Seine beste Zeit ist vorbei

Zumindest kennen wir jetzt die Prioritäten, die der Bundeskanzler setzt. Er will das Land zusammenhalten und für wirtschaftliches Wachstum sorgen. Das sind ehrenwerte Ziele, keine Frage. Jedem Bundeskanzler in der nunmehr 75jährigen Geschichte der Bundesrepublik standen diese beiden fundamentalen Aufgaben vor Augen und erstaunlicherweise haben die meisten von ihnen mehr richtig als falsch gemacht.

Das Problem mit den Einlassungen des Bundeskanzlers, im Ton der Selbstverständlichkeit vorgetragen, besteht darin, dass sie den umfassenden Problemen der Jetzt-Zeit nicht gerecht werden. Deshalb ist er dabei, mehr falsch als richtig zu machen. Die Diskrepanz erschließt sich aus einem Interview-Satz im „Stern“ über den Haushalt 2025: Jetzt beginne der „übliche mühsame Prozess, Wünsche und Wirklichkeit in Einklang miteinander zu bringen“.

Üblicher Prozess? In diesen unüblichen Zeiten sehnt man sich ja geradezu nach mehr Üblichkeit, mehr Normalität. Nur sollte nicht ausgerechnet der Bundeskanzler dem Wunsch nach langweiliger Wirklichkeit nachgeben. Es mag ja unter bestimmten Umständen eine Stärke sein, die Ruhe zu bewahren, aber  es ist eine Schwäche, so zu tun, als ob alles gar nicht so schlimm ist, wie es uns da draußen im Lande vorkommt.

Olaf Scholz war mal Finanzminister und auch als Kanzler ist er es geblieben. Deshalb stellt er sich auf die Seite des amtierenden Finanzministers Christian Lindner und fordert seine Minister dazu auf, ihrer Verantwortung für den ausgeglichenen Haushalt nachzukommen.

Wenn Historiker irgendwann mal fragen, wann eigentlich diese Bundesregierung gescheitert ist, dann werden sie den 21. November 2023 heranziehen, den Tag, als das Bundesverfassungsgericht urteilte, dass Notfallkredite wie zum Beispiel 60 Milliarden Euro aus der Pandemie nicht umgewidmet werden dürfen.

Seither kann die Regierung, kann der Kanzler nicht mehr auf Sondervermögen ausweichen und muss folglich Prioritäten setzen. An ihnen wird er gemessen. Und die Messung sieht nicht gut aus.

Ökologische Transformation? War gestern. Ist schwierig. Ist gesegnet mit Pfusch am Bau. Gerade hat das Bundesverwaltungsgericht der Regierung vorgehalten, dass ihr Klimaschutzgesetz auf  „me­tho­di­schen Män­geln“ und „teil­wei­se auf un­rea­lis­ti­schen An­nah­men“ beruhe. Ziemlich peinlich, wenn einer Koalition zum wiederholten Male Dilettantismus bescheinigt wird, oder?

Dann hat ja mal jemand eindrucksvoll von einer Zeitwende gesprochen. Richtig, das war Olaf Scholz. Wie es aussieht, soll sich die Bundeswehr aber mit den 100 Milliarden Euro zufrieden geben, die er in seinem Großmut versprochen hat. Mehr ist nicht drin. Die sechs bis sieben Milliarden Euro, die der Verteidigungsminister für 2025 zusätzlich beansprucht, bekommt er nicht.

Richtig, Boris Pistorius ist ebenfalls Mitglied der SPD, aber was soll’s. Vom Kanzler hat er nichts zu erwarten. Die Schuldenbremse bleibt Tabu. Soll er schauen, wo er bleibt, der Boris. Und ansonsten gilt auch für ihn der Befehl aus dem Kanzleramt: Sparen nicht  vergessen!

Vor ein paar Tagen besuchte der Bundeskanzler das Vorauskommando der deutschen Brigade in Litauen, die in drei Jahren kampfbereit sein soll und dann die Nato-Ostflanke schützen muss. Der einzige Konstruktionsfehler daran ist die bilaterale Übereinkunft mit Litauen. Sinnvoller wäre es gewesen, daraus ein Projekt der Nato zu machen, zum Beispiel nach dem Vorbild des multinationalen Kampfverbandes in Stettin, den übrigens ein deutscher Drei-Sterne-General führt.

Die baltischen Staaten rüsten konsequent auf wie auch Polen oder Finnland. Für sie ist die Gefahr real, dass Wladimir Putin oder seine Nachfolger die Reconquista fortsetzen werden, die sie in Georgien 2008 und in der Ukraine seit 2014 betreiben. Zwischendurch konnte man denken, Deutschland stelle sich ebenfalls entschieden auf das Undenkbare ein, weil es denkbar geworden ist. Denkste, tut es nicht.

Die Zeit mag sich gewendet habe, Olaf Scholz aber scheint es vergessen zu haben. Deutschland werde keine Wehrpflichtarmee bekommen, sagte er vor wenigen Tagen ultimativ, als er nach und nach allerlei Sinnvolles für sinnlos erklärte.

Ja, was dringt denn in diesen Panzer aus Stoizismus und Selbstgerechtigkeit vor? Oder schüttelt Scholz einfach ab, was ihn in Unsicherheit stürzen könnte? Er will ja Kanzler bleiben, auch nach der nächsten Bundestagswahl, hat er vor einigen Tagen gesagt. Ernsthaft? Aber doch nicht in der Erscheinungsform, in der wir ihn kennen, oder?

Ich finde es seltsam, dass Olaf Scholz nicht auf die Idee kommt, dass entschlossene Führung, zu der auch die Vorbereitung auf den militärischen Ernstfall gehört, im Wahlvolk gut ankommt und der Rechten das Wasser abgraben könnte. Das Immer-weiter-so im Ausbau des Wohlfahrtsstaates genügt eben nicht in dieser Zeitenwende. Das könnte Olaf Scholz von seinem Vorgänger Helmut Kohl lernen. Und an Gerhard Schröder ließe sich studieren, à propos Agenda 2010, dass dem Land gut tut, was die SPD für unsozialdemokratisch hält.

Auf der Strecke bleibt Boris Pistorius, der eine kriegstüchtige Bundeswehr aufbauen will. Ohne Unterstützung des Bundeskanzlers kann das Vorhaben nicht gelingen. Olaf Scholz hat ihn aber wie nebenbei ins Leere laufen lassen. Nicht mehr Geld. Keine Debatte über Wehrpflicht. Hab dich nicht so, Boris.

Die beste Zeit für den Verteidigungsminister ist vorbei. Was tun? Wenn er sich dem Kanzler fügen sollte, bleibt Deutschland ohne Streitkräfte, die den Namen verdienen und er persönlich verliert an Popularität. Tritt er aber zurück, bringt er die ganze Regierung ins Wanken. Keine leichte Entscheidung.

Und wieso geht der Kanzler das Risiko ein, dass Pistorius den Bettel hinschmeißt? Weil er denkt, der Boris macht das ja doch nicht. Wenn er sich da nicht mal irrt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.