Vor ein paar Tagen war der finnische Präsident Alexander Stubb zu Besuch in Berlin und wenn es gut geht, hat er Olaf Scholz seinen kühlen, wachen Realismus nahe gebracht.
Von den Finnen lässt sich Wirklichkeitssinn lernen. Sie waren entschlossen neutral, so lange es sinnvoll war, und nun sind sie entschlossenes Mitglied der Nato. Denn die Welt hat sich gedreht und deshalb hat sich dieses kleine Land an einer langen Grenze mit Russland neu justiert. Die Gründe nannte Stubb in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Erstens: Russland wird auch nach Putin von Hardlinern regiert werden. Zweitens: Russland wird weiterhin aufrüsten und die Kriegswirtschaft beibehalten. Drittens: Russland wird den Versuch fortsetzen, die Ukraine auszulöschen. Die Offensive gegen Charkiv ist der Beleg dafür.
Soweit ein kleines Land mit 5,5 Millionen Einwohnern auf den Ernstfall vorbereitet sein kann, hat sich Finnland vorbereitet. 900 000 Männer und Frauen unterzogen sich einer militärischen Ausbildung; 280 000 von ihnen lassen sich rasch einberufen. Die Arsenale mit Langstreckenraketen sind voll. Die Luftwaffe ist modern. Erstaunlicherweise hat Finnland neben Polen die größte Artillerie Europas.
Von den Finnen lernen, heißt sich auf den Krieg einzustellen und somit potentielle Gegner illusionslos soweit abzuschrecken, wie es möglich zu sein scheint. Dazu hat die Zeitenwende in Europa geführt. Und noch etwas lässt sich von den Finnen, aber auch von den Litauern, Esten und Letten lernen: Nicht viel reden, lieber handeln.
In Deutschland wird viel geredet und weniger gehandelt. Am Verteidigungsminister liegt es nicht. Boris Pistorius redet, damit gehandelt wird. Er versucht aus der Zeitenwende die Konsequenzen zu ziehen. Damit ist er in der Regierung ziemlich einsam.
Die Einsamkeit liegt in der Partei begründet, der er angehört. Die SPD ist notorisch zerrissen, wenn Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik getroffen werden müssen. Die Kluft wird noch tiefer ausfallen, sobald die Konsequenz nicht mehr zu leugnen ist: Der Aufbau einer kriegstüchtigen Bundeswehr kostet sehr viel Geld, das bislang in den Sozialstaat geflossen ist, den ebenfalls ein Sozialdemokrat verantwortet: Markus Heil.
Der zweite Grund für die Einsamkeit des Boris Pistorius ist Olaf Scholz. Die Klarheit und Entschlossenheit, die der Kanzler vorige Woche an seinem finnischen Besucher und bei seinen Stippvisiten in Lettland und Litauen studieren konnte, geht ihm persönlich ab. Oder freundlicher gesagt: Sollte er lernfähig sein, so konnte er sich vorige Woche mit Wissen vollsaugen, das ihm zu denken geben sollte.
Die kleinen Nato-Staaten sind fest davon überzeugt, dass Russland unter Putin oder irgendwelchen Nachfolgern expansiv und revisionistisch bleiben wird. Wenn ein so großes Land auf Kriegswirtschaft umstellt, hat es auch nach der Ukraine einiges vor. Die Folge daraus ist, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich alles in die Waagschale werfen müssen um, erstens, der Ukraine im Krieg mehr noch als bisher zu helfen, damit, zweitens, mehr Zeit zur Vorbereitung auf die nächsten Überfälle bleibt.
Militärische Experten gehen davon aus, dass in fünf bis acht Jahren die nächsten russische Angriffskriege zu erwarten sind. Bis dahin müsste also Deutschland kriegstüchtig und die Bundeswehr kriegstauglich sein. Daraus folgt, dass die Regierung schnellstens über die Wiederaufnahme der Wehrpflicht entscheiden sollte, egal ob nach schwedischem Vorbild oder nach altem deutschen Muster oder mit einem sozialen Jahr für junge Frauen wie Männer. Und natürlich muss die Finanzierung für mehr Soldaten und die Aufrüstung zu Land, See und in der Luft gesichert sein, sei es über eine Lockerung der Schuldenbremse oder über Umschichtung im Etat oder, was vermutlich nötig sein wird, über beides.
Nimmt man den Ernst der Lage so ernst, wie es die kleinen Länder vormachen, dann haftet unseren Diskussionen über die Schuldenbremse, das Bürgergeld, die Gender-Politik etc. etwas Unernstes an. Die Regierung ist im Übermaß mit sich selber beschäftigt, weil sie bessere Einsichten, siehe Zeitenwende, nicht angemessen beherzigt. Die Ausnahme bleibt Boris Pistorius und er findet damit Anerkennung, wie die Umfragen zeigen.
Gerade jährte sich das Ende des Zweiten Weltkrieges. Nie wieder Krieg sollte auch heißen, dass Deutschland fortan friedfertig bleiben würde. Nun ist die Welt unfriedlich und Deutschland sollte sich rasch darauf einstellen.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.