75 Jahre alt ist das demokratische Land, in dem wir leben. Glückwunsch! Zu Recht wird ein paar Tage lang gefeiert, denn hinter uns liegt ja einiges. Die Teilung in zwei Deutschlands und der Kalte Krieg. Die RAF und der NSU. Die Liste der Gefährdungen ist lange und könnte beliebig fortgesetzt werden. Aber da Deutschland im Wesentlichen Glück mit seinen Kanzlern hatte, ist die Geschichte seit 1949 im Rückblick eine Erfolgsgeschichte.
Nicht zufällig reiste Emmanuel Macron an. Die Versöhnung mit Frankreich war die Grundlage für das Ende des Revanchismus und die deutsche Westbindung. Dabei legten die französischen Präsidenten immer Wert darauf, in Europa politisch den Ton vorzugeben, auch wenn Deutschland ökonomisch stärker da stand. Momentan könnte der charakterliche Gegensatz zwischen Präsident und Bundeskanzler nicht größer sein: hier das Feuerwerk, dort das laue Lüftchen; hier der Springteufel mit stets neuen Ideen und Thesen, dort der halblaute Pragmatiker.
Wenn ein Land sich selber feiert, blitzen Stolz und Selbstgefälligkeit durch, was sonst. Zugleich liegt diesmal aber auch Beklommenheit in der Luft. Können wir auf Kontinuität der liberalen Demokratie bauen, die dem Land gut getan hat? Sie setzte sich ja erst seit den 1970er Jahren durch und hat die beste Zeit hinter sich, kein Zweifel. Denn es ist nicht zu übersehen, wie sich die Verächter des politischen, sozialen und kulturellen Fortschritts vermehren. Es sind nun wahrlich nicht nur Verlierer der Moderne, sondern auch Gewinner, die in ihren Clubs und Zirkeln über das Land herziehen, dem sie ihren Wohlstand verdanken.
Kein Zweifel, der Zeitgeist denkt und steht rechts. Die Rechte hat das Momentum, wie man so schön sagt. Anders gesagt liefern sich Liberalismus und Autoritarismus die zentrale Auseinandersetzung weltweit. Liberale glauben an demokratische Werte. Autoritäre Populisten hingegen wie Narendra Modi oder Viktor Orban oder Recep Tayyip Erdogan, dazu Diktatoren wie Wladimir Putin und Xi Jinping halten absolut nichts von Rücksicht auf Minderheiten, wenn sie nicht rundheraus darauf spucken.
In gewisser Hinsicht ist die liberale Demokratie ein Opfer ihres Erfolgs. Mehr und mehr lernte sie es zu respektieren, dass Menschen ihre eigene Wahl treffen, wie sie sein und wie sie leben wollen. Liberalismus gibt nicht vor zu wissen, was richtig und falsch für seine Bürger ist und begnügt sich mit neutralen Regeln. Weltanschauung ist eine private Wahl und entsprechend gibt es diverse Weltanschauungen in dieser hochdifferenzierten Gesellschaft, die dazu noch sozial auseinander driftet.
Liberale Demokratien haben aber auch blinde Flecken. Sie geben keine Antworten auf ein paar Fragen nach Sinn und Zweck, die Menschen eben auch bewegen. Denn etliche Institutionen, die Halt und Integration boten, sind im Lauf der liberalen Erfolgsgeschichte erodiert: von der Kirche über Gewerkschaften und Parteiorganisationen zu großen und kleinen Vereinen, in denen sich Menschen trafen, miteinander redeten und stritten, aber immer auch einen festen Ort zu einer festen Zeit fanden. Ein berühmtes Buch, das den Prozess der Vereinzelung in Amerika schildert, wo ja früher anfängt, was dann auf Europa durchschlägt, trägt den Titel: „Bowling Alone. Collapse and Revival of American Community.“
Kegeln war mal ein gemeinschaftsbildender Volkssport, lang ist’s her, wobei Kegeln in diesem Standardwerk nur symbolisch gemeint ist für viele Vorgänge der Vereinzelung, die sich in allen gesellschaftlichen Schichten auswirken.
Autoritäre Figuren wie Donald Trump oder Populisten wie Giorgia Meloni, Marine LePen oder Alice Weidel machen die liberale Demokratie für alles verantwortlich, was im Land und in der Welt schief läuft. Sie nähren die Illusion, dass es möglich ist, das Verlorene zurückzuholen – das Land, eingebunden in den Welthandel und internationalen Organisationen wie EU und Nato, natürlich auch die konstitutive Familie aus Mann und Frau, dazu die Flagge und die stolze Geschichte der Nation, die sich nicht auf Irak oder Mussolini, auf Vichy oder Hitler reduzieren lässt – auf Fliegenschisse der Geschichte, wie es Alexander Gauland idealtypisch für die Rechte formulierte, die das Vietnam-Memorial in Washington genauso wie das Holocaust-Denkmal in Berlin für einen Gedenk-Ort nationaler Schande hält.
Die liberale Demokratie erlebt eine rechte Gegenrevolution. Ihre Anhänger fühlen sich verloren, abgehängt und missachtet. Die Rechte gibt ihnen, was sie vermissen: Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Bedeutung. Was die Rechte unter Politik versteht, macht aus der prosaischen Kompromissbildung einen Kreuzzug gegen alles, was liberal, modern und progressiv anmutet.
Autokraten wie Orban und Populisten wie Meloni oder Weidel oder Gauland oder Björn Höcke füllen einerseits die Leerstelle der liberalen Demokratie mit Althergebrachtem und ziehen andererseits die Mittelschicht an, die unzufrieden mit den deutschen Verhältnissen sind. Die Gegenrevolution regiert in Italien und vielleicht auch bald in Frankreich. Und Deutschland?
Die Selbstfeier der liberalen Demokratie am 75. Geburtstag dürfte nahtlos in Katzenjammer übergehen, wenn Europa in zwei Wochen gewählt hat. Dann bleiben noch wenige Monate bis zur Klärung der wirklichen Verhältnisse bei den drei ostdeutschen Wahlen im September. Und zur Gegenwehr gegen die Gegenrevolution.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.