Da war dieser weiße Ford Bronco, der gar nicht mal schnell quer durch Beverley Hills fuhr. Das Fernsehen übertrug live, wie die Polizeiwagen ihm folgten, als wären sie ein Geleitzug. Es hätte sich auch um ein Begräbnis handeln können, bei dem eben der Konvoi dem Sarg folgt und sich jede Menge Schaulustige anhängen.
Der Mann im Auto war in Amerika berühmt, sie nannten ihn nur OJ. Er war ein herausragender Footballspieler gewesen, der nach der Karriere in Film und Fernsehen auftrat. Er lebte von seinem Ruhm, er zehrte von seinem Ruhm, er war der Gute, er konnte doch kein Mörder sein, oder doch?
Amerika kann schrecklich sein. O.J. Simpsons Fahrt in die Verhaftung wegen Mordes bediente den erbärmlichen Voyeurismus weit vor Erfindung der sozialen Medien. Nicht erst das Netz hat diese zügellose Neugier erfunden, die sich am Entsetzlichen weidet. Den obszönen Drang zu sehen, ob es in Los Angeles zu einem Shootout kommt oder wenigstens zu einem tödlichen Auto-Unfall, gab es weit vor dem Internet. Der Fall O.J. Simpson ist der ultimative Beleg für den kulturellen Dammbruch, bei dem Amerika der Welt voranging.
Bis zu diesem 17. Juni 1994 war O. J. Simpsons Leben ein Märchen gewesen. Aufgewachsen mit der alleinerziehenden Mutter. Kränkliches Kind. Dann Mitglied einer Straßengang, die sich „Persian Warriors“ nannte, toller Name. Der Football als Retter vor dem Verderben, das im Gefängnis hätte enden können, schon damals.
In Amerika lieben sie diese Lebensgeschichten, in denen farbige Jungs im Sport zu Millionären aufsteigen. O.J. war Running Back gewesen, das sind die Brecher, die den Football vom Spielmacher bekommen und sich durch die gegnerischen Linien zum Touchdown durchschlagen. Jeder Spielzug löst ein kleines Drama aus – gelingt es ihm oder werfen sie ihn rechtzeitig nieder und wie hart gehen sie mit ihm um?
O.J. war große Klasse. O.J. sah glänzend aus. O.J. war ein Star, blieb ein Star und konnte sich nichts anderes vorstellen, als immer nur ein Star zu sein. Was sollte schon passieren? So einer kam immer davon, so einen kriegten sie nicht, weder die Verfolger auf dem Feld noch die Gegner vor Gericht.
Zwei Menschen waren in Los Angeles vor niedergestochen worden. Nicole Brown Simpson war seine geschiedene Frau, Ronald Goldman ihr Liebhaber. War O. J. Simpson beider Mörder?
Am Prozess nahm ganz Amerika Anteil. Grob gesagt war für Simpson, wer farbig war, und gegen ihn, wer weiß war. So einfach war das damals und ist es noch heute.
In solchen Verfahren geht es um das Drama und um die Deutungshoheit über das Verbrechen. Simpsons Anwalt spielte furios mit den Vorurteilen, die Farbigen aus den Institutionen entgegenschlagen, an deren Spitze Weiße stehen. Der Chefermittler? Johnny Cochran, der Simpson vertrat, machte aus ihm einen Rassisten, der eine Verschwörungstheorie konstruierte, um den feinen, untadeligen O.J. Simpson zu Fall und ins Gefängnis zu bringen.
Eine Schmierenkomödie spielte sich vor Gericht ab, die man seither aus zahllosen US-Serien kennt. Am Ende kam es auf einen blutigen Handschuh an, den Simpson, atemlos beobachtet von den Geschworenen, dem Richter und dem Fernsehpublikum, langsam überstreifte – überzustreifen versuchte, denn siehe, er war ihm zu klein und damit war O.J. Simpson am 3. Oktober 1995 ein freier Mann.
Aber es war noch nicht ganz vorbei. Nach amerikanischen Recht konnten die Hinterbliebenen Simpson vor dem Zivilgericht auf Schmerzensgeld verklagen, was sie auch taten. Ein Gericht in Florida verurteilte O.J. zu 33,5 Millionen Dollar, zahlbar an die Familien der Ermordeten. Davon musste er allerdings in Wahrheit nun eine halbe Million Dollar herausrücken, weil in Amerikas Sonnenstaat Pensionsvermögen und Immobilien nicht zur Begleichung der Strafe herangezogen werden dürfen.
O.J. Simpson war einerseits des Mordes für nicht schuldig befunden worden und andererseits eben doch. Er sollte horrendes Schmerzensgeld zahlen und eben dann wieder nicht. Er kam davon, wie man im amerikanischen Rechtssystem davonkommen kann, wenn man Geld und Ruhm besitzt.
Aber was macht diese Erfahrung mit einem Menschen? Natürlich kommt es auf sein Gemüt an, seinen Charakter. Vor allem aber darauf, ob er der Mörder seiner Ex-Frau war und deren Geliebtem oder nicht. Simpson konnte sich zurückziehen und seinen Ruhm verwalten. Er konnte Gutes tun und seinen Namen rein waschen. Aber er war nun einmal ans Drama gewöhnt und seltsamerweise wollte er mehr davon.
Vielleicht fehlte ihm der reine Ruhm, der ihn wie eine Aura umgeben hatte und nun beschmutzt war. Vielleicht ging ihm das Geld aus, denn Anwälte sind in Amerika unfassbar teuer. Vielleicht umgaben ihn aber auch Einflüsterer, die immer wie Kletten an Menschen wie Simpson hängen. Also schrieb er ein Buch, das nach einigem Hin und Her diesen Titel bekam: „If I did it – Confessions of the Killer“.
Darin stellt sich Simpson vor, wie er sich verhalten hätte, wenn er der Mörder gewesen wäre. Er spielt mit dem Mord an seiner einstigen Frau und dem Kellner, der ihr Liebhaber gewesen war. Er legt ein Geständnis ab, natürlich fiktiv. Er lässt das Grauen sich entfalten, er labt sich am Entsetzen, als ginge es um nichts Wichtiges. Oder legte er tatsächlich ein Geständnis ab, jetzt, da niemand ihm etwas anhaben konnte?
Viele Fragen, zu viele Fragen. Jetzt hatte sogar das unersättliche Amerika genug von Simpsons Dramen. Er war einfach zu weit gegangen.
Ins kollektive Bewusstsein kehrte O.J. Simpson erst im Jahr 2008 zurück –nach einem bewaffneten Überfall in Las Vegas. Gemeinsam mit Komplizen war er in ein Hotelzimmer eingebrochen, in dem zwei Fanartikelsammler abgestiegen waren. Als Begründung gab er an, er hätte eigene Erinnerungsstücke zurückhaben wollen. Vor der Richterin stammelte er: „Ich war so dumm. Es tut mir leid. Ich wollte nicht das Zeug von irgendjemand anderem haben, nur das holen, was mir gehört. Ich wollte niemandem wehtun.“
Tja. O.J. war damals 61 Jahre alt und hätte es nun wirklich besser wissen können. Das Strahlen, das ihm umgeben hatte, war verflogen. Aber wieder kam er davon. Nicht lebenslang, sondern „nur“ 33 Jahre ins Gefängnis sollte er mit der Möglichkeit, nach neun Jahren freigelassen zu werden. So kam es. Seit 2017 war er und blieb er ein freier Mann.
Was für ein seltsames Leben. So viel Drama wie möglich hineingepresst, als ginge es nicht anders. Ein Runningback, der sich im Leben verlief.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.