Meine Mutter

In diesen Tagen wäre meine Mutter 100 Jahre alt geworden. Sie war eine klassische Nachkriegsmutter, die immer Frieden stiften wollte und für die das Telefon eine segensreiche Erfindung war. So blieb sie mit allen in Kontakt, an denen ihr lag. So konnte sie umsichtig Neuigkeiten und einschneidende Ereignisse bereden und verteilen. Manchmal schrieb sie auch Briefe in einer makellos schönen Schrift, in Sütterlin geübt. Mein Sohn Vincent hat ihren Schreibstil geerbt. Das gefällt mir, denn meine Mutter mochte ihren Enkel sehr.

Meine Mutter hatte ein bewegtes Gemüt. Sie war kultiviert, aber auch jähzornig. Irgendwann, als ich längst erwachsen war, entschuldigte sie sich für die Prügel mit dem Teppichklopfer, die sie mir angedeihen ließ. Sie sagte, sie hätte es nicht besser gewußt. War wohl so, aber Kinder im Zorn zu schlagen, sollte auch für diese Generation verboten gewesen sein, das wäre das Mindeste.

Was mir an ihr imponierte, war diese Klarheit und Schnörkellosigkeit, wenn es ernst wurde. Ich kam mal in Finanznot, weil die Kreditrate für mein Haus nach Ablauf der Zinsfrist fast verdoppelt wurde. Ich rief an und weinte aus Demütigung, weil ich auf Hilfe angewiesen war. Meine Eltern berieten kurz und halfen mir dann anderthalb Jahre aus. Sie sagten, aus Gerechtigkeit müssten sie meinem Bruder ebenso viel Geld zukommen lassen. Das Prinzip Gerechtigkeit habe ich übernommen.

Kinder, egal welchen Alters, können sich ihre Eltern nicht als Menschen vorstellen, die sie waren, bevor sie Eltern wurden. Ich kenne Fragmente aus den Leben meiner Eltern. Der Bauernsohn aus Lichtenberg, der nur mittlere Reife ablegen kann, weil das Geld für das Gymnasium fehlt. Mit 18 fährt er auf dem Motorrad nach Schweden. Was wäre aus ihm geworden, wenn er dort geblieben wäre, anstatt nach Hause zu fahren, eingezogen zu werden, als Soldat in Frankreich und dann in Russland zu kämpfen, verwundet und amputiert zu werden?

Meine Mutter war Tochter aus bürgerlicher Familie. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine kleine Fabrik und Geschäfte in Kusel, eine großzügige Wohnung, Pferde, Klavierunterricht. Damit war es 1918 vorbei, weil die Familie Harth Kriegsanleihen gezeichnet hatte. Zwei der Unglücklichen begingen daraufhin Selbstmord. Von der Zwischenzeit, bis sie meinen Vater kennenlernte, hat sie nur bruchstückhaft erzählt. Jahrgang 1924, Mittlere Reife 1940. BdM, kein Entkommen. Zu jung, um zu verstehen, was da in Deutschland passierte. Ich erinnere mich an eine Bemerkung meines Vaters, dass da ein Leutnant gewesen sei, den die jugendliche Luise Karoline Elisabeth Harth geliebt haben soll. Ob er sie verließ, ob er „fiel“ (was für ein lächerlich beschwichtigender Ausdruck: als sei er hingefallen), ob der Leutnant im Krieg das Schreiben einstellte, aus Gründen, die sie nicht kannte: Ich weiß es nicht. Zwei ihrer drei Brüder kamen im Krieg ums Leben. War sie verzweifelt oder taub, weil so viele starben? Raubten ihr der Krieg Mut und Energie? Kein fröhlicher Mensch, aber zur Fröhlichkeit fähig. Die Klarheit, wenn es darauf ankam, kam aus dem Lebensernst, den sie in sich trug.

Eigentlich ist es absurd, dass ich als Journalist mich so wenig für die Zeit meiner Eltern vor der Zeit, als sie Eltern waren, interessiert habe. Heute empfinde ich diese Ignoranz als Makel. Warum habe ich nicht ausführliche Fragen gestellt? Was hat mich daran gehindert? Ich glaube schon, dass sie mir beide geantwortet hätten, warum denn auch nicht? Von sich aus über das Schwere zu reden und uns damit zu belasten, kamen ihnen nicht in den Sinn. Über die Großeltern meiner Frau habe ich ein Buch geschrieben. Als Kronzeuge diente mein Schwiegervater, den ich nach Strich und Faden ausgequetscht habe. Anfangs antwortete er zögernd. Ein gewisses Unbehagen an der Erinnerung war ja auch verständlich. Aber dann kam er in Fahrt. Es bereitete ihm allmählich sogar Vergnügen, im Gedächtnis zu graben. Seine Eltern waren bemerkenswerte Menschen gewesen und er glieicht seinem Vater. Er lieferte die Fakten und ich schrieb einen historischen Roman über Grete und Artur.

Die Brüche im Leben meiner Eltern hätten natürlich auch einen Roman ergeben. Mein Vater ist 19, als sein erstes Leben endet. Sein zweites Leben beginnt nach dem 3. Februar 1942, als er bei Charkow angeschossen wird. Wundbrand. Amputation beider Beine unterhalb der Knie. Lazarett in Franzensbad. Als die Stümpfe verheilt sind, Anpassung der Prothesen. Am 2. September 1944 Heirat mit Carola, wie der Rufname meiner Mutter lautete. Hans und Carola Spörl. Carola ist noch 20, als mein Bruder am 12. März 1945 geboren wird.

Sie hätten sich ja kaum gekannt, erzählte mir meine Mutter, als mein Vater 2008 gestorben war. Sie hätte großes Mitleid mit ihm gehabt. Er sei jemand gewesen, auf den sie sich hätte verlassen können. 1945 ging es weniger um Romantik und mehr ums Überleben. Das Baby wollte durchgebracht werden, was schwer genug war. Sie lebten in einer heruntergekommenen Villa, in der sie mit Adeligen einquartiert worden waren. Die Verachtung meines Vaters für die Aristokratie geht auf diese Erfahrung im ungewollten Zusammenleben zurück. Endlich bekam die junge Familie eine eigene Wohnung zugewiesen. Hügelstraße 16. Drei Zimmer, Küche, Bad. Toilette auf der halben Treppe. Der Vater meiner Mutter lebte kurze Zeit bei ihnen. Die Mutter meiner Mutter war gerade jung gestorben. Mit 58. Das Herz. Ihr Vater blieb nicht lange allein, was sie ihm nie verzieh. Er zog mit einer Frau zusammen, die auch noch katholisch war, was für stolze Protestanten eine Zumutung war, zumal diese Frau auch noch fromm war, also bigott.

Was hat der Tod ihrer Mutter für meine Mutter bedeutet? Wie schlug ihr die Entfremdung vom Vater aufs Gemüt? Auch der Vater meines Vaters war früh gestorben, 1953. War wohl ein harter Mann. Bauer tagsüber, abends Gastwirt. Zähes Leben. Nicht arm, nicht reich. Angesehen in Lichtenberg, das auf jeden Fall.

In einem der seltenen Gesprächen mit meiner Mutter über die letzten Kriegstage erzählte sie über ihre Schreckenseindrücke, die sie nie verlassen hätten: Junge Deserteure, die von Laternen hingen, Kinder noch, 16 oder 17 Jahre alt. Die SS, die bis zuletzt wütete und Menschen erschoss, die nahe liegende Bemerkungen über den Führer machten, der sich durch Selbstmord davon gemacht hatte und schnell noch Nero-Befehle ausgab, die seine Schergen ausführten, bevor sie ihre Uniform verbrannten und behaupteten, sie seien Verführte gewesen, Opfer Hitlers, keinesfalls Täter.

Meine Mutter sagte auch, dass sie wie taub gewesen sei, als der Krieg endlich vorbei war. Taub und angsterfüllt, was die Alliierten jetzt mit ihnen machen würde, mit Deutschland. Die Zukunftsangst muss ungeheuer gewesen sein. Die Angst vor Vergewaltigung, vor Vergeltung, vor Rache, vor Hunger, vor Not, vor dem Tod nach dem Krieg, der sie im Krieg verschont hatte. Die Sorge, das Baby würde nicht überleben.

Zum Glück gab es ja die Schwiegereltern auf dem Land. Wer familiäre Verbindungen dorthin besaß, hatte Chancen zu überleben. Bis tief in die 1950er Jahre fuhren meine Eltern an jedem Wochenende die 30 Kilometer von Hof nach Lichtenberg und halfen der Mutter meines Vaters im Gasthaus. Auch sie war eine harte Frau. Zwei Söhne hatte sie geboren. Mein Vater war der ältere. Der Lieblingssohn war Paul, der jüngere. Als er „fiel“ oder vermisst war und mein Vater doppelbeinamputiert überlebte hatte, sagte sie zu ihm: „Das ist die Sündenschuld“. Meine Mutter erzählte mir diese Geschichte. Ich habe nie gefragt, was seine Mutter damit gemeint hatte, mit dieser Sündenschuld. Worauf spielte sie an? Gab es da einen Vorfall? Machte sie den großen Bruder für den Tod des kleinen Bruders verantwortlich? Oder war sie nur gemein und böse?

Mir wird noch immer komisch zumute, wenn ich mir diesen Satz ins Gedächtnis rufe: „Das ist die Sündenschuld.“ Vielleicht ist er vor diesen verständnislosen Eltern 1938 nach Schweden geflohen. Wollte weg, weit weg. Hätte er eine blonde Schwedin getroffen, sich ins sie verliebt und sie sich in ihn, wäre er womöglich geblieben. Soviel wäre ihm erspart geblieben. Der Krieg. Die Amputation. Der Satz seiner Mutter. Was hat er in ihm ausgelöst? Warum hat er sich nicht umgedreht und ist gegangen?

Die richtigen Fragen fallen mir zu spät ein. Nur ein Tagebuch habe ich, das der junge Soldat Hans Spörl in Frankreich geführt hat. Von Krieg ist nicht die Rede. Oft ist er ins Bordell gegangen, das war so vorgesehen für diese 19, 20jährigen. Die Wehrmacht förderte es. Unbeschwerte Zeilen, ein junger Mensch schrieb sie, bevor er im Juni 1941 an die Ostfront versetzt wurde. Bevor er Wundbrand erlitt. Bevor er im Lazarett darauf warten musste, bis diese Stümpfe für die Prothesen bereit waren. Bevor diese grausame Mutter diesen furchtbaren Satz ausstieß.