentiert, gesteht man ihm den Imperialismus zu. Auch hier ist Donald Trump der Leitstern – soll sich doch Putin verdammt noch mal nehmen, was er will.

Die Erinnerung an die eigenen Ursprünge an den Gedenktagen im Mai ist nie wertfrei. Das historische Gedächtnis führt immer zu einer Geschichtspolitik, die auf die Gegenwart zielt und daraus eine Zukunft entwirft. Eine wehrhafte Demokratie aber hält an ihrem Narrativ fest und legt die Schwächen konkurrierender Erzählungen entschlossen frei. Und deshalb lohnt es sich, in den nächsten Tagen den Festtagsreden genau zuzuhören.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Machtakrobat mit Herz

Es kommt schon mal vor, dass sich Regierungschefs an ihr Volk wenden wollen. Dann können sie ins Fernsehen gehen, einen Podcast aufnehmen oder schlicht eine Pressekonferenz geben, auf der sie sagen, was es zu sagen gibt.

Pedro Sanchez wählte eine Alternative. Obwohl Gewicht hatte, was er mitteilte, schrieb er auf der Platform X eine Art Brief, sehr persönlich gehalten, sehr emotional. Die Spanier staunten über ihren Regierungschef, den sie für kaltherzig und berechnend halten, eben für einen Machtpolitiker, der seit sieben Jahren Ministerpräsident ist und vieles dafür getan hat, es zu bleiben.

Nun aber nahm er sich eine Auszeit und begründete sie so: „Ich brauche dringend eine Antwort auf die Frage, ob ich die Regierung weiter führen oder auf diese Ehre verzichten soll.“ Er sehe sich, schrieb er weiter, als Opfer einer Strategie der Hetze und Zerstörung, die sich jetzt auch gegen seine Familie richte.

Die spanische Politik ist seit der Wahl im Juli 2023 noch übler vergiftet als ohnehin. Zur stärksten Kraft wurde damals die konservative PP, die mit der rechtsnationalen Vox aber keine Mehrheit fand und deshalb waidwund um sich schlägt. Denn Sánchez konnte bleiben, was er war: Ministerpräsident. Dafür bastelte er eine Koalition mit der linken Podemos zusammen. Zur Mehrheit braucht sie vier katalanische Separatisten- und baskische Nationalisten-Parteien. Sehr ungewöhnlich, ein Drahtseilakt, ein seltsames Gebilde.

Spanien ist fast singulär, weil sowohl die sozialdemokratische PSOE als auch die konservative PP über 30 Prozent liegen. Das macht aber auch beide anfällig für maximal schwierige Koalitionen mit  kleinen, ideologisch gefestigten Parteien und regionalen Interessen-Gruppierungen.

Dabei ist Spanien im Grunde nicht schlecht dran. Das Wachstum von 2,5 Prozent muss Deutschlands und Frankreichs Neid erwecken. Auch anderswo mangelt es an Produktivität, aber in Spanien haben junge Menschen allenfalls Aussicht auf Zeit-Verträge, weshalb viele von ihnen ins Ausland abwandern. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 12 Prozent, besser als in den Jahren zuvor. In der EU und Nato gehört das Land zu den zuverlässigen Mitgliedern.

Erst seit Januar steht die neue Regierung Sánchez. Auch deshalb schlug die Ankündigung, möglicherweise trete Sánchez zurück, wie eine Bombe ein. Großes Rätselraten, große Motivforschung. Was bezweckt er damit? „Es ist ein Chaos“, sagt Pablo Simón, ein Politologe an der Madrider Universität. „Es gab keinen eindeutigen Anlass für diesen Schachzug. Das ist sehr riskant.“ 

Schon wahr, für Spanien ist dieser Vorgang beispiellos. In Amerika aber baute Donald Trump sogar eine eigene Platform für seine Tiraden auf, als Twitter ihn sperrte. Und rechte Parteien in ganz Europa suchen sich Kommunikationskanäle, auf denen sie ihre Theorien über das Geschehen auf Gottes Erdboden frei flottieren lassen.

Doch Pedro Sánchez ist kein Außenseiter und schon gar nicht rechts. Große Entscheidungen stehen in diesen Tagen an. Seine Regierung ist zum Beispiel geneigt, das Recht der Palästinenser auf einen Staat anzuerkennen; die anderen Europäer werden nicht amüsiert sein. Dazu hat sich Sanchez bereit erklärt, katalanische Separatisten zu amnestieren, die im Jahr 2017 illegal eine Abstimmung über die Abspaltung von der Madrider Zentrale organisiert hatten. 

Was Sánchez aus der Bahn warf, sind Vorwürfe gegen seine Frau. Es geht um Behauptungen, die erst  im Internet kursierten und dann von der rechten Aktivisten-Gruppe „Saubere Hände“ zur Anzeige gebracht wurden. Ein Madrider Staatsanwalt leitete Ermittlungen gegen Begoña Gomez ein, so heisst Sánchez’ Frau.

Gomez soll in der Pandemie Gefälligkeitsschreiben für Firmen aufgesetzt haben, die um Aufträge im Höhe von 10 Millionen Euros mit 20 Konkurrenten kämpften. Außerdem habe sie mit Air Europa, einer spanischen Fluglinie, eine vertrauliche Vereinbarung getroffen, wonach jährlich 40 000 Euros an eine Privatuniversität, für die sie arbeitet, fließen sollten. Bald darauf erhielt Air Europa 400 Millionen Euro an Pandemie-Hilfe vom Staat – von der Regierung Sánchez.

Die Ermittlungen werden sicherlich noch einige Zeit andauern. Kein Staatsanwalt will sich nachsagen lassen, dass er nicht konsequent geprüft hat, selbst wenn die Anschuldigungen fadenscheinig oder gar konstruiert sind. Vorgeladen sind nun zwei Journalisten, auf die einzelne Behauptungen zurückgehen.

Wahrscheinlich hat das Ehepaar Sánchez/Gómez seit Donnerstag viele Stunden mit Grübeln verbracht. Ist an den Vorwürfen etwas dran? Ist das mehr als eine Schmutzkampagne der rechten Parteien? Den „Sauberen Händen“ hängt Schwefelgeruch an, weil sie zur Rechten gehören. Kann Sánchez einfach ins Amt zurückkehren?

Kann er und will er. Vier Tage lang betrieb er Introspektion, jetzt ist es hohe Zeit, wieder zu regieren. Jetzt geht es darum, ob eine Mehrheit der Spanier und Spanierinnen ihm darin folgen, Separatisten wie Puigdemont laufen zu lassen oder den Palästinensern trotz des 7. Oktober einen Staat zu gewähren. Daran muss sich der Ministerpräsident messen lassen.

Immerhin wissen die Spanier nun, dass ihr Ministerpräsident nicht nur ein Machtakrobat ist, sondern auch ein Herz hat. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der Teufelskreis, den man auch verlassen kann

Manchmal hilft es ja, in die Vergangenheit zu gehen, um einen Konflikt besser zu verstehen. Ich glaube nicht, dass man aus der Geschichte lernen kann, aber zum Begreifen trägt sie zweifellos bei. Zum Beispiel fällt auf, welche Bedeutung Zahlen in dieser Region haben.

Im Jahre 1880, als jüdische Siedler aus Polen und dem Zarenreich vor Pogromen in einem ersten Schub hierher flohen, lebten rund 25 000 Juden und 400 000 Fellachen und Nomaden in Palästina. Übrigens war Palästinenser damals ein Sammelbegriff für alle Muslime, Juden und Christen, die hier ansässig waren. Die Herrschaft übte 500 Jahre lang das Osmanische Reich aus. Nach 1918 war Großbritannien die Mandatsmacht im Auftrag des Völkerbundes. 

Das Zahlenverhältnis zwischen Juden und Arabern veränderte sich auch schon vor der Shoah, was den arabischen Teil beunruhigte und immer wieder zu Aufständen anstachelte. Sie befürchteten, sie würden in die Minderheit geraten und an Einfluss verlieren. Als die Uno im Jahr 1947 das Land aufteilte, standen 700 000 Juden 1,2 Millionen Arabern gegenüber. Das waren nun zwei gegensätzliche Nationalbewegungen in wachsender Unversöhnlichkeit.

Der Zufall fügt es, dass Israel in Kürze den 75. Jahrestag seiner Staatsgründung feiern wird. Am Nachmittag des 14. Mai 1948 proklamierte David Ben Gurion in Tel Aviv die Gründung des Landes, das nach längeren Hin und Her Israel getauft wurde. Noch in der Nacht rückten die Armeen Ägyptens, Jordaniens, des Libanons, des Iraks und Syriens auf das Gebiet des neuen Staates vor – die geballte arabische Macht des Nahen Ostens.

Vom Tag der Gründung an war Israel in seiner Existenz bedroht. Der Krieg war seither immer eine reale Möglichkeit. Zugleich wuchs das Land von Krieg zu Krieg. Der Sinai kam hinzu und wurde zurückgegeben, die Golan-Höhen gab Israel wieder her. Der Streifen Land an der Küste, der Gaza heißt, fiel Israel zu, den es später an die Palästinenser übergab. Im Westjordanland entstanden zahllose völkerrechtswidrige Siedlungen; heute leben 700 000 Menschen dort. Und natürlich Jerusalem.

Die arabischen Nachbarländer haben den letzten Krieg im Jahr 1973 gegen Israel verloren und Konsequenzen gezogen. Danach gingen Ägypten und Jordanien zur Anerkennung des Landes über, das sich nicht ins Meer treiben ließ. Die Emirate am Golf und Bahrain folgten später. Im Hintergrund signalisiert Saudi-Arabien eine gewisse Bereitschaft zur Anerkennung. 

Der Jahrestag der Gründung Israels ist für die Palästinenser der Jahrestag der Katastrophe. In diesem Krieg verloren sie nicht nur Land und Häuser, sondern auch ihre Heimat. Denn rund 700 000 von ihnen flohen oder wurden vertrieben. Sie gingen nach Jordanien oder in den Libanon, leben heute noch in Flüchtlingslagern. Knapp 170 000 blieben damals als Minderheit in Israel.

Von Krieg zu Krieg verloren die Palästinenser nicht nur die Hoffnung auf baldige Rückkehr in ihre Heimat, sondern auch Verbündete, die ihre Sache zur eigenen machten. Auch daran werden sie am 14. Mai denken. Wer ist ihre Schutzmacht? Welches Land übt sich nicht in Versöhnlichkeit mit Israel?

Iran. Kurz vor dem 14. Mai sandte Iran Hunderte Drohnen und Raketen nach Israel. Die Propaganda zeigte ein Video, das anfliegende Marschflugkörper über der Al-Aqsa-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg zeigte, einem islamischen Heiligtum, von dem aus Mohammed gen Himmel geritten sein soll. Seht her, das war die Botschaft, wir befreien Jerusalem, wir sind imstande, Israel zu schlagen und zu zerstören.

Dieser Angriff war genauso beispiellos wie auch der Gegenangriff auf Isfahan. Beide Angriffe waren aber auch begrenzt, kamen sie doch mit Ankündigung und zielten auf militärische Stützpunkte ab, wobei hier wie dort der Flugabwehr genügend Zeit zum Abschuss der Drohnen und Raketen blieb. Dennoch sandte auch Israel eine Botschaft: Wenn wir wollen, können wir eure Atomanlagen angreifen, gebt euch keinem Größenwahn hin.

Seit 75 Jahren existiert der Staat Israel. Kriege ändern an dieser Tatsache nichts, diese Erfahrung könnte ja auch irgendwann in Teheran zu Einsichten führen. Eine Atommacht, die auch konventionell überlegen ist, lässt sich nicht ins Meer treiben.

Die Uno teilte damals das Land zwischen Arabern und Israelis auf. Teilungen sind immer künstlich und stellen selten zufrieden. Damals mag theoretisch sogar eine Chance auf Koexistenz bestanden haben, weil die Anzahl der Menschen auf beiden Seiten überschaubar war. 

Heute aber leben knapp zehn Millionen Israelis neben fünf Millionen Palästinensern und 1,5 Millionen arabischen Israelis in dieser Region. Unter so vielen Menschen das ohnehin kleine Gebiet auch noch zwischen zwei Staaten aufzuteilen, scheint ziemlich illusorisch zu sein. Wie sollte das gehen – mit Bevölkerungsaustausch? Die Zwei-Staaten-Lösung, im Laufe der Jahre immer mal wieder vergeblich angestrebt, ist heute so gut wie unerfüllbar.

Als Alternative bleibt die immerwährende Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern, an die beide sich beide gewöhnt haben mögen. Oder eben eine Konföderation, für sich etliche Israelis, aber auch Araber seit Jahren einsetzen – zwei Staaten, ein Heimatland, das ist ihr Vorschlag.

Wäre doch schön, wenn dieser Teufelskreis aus Krieg, Terror und Hass zur Abwechslung mal verlassen werden könnte.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der große Krieg – nur eine Fehleinschätzung entfernt

Nun bemühen sich alle um Mäßigung, um Beruhigung der Gemüter, die Außenminister und Regierungschefs, EU und Uno. Es ist ja nicht so schlimm gekommen wie befürchtet. Die meisten der iranischen Raketen und Drohnen haben sie noch im Anflug in einer konzertierten Aktion mit Israel abgefangen – die USA, England, Frankreich und Jordanien. Die technische Überlegenheit der Abwehrsysteme bewährte sich in dieser kritischen Nacht zum Sonntag.

In der langen, blutigen, unberechenbaren Geschichte des Nahen Ostens ist eine Zäsur eingetreten. Der Schattenkrieg, der sich seit vielen Jahren im Libanon, Irak oder Syrien abspielte, ging in einen offenen Krieg über, bei dem Iran erstmals Ziele auf israelischem Territorium direkt ansteuerte. Die Zäsur sollte in unserem Gedächtnis bleiben, auch wenn Iran das Abfeuern der Drohnen, Mittelstreckenraketen und ballistischen Raketen so frühzeitig bekannt gab, dass die Abwehrsysteme bereit standen.

Natürlich gibt es in Iran, den USA wie auch Israel genügend Kräfte, die das Verhalten Irans als Schwäche deuten und nun aufs Ganze gehen wollen. Die Vasallen Donald Trumps verlangen nach einem machtvollen militärischen Vergeltungsschlag. Sie werfen Joe Biden vor, dass er Israel mit seiner Kritik am Gaza-Krieg schwäche und gegen Iran Appeasement betreibe. Sie wollen am liebsten ganz schnell die Nuklearfabriken im Iran angreifen und auslöschen. Ihnen liegt daran, das Mullah-Regime zu stürzen.

Über die inneren Machtverhältnisse in Iran wissen wir wenig, so ist das nun einmal in Diktaturen. Offensichtlich ist nur, dass die militärische Machtdemonstration mit Vorsicht gepaart war. Gestern feierte die Propaganda den Angriff „auf den kleinen Satan“ und erklärte zugleich die Aktion für beendet. 

Da ist der Rückschluss erlaubt, dass es auch im Regime der Mullahs zwei Fraktionen gibt, wobei die eine Fraktion eben Ambivalenz bevorzugt, während die andere Fraktion kompromisslos Angriffe auf Tel Aviv mit vielen toten Zivilisten vorgezogen hätte. Der Krieg ist immer nur eine Fehleinschätzung weit entfernt.

Gestern tagte das israelische Kriegskabinett ziemlich lange über die Zäsur und die Folgen. Natürlich gibt es auch hier die Falken, die jetzt tun wollen, was sie lange schon tun wollen – den Schlag zum Beispiel auf die kerntechnische Anlage in Natanz, in der Uran angereichert wird. Damit hat Benjamin Netanjahu Jahr um Jahr gedroht. Aus seiner Sicht könnte die Chance jetzt gekommen sein, weil es um Irans konventionelle Streitmacht nicht besonders gut bestellt zu sein scheint, wie die Leichtigkeit der Abwehr am Sonntag suggeriert.

Große Kriege entstanden schon oft aus kleinen Kriegen. Dem Gaza-Krieg wohnte von Anfang an diese Eskalation inne. Eigentlich will ihn keiner, diesen großen Krieg, weil die Konsequenzen unabsehbar wären, aber jeder verfolgt seine Interessen unbeirrt. Und deshalb ist das Schlafwandeln in den großen Krieg jederzeit möglich.

Iran umstellt Israel seit langem mit Gefolgs-Milizen im Libanon, im Gaza und im Jemen. Sie bekommen Waffen, Ausbildung, Berater aus den Revolutionären Garden und erledigten für die Mullahs die Arbeit. Gemeinsam träumen sie davon, Israel ins Meer zu treiben. 

Israel bekennt sich prinzipiell nicht zu Angriffen in Iran, im Irak oder Syrien, schon wahr. Aber iranische Nuklearwissenschaftler starben auf offener Straße in Teheran. An Nuklearstätten und militärischen Stützpunkten fanden Explosionen statt. 18 iranische Kommandeure der elitären Quds-Einheit und der Revolutionären Garden wurden im In- wie Ausland ermordet. Zuletzt starben zwei Generäle und vier Offiziere in einem Gebäude der iranischen Botschaft in Damaskus. Dieser Drohnen-Angriff am 1. April löste die Zäsur von Sonntagnacht aus, so begründete das Mullah-Regime die „Rache für die Märtyrer“.

Was bleibt, ist eine neue Konstellation in dieser Region, die sich länger schon abzeichnete. Jordanien und Ägypten schlossen noch am Samstagabend vorsorglich ihren Luftraum. Jordanien schoß sogar iranische Projektile ab. 

Auch Saudi-Arabien und Katar, die den großen Krieg unter allen Umständen verhindern wollen, rufen jetzt zur Mäßigung auf. Aus ihrer Perspektive mag Israel ein Ärgernis sein, aber es ist nun einmal da und als Atommacht auch nicht ins Meer zu treiben. Nein, der entscheidende Unruhefaktor mit dem Anspruch auf Hegemonie im Nahen Osten ist Iran. Den sunnitischen Arabern liegt eindeutig an der Reduktion der Einflußsphäre der Schiiten im Iran.

Dazu trug Israel in der Nacht zum Sonntag bei. Auch deshalb bleibt für die gesamte Region entscheidend, ob sich die Regierung Netanjahu mit dem Triumph zufrieden gibt oder im Glauben wiegt, dass jetzt im umfassenden Angriff eine historische Chance liegt, Iran bleibend zu schwächen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der Runningback, der sich im Leben verlief

Da war dieser weiße Ford Bronco, der gar nicht mal schnell quer durch Beverley Hills fuhr. Das Fernsehen übertrug live, wie die Polizeiwagen ihm folgten, als wären sie ein Geleitzug. Es hätte sich auch um ein Begräbnis handeln können, bei dem eben der Konvoi dem Sarg folgt und sich jede Menge Schaulustige anhängen. 

Der Mann im Auto war in Amerika berühmt, sie nannten ihn nur OJ. Er war ein herausragender Footballspieler gewesen, der nach der Karriere in Film und Fernsehen auftrat. Er lebte von seinem Ruhm, er zehrte von seinem Ruhm, er war der Gute, er konnte doch kein Mörder sein, oder doch?

Amerika kann schrecklich sein. O.J. Simpsons Fahrt in die Verhaftung wegen Mordes bediente den erbärmlichen Voyeurismus weit vor Erfindung der sozialen Medien. Nicht erst das Netz hat diese zügellose Neugier erfunden, die sich am Entsetzlichen weidet. Den obszönen Drang zu sehen, ob es in Los Angeles zu einem Shootout kommt oder wenigstens zu einem tödlichen Auto-Unfall, gab es weit vor dem Internet. Der Fall O.J. Simpson ist der ultimative Beleg für den kulturellen Dammbruch, bei dem Amerika der Welt voranging.

Bis zu diesem 17. Juni 1994 war O. J. Simpsons Leben ein Märchen gewesen. Aufgewachsen mit der alleinerziehenden Mutter. Kränkliches Kind. Dann Mitglied einer Straßengang, die sich „Persian Warriors“ nannte, toller Name. Der Football als Retter vor dem Verderben, das im Gefängnis hätte enden können, schon damals.

In Amerika lieben sie diese Lebensgeschichten, in denen farbige Jungs im Sport zu Millionären aufsteigen. O.J. war Running Back gewesen, das sind die Brecher, die den Football vom Spielmacher bekommen und sich durch die gegnerischen Linien zum Touchdown durchschlagen. Jeder Spielzug löst ein kleines Drama aus – gelingt es ihm oder werfen sie ihn rechtzeitig nieder und wie hart gehen sie mit ihm um?

O.J. war große Klasse. O.J. sah glänzend aus. O.J. war ein Star, blieb ein Star und konnte sich nichts anderes vorstellen, als immer nur ein Star zu sein. Was sollte schon passieren? So einer kam immer davon, so einen kriegten sie nicht, weder die Verfolger auf dem Feld noch die Gegner vor Gericht.

Zwei Menschen waren in Los Angeles vor niedergestochen worden. Nicole Brown Simpson war seine geschiedene Frau, Ronald Goldman ihr Liebhaber. War O. J. Simpson beider Mörder?

Am Prozess nahm ganz Amerika Anteil. Grob gesagt war für Simpson, wer farbig war, und gegen ihn, wer weiß war. So einfach war das damals und ist es noch heute.

In solchen Verfahren geht es um das Drama und um die Deutungshoheit über das Verbrechen. Simpsons Anwalt spielte furios mit den Vorurteilen, die Farbigen aus den Institutionen entgegenschlagen, an deren Spitze Weiße stehen. Der Chefermittler? Johnny Cochran, der Simpson vertrat, machte aus ihm einen Rassisten, der eine Verschwörungstheorie konstruierte, um den feinen, untadeligen O.J. Simpson zu Fall und ins Gefängnis zu bringen. 

Eine Schmierenkomödie spielte sich vor Gericht ab, die man seither aus zahllosen US-Serien kennt. Am Ende kam es auf einen blutigen Handschuh an, den Simpson, atemlos beobachtet von den Geschworenen, dem Richter und dem Fernsehpublikum, langsam überstreifte – überzustreifen versuchte, denn siehe, er war ihm zu klein und damit war O.J. Simpson am 3. Oktober 1995 ein freier Mann.

Aber es war noch nicht ganz vorbei. Nach amerikanischen Recht konnten die Hinterbliebenen Simpson vor dem Zivilgericht auf Schmerzensgeld verklagen, was sie auch taten. Ein Gericht in Florida verurteilte O.J. zu 33,5 Millionen Dollar, zahlbar an die Familien der Ermordeten. Davon musste er allerdings in Wahrheit nun eine halbe Million Dollar herausrücken, weil in Amerikas Sonnenstaat Pensionsvermögen und Immobilien nicht zur Begleichung der Strafe herangezogen werden dürfen.

O.J. Simpson war einerseits des Mordes für nicht schuldig befunden worden und andererseits eben doch. Er sollte horrendes Schmerzensgeld zahlen und eben dann wieder nicht. Er kam davon, wie man im amerikanischen Rechtssystem davonkommen kann, wenn man Geld und Ruhm besitzt.

Aber was macht diese Erfahrung mit einem Menschen? Natürlich kommt es auf sein Gemüt an, seinen Charakter. Vor allem aber darauf, ob er der Mörder seiner Ex-Frau war und deren Geliebtem oder nicht. Simpson konnte sich zurückziehen und seinen Ruhm verwalten. Er konnte Gutes tun und seinen Namen rein waschen. Aber er war nun einmal ans Drama gewöhnt und seltsamerweise wollte er mehr davon.

Vielleicht fehlte ihm der reine Ruhm, der ihn wie eine Aura umgeben hatte und nun beschmutzt war. Vielleicht ging ihm das Geld aus, denn Anwälte sind in Amerika unfassbar teuer. Vielleicht umgaben ihn aber auch Einflüsterer, die immer wie Kletten an Menschen wie Simpson hängen. Also schrieb er ein Buch, das nach einigem Hin und Her diesen Titel bekam: „If I did it – Confessions of the Killer“.

Darin stellt sich Simpson vor, wie er sich verhalten hätte, wenn er der Mörder gewesen wäre. Er spielt mit dem Mord an seiner einstigen Frau und dem Kellner, der ihr Liebhaber gewesen war. Er legt ein Geständnis ab, natürlich fiktiv. Er lässt das Grauen sich entfalten, er labt sich am Entsetzen, als ginge es um nichts Wichtiges. Oder legte er tatsächlich ein Geständnis ab, jetzt, da niemand ihm etwas anhaben konnte?

Viele Fragen, zu viele Fragen. Jetzt hatte sogar das unersättliche Amerika genug von Simpsons Dramen. Er war einfach zu weit gegangen.

Ins kollektive Bewusstsein kehrte O.J. Simpson erst im Jahr 2008 zurück –nach einem bewaffneten Überfall in Las Vegas. Gemeinsam mit Komplizen war er in ein Hotelzimmer eingebrochen, in dem zwei Fanartikelsammler abgestiegen waren. Als Begründung gab er an, er hätte eigene Erinnerungsstücke zurückhaben wollen. Vor der Richterin stammelte er: „Ich war so dumm. Es tut mir leid. Ich wollte nicht das Zeug von irgendjemand anderem haben, nur das holen, was mir gehört. Ich wollte niemandem wehtun.“

Tja. O.J. war damals 61 Jahre alt und hätte es nun wirklich besser wissen können. Das Strahlen, das ihm umgeben hatte, war verflogen. Aber wieder kam er davon. Nicht lebenslang, sondern „nur“ 33 Jahre ins Gefängnis sollte er mit der Möglichkeit, nach neun Jahren freigelassen zu werden. So kam es. Seit 2017 war er und blieb er ein freier Mann.

Was für ein seltsames Leben. So viel Drama wie möglich hineingepresst, als ginge es nicht anders. Ein Runningback, der sich im Leben verlief.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Frisch und fesch, unser Gerd

Schlank ist er geworden, dank der Nahrungsumstellung. Er trinkt kaum noch Alkohol, obwohl Rotwein sein steter Begleiter gewesen war. Ihm tut auch gut, dass er Golf spielt, denn dabei hält er sich dort auf, wo er lange berufshalber selten zu sehen war – an frischer Luft. Überhaupt macht er jetzt viele Sachen, von denen er nie gedacht hätte, dass er sie je machen würde.

Gerhard Schröder war ja das political animal, der ultimative Machtpolitiker mit dem Wagemut, alles aufs Spiel zu setzen. Er besiegte zuerst Ernst Albrecht in Niedersachsen und dann Helmut Kohl im Bund. Er hielt Oskar Lafontaine in Schach, bis der aufgab. Seine Agenda 2010 war ein Beispiel dafür, dass für einen Bundeskanzler das Land der Partei vorgeht, was ihm die SPD nie verzieh. Er war der Basta-Kanzler, der 2005 fast noch einmal gewonnen hätte.

Er häutete sich, erfand sich neu. Nach der Politik kam der Lobbyist, kam das Geldverdienen, kam Gazprom, kam Wladimir Putin. Diesem neuen Gerhard Schröder war nunmehr vieles egal, was ihm vorher wichtig gewesen war. Die nächste Häutung führt zum Privatier, keineswegs freiwillig.

Heute wird er 80 Jahre alt und ist doch fit wie ein Turnschuh. In seinem zerfurchten Antlitz paart sich das Verschmitzte mit der eisernen Härte, die ihm seit je her eigen war. Beseelt lächelt er auf privaten Fotos, die im Netz kursieren. Er grüßt samt Ehefrau Nummer Fünf zum Valentinstag, er zeigt sich mit ihr im Schneegestöber und umrahmt mit ihr die sterbenskranke Antje Vollmer.

Dass wir so viel über den postheroischen Alltag von Gerhard Schröder zu wissen bekommen, verdanken wir den Instagram-Beiträgen, welche So-yean Schröder-Kim, seine südkoreanische Gattin, mit der Welt teilt. Zugegeben, einige Eintragungen grenzen ans Komische und überhaupt erfahren wir mehr, als wir wissen wollen, aber 48 000 Menschen folgen dem Paar auf ihrer Reise durchs Leben hier in Deutschland und dort in Südkorea. Ist doch auch eine Art Popularität, oder nicht?

An Demütigungen, auch an öffentlicher Verachtung hat es ja nicht eben gefehlt. Die SPD wollte ihn loshaben, musste ihn dann jedoch wohl oder übel für 60 Jahre Parteimitgliedschaft auf Sparflamme ehren, in Hannover, nicht in Berlin. Das Berliner Büro, das ihm zustand, haben sie ihm weggenommen, wogegen der Ex-Kanzler vergebens gerichtlich vorging. Gerhard Schröder, den alle nur Gerd nennen, ist zur verfemten Person geworden, weil er Wladimir Putin die Treue hält, auch wenn er die Invasion in die Ukraine für einen Fehler hält.

Natürlich geht der Fall ins Bodenlose nicht spurlos an Gerhard Schröder vorbei. Natürlich lässt er sich nichts anmerken und hofft auf Rehabilitation noch zu Lebzeiten. Aber wahrscheinlich werden sie ihm erst im Tod Gerechtigkeit widerfahren lassen, worin die dann auch immer bestehen mag.

Manches, was ihm wie ein Mühlstein um den Hals hängt, relativiert sich bei näherer Betrachtung. In einer ARD-Sendung fragte Reinhold Beckmann im Jahr 2004 den Bundeskanzler Schröder, ob Wladimir Putin ein „lupenreiner Demokrat“ sei. Lupenrein? Die Frage war suggestiv, eigentlich unzulässig, was denn sonst. Aber sollte der Bundeskanzler sagen: Nein, ist er nicht?

Im Jahr 2004 war Putin im Westen noch wohlgelitten. Ein Nein aus Schröders Mund hätte eine diplomatische Krise ausgelöst. Mit größerer Geistesgegenwart hätte er wahrscheinlich die Frage einfach zurückgegeben. Statt dessen gab er diese Antwort: „Ja, ich bin überzeugt, dass er das ist.“ Mit dem Wissen von viel später wurde ihm der Satz zum Verhängnis.

Aber warum hat er nicht mit Putin wegen des Überfalls auf die Ukraine gebrochen? Aus Trotz, aus Sturheit. Weil Putin ihm Gelegenheit geboten hat, gutes Geld zu verdienen – ihm, der jahrelange klamm war, auch wegen der Scheidungen. Bei Gazprom konnte sich Schröder finanziell gesund stoßen. So etwas vergisst er nicht.

Um ihn ist es deshalb einsam geworden. Alte Freunde sind ihm geblieben, das schon, und werden in Alter und Isolation wichtiger denn je. Zum Beispiel die eherne Skat-Runde mit dem Malerfürsten Markus Lüpertz, mit Otto Schily und dem Unternehmer Jürgen Grossmann. Solche Rituale nehmen mit den Jahren fast sakralen Charakter an.

In Ermangelung politischer Bedeutung hat das Private in den letzten Jahren zwangsläufig an Umfang gewonnen. In seinem Leben vertraute sich der Gerd immer seinen seriellen Ehefrauen an und ließ sich von ihnen leiten. Mit seiner jetzigen Frau, 26 Jahre jünger, ist er seit sechs Jahren verheiratet. Sie konserviert ihn, hält ihn auf Diät, kauft ihm Klamotten.Nie war der Gerd besser gekleidet, wie auf Instagram zu bewundern ist.

Frisch und fesch geht der Gerd seinem 80. Geburtstag entgegen. Der Sonntag ist der Familie vorbehalten, zu der auch die beiden russischen Adoptivsöhne gehören. Freunde und Weggefährten hat Schröder dann für Ende April ins „Borchardt“ eingeladen.

Auch so ein Fall von typisch Schröderscher Sturheit: Das Restaurant ist das Muss für alle, die Rang und Namen in der Hauptstadt haben und gesehen werden wollen. Und selbstverständlich werden nicht nur Boulevard-Journalisten genau beäugen, wer eingeladen ist (Frank-Walter Steinmeier?) und wer nicht, wer kommt (Joschka Fischer?) und wer nicht.

Dem Gerd wird beides gefallen, die Feier und die Aufregung drum herum.

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Treiber und Getriebener

Der Krieg im Nahen Osten hat viele Facetten und unterschiedliche Perspektiven. Heute wollen wir uns anschauen, wie die Supermacht Amerika auf diese Region blickt und auf den Krieg reagiert.

Der Einfluss war schon mal größer. Zuerst zogen sich die USA, nach Anschlägen auf ihre Botschaft, aus dem Libanon zurück; das war 1982.  Dann unternahmen sie, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, die Invasion im Irak im Jahr 2003. Schließlich zog Präsident Barack Obama im Jahr 2012 eine rote Linie für chemischen  Angriffen in Syrien, um sie dann zu missachten.

Die Weltmacht verhielt sich – um es milde zu sagen –  nicht besonders glücklich und schwächte sich in Serie. Autorität erwächst daraus natürlich nicht.

Unter Joe Biden tritt die Supermacht in zweifacher Weise in Erscheinung: als Schutzmacht Israels und als dessen Eindämmungsmacht. Sie schützt sie vor Vergeltungsangriffen, zum Beispiel aus dem Jemen und aus Iran. Und sie schützt Israel vor sich selber, indem sie zu Besonnenheit und Rücksichtnahme im Gaza-Krieg aufruft.

Bidens Geduld mit Israel ist strapaziert, was er unverblümt erkennen lässt. Seine Sätze geraten kürzer und befehlshaft, seit sieben Mitarbeiter der Organisation „World Central Kitchen“ von israelischen Drohnen getötet wurden. Er verlangt nach einer Reihe „spezifischer, konkreter und messbarer Schritte“, um das Leid der Zivilisten im Gaza zu verringern. Nicht ganz zufällig gaben die israelischen Streitkräfte bekannt, dass sie sich aus Chan Junis zurückzögen. Die Stadt gilt als Hochburg der Hamas, aber im Grunde genommen ist ja der ganze Gaza-Streifen eine einzige Hochburg der Hamas.

Der Strom an Mahnungen aus dem Weißen Haus hat sicherlich auch dafür gesorgt, dass die Invasion im Süden des Gaza, die Netanjahu angekündigt hatte, bisher ausgeblieben ist. Der israelische Premier kann sich taub stellen, er kann sich über Wünsche oder Empfehlungen aus den USA kaltblütig hinwegsetzen, doch auch seine Harthörigkeit hat Grenzen.

Das Verhältnis zwischen Israel und den USA in Zeiten von Biden und Netanjahu ist hochgradig ambivalent. Der treibende Faktor ist Netanjahu, für den der Krieg eine politische Überlebensstrategie darstellt. Die Angriffe der israelischen Kampfjets auf die Infrastruktur der Hisbollah im Libanon nehmen an Intensität zu. Dazu kommt der Anschlag auf die iranische Botschaft in Damaskus, bei dem mehrere Kommandeure der Al-Quds-Brigaden, einer paramilitärischen Eliteeinheit, getötet wurden.

Es gab ja immer die Gefahr, dass der lokale Krieg im Gaza in einen großen Krieg in der ganzen Region mündet. Wie zu erwarten war, ergossen sich Racheflüche aus Teheran, die durchaus ernst zu nehmen sind. Deshalb stehen die israelischen Streitkräfte unter höchster Alarmbereitschaft, genauso wie die US-Stützpunkte in Katar und den Emiraten, in Syrien wie dem Irak. Allerdings scheint das Mullah-Regime nicht an einer Verschärfung der Lage in der Region zu liegen. Die Drohungen richten sich „nur“ gegen israelische Botschaften im Ausland – dosierte Rache, nennen sie das in dieser Region.

Netanjahu ist der Treiber, Biden der Getriebene. Das Verhältnis versucht der amerikanische Präsident nun umzudrehen. Aber Amerikaner haben ja einen Sinn für Duelle, wobei nicht immer der auf dem Papier Stärkere siegt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.