Der 10. Mai ist für mich ein bedeutungsreicher Tag. An einem 10. Mai bekam ich eine Bronchoskopie, was damals, vor genau 56 Jahren, eine ziemlich viehische Angelegenheit war.
Der Ort hieß Kutzenberg und war eine Lungenheilanstalt, wie der korrekte Name lautete, und lag am Rande der Fränkischen Schweiz. Mich hatte eine Tuberkulose niedergestreckt, ich war seit dem 15. März 1968 hier.
Als ich am ersten Morgen bei strömenden Regen und wolkenverhangenem Himmel aufwachte, nahm ich das als das denkbar schlechteste Omen an. An diesem Tag, dem 16. März 1968, wurde ich 18 Jahre alt. Vom Führerschein hatte ich geträumt, die ersten Fahrstunden schon absolviert. Endlich würde ich unabhängig sein von meinem Vater und Bruder und Freunden, die mich großzügig nach Haidt gefahren oder von dort abgeholt hatten. Jedesmal musste ich fragen oder betteln, nicht sehr erhebend. Von da an wollte ich selber Ellen, meine schöne Freundin, abholen und nach Hause fahren. Mein Vater hatte mir einen billigen Gebrauchtwagen versprochen.
Nix da. Alles anders. Kein Glückstag, sondern eine größere Anzahl an Pechtagen. An einem Morgen war ich daheim im Bad einfach umgekippt. Mein Vater fand mich zusammengekrümmt und rief seinen Briefmarkenfreund an, der im Zivilstand Röntgenfacharzt war. Es stellte sich heraus, dass ich Tuberkulose hatte. Zwei Wochen blieb ich zu Hause; Schule fiel für mich aus. Mein Frühstück begann mit einem Schluck Sekt, damit der zusammengebrochene Kreislauf einigermaßen in Schwung kam. Dann endlich war ein Bett in Kutzenberg frei.
Tuberkulose hieß in Kutzenberg Motten, weil sich die Tuberkelbazillen auch so in die Lungen fraßen wie Motten in Pullover. Sie brachten den Koch und den Seemann um, mit denen ich mich angefreundet hatte. Ich war 18 und nicht daran gewohnt, dass gar nicht so alte Menschen um mich herum starben. Ich war eher fassungslos als verzweifelt. Ich wollte nur weg von hier, so schnell wie möglich.
Am 10. Mai 1968 stand eine Bronchoskopie an, morgens um 9 Uhr. Der Operateur sagte zu meinen Eltern, er wollte mal in die Lunge hineinschauen, die möglicherweise um einen Teil gekürzt werden musste, um mich zu heilen. Mir sagten weder der Arzt noch meine Eltern etwas über den Zweck der Untersuchung.
Mein Problem war die Hiluswurzeldrüse am Eingang zur Lunge. Sie war geplatzt und käseartige Stücke in die Lunge gelangt. Sie mussten dort wieder heraus. Die Bronchoskopie diente als Vorstufe zur Operation. Daran war der Seemann gestorben und der Koch war nicht aus der Anästhesie erwacht.
Ich hatte Angst. Ich wusste auch ohne Offenbarung durch Ärzte oder Eltern, was auf dem Spiel stand. Sehr früh am Morgen der Operation bekam ich eine Leck-mich-am-Arsch-Spritze zu meiner Beruhigung. In Kutzenberg ging es weniger elaboriert zu als auf dem Zauberberg.
Und dann geschah das Wunder. Die Bronchoskopie holte aus der Lunge heraus, was dort fehl am Platze war. Keine Operation. Kein Schnippeln an der Lunge. Kein Sterben.
Und deshalb ist der 10. Mai für mich ein Glücksgedenktag.
p.s. Über die geographische Zuordnung von Kutzenberg entspann sich ein kleiner, freundschaftlicher Meinungsaustausch. In einer ersten Fassung hatte ich groteskerweise die Lungenheilanstalt in die Sächsische Schweiz versetzt. Den Irrtum bemerkte mein Klassenkamerad Reinhard Lang (wir haben vor exakt 55 Jahren Abitur gemacht) und machte mich in einer Mail sanft darauf aufmerksam, dass Kutzenberg in der Fränkischen Schweiz liege. Bei einem Telefonat mit Ellen, meiner schönen Jugendfreundin, die ein Fels in dieser Krankheitszeit war, korrigierte sie wiederum diese Zuordnung und amüsierte sich königinnenlich darüber. Daraufhin schlug ich die Geschichte Kutzenberg nach und weiß nun mehr, als ich je wissen wollte. Gemeindeteil des oberfränkischen Marktes Ebensfeld im Landkreis Staffelstein. Lage 70 Meter oberhalb der Mainaue. 1139 erstmals erwähnt in einer Schenkung an das Kloster Banz, einer Benediktinerabtei nördlich Bambergs. 1801 gibt es dort einen Hof mit zwei Häusern, zwei Stadeln, einem Schafhaus und Nebengebäuden, die zum Besitz des Bamberger Fürstbischofs gehörten. 1871: 18 Einwohner und 9 Gebäude. 1904 erwirbt die Kreisgemeinde den Gutshof, um dort eine zweite Kreisirrenanstalt (so hieß es eben damals) einzurichten. Dort sollen dann 600 Patienten in Pavillons leben. 1925: 656 Einwohner in 28 Wohngebäuden. 1940/41 werden 446 Patienten nach Hartheim bei Linz deportiert und umgebracht. Nach dem Krieg wird der Schwerpunkt auf die Behandlung der Tuberkulose gelegt. 1955: 600 Patienten und 260 Ärzte, Krankenschwestern etc. in der Klinik. Ab 1960 neue Bettenhäuser. In einem kam ich vom 15. März bis zum 23. August 1968 unter.
Kutzenberg, das hat Ellen klar gestellt, liegt im Obermainland und die Lungenheilstätte heißt heute auch Bezirksklinikum Obermain. Ich habe mich mit mir selber darauf geeinigt, dass mein Kutzenberg am Rande der Fränkischen Schweiz zu finden war.