Es kommt schon mal vor, dass sich Regierungschefs an ihr Volk wenden wollen. Dann können sie ins Fernsehen gehen, einen Podcast aufnehmen oder schlicht eine Pressekonferenz geben, auf der sie sagen, was es zu sagen gibt.
Pedro Sanchez wählte eine Alternative. Obwohl Gewicht hatte, was er mitteilte, schrieb er auf der Platform X eine Art Brief, sehr persönlich gehalten, sehr emotional. Die Spanier staunten über ihren Regierungschef, den sie für kaltherzig und berechnend halten, eben für einen Machtpolitiker, der seit sieben Jahren Ministerpräsident ist und vieles dafür getan hat, es zu bleiben.
Nun aber nahm er sich eine Auszeit und begründete sie so: „Ich brauche dringend eine Antwort auf die Frage, ob ich die Regierung weiter führen oder auf diese Ehre verzichten soll.“ Er sehe sich, schrieb er weiter, als Opfer einer Strategie der Hetze und Zerstörung, die sich jetzt auch gegen seine Familie richte.
Die spanische Politik ist seit der Wahl im Juli 2023 noch übler vergiftet als ohnehin. Zur stärksten Kraft wurde damals die konservative PP, die mit der rechtsnationalen Vox aber keine Mehrheit fand und deshalb waidwund um sich schlägt. Denn Sánchez konnte bleiben, was er war: Ministerpräsident. Dafür bastelte er eine Koalition mit der linken Podemos zusammen. Zur Mehrheit braucht sie vier katalanische Separatisten- und baskische Nationalisten-Parteien. Sehr ungewöhnlich, ein Drahtseilakt, ein seltsames Gebilde.
Spanien ist fast singulär, weil sowohl die sozialdemokratische PSOE als auch die konservative PP über 30 Prozent liegen. Das macht aber auch beide anfällig für maximal schwierige Koalitionen mit kleinen, ideologisch gefestigten Parteien und regionalen Interessen-Gruppierungen.
Dabei ist Spanien im Grunde nicht schlecht dran. Das Wachstum von 2,5 Prozent muss Deutschlands und Frankreichs Neid erwecken. Auch anderswo mangelt es an Produktivität, aber in Spanien haben junge Menschen allenfalls Aussicht auf Zeit-Verträge, weshalb viele von ihnen ins Ausland abwandern. Die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 12 Prozent, besser als in den Jahren zuvor. In der EU und Nato gehört das Land zu den zuverlässigen Mitgliedern.
Erst seit Januar steht die neue Regierung Sánchez. Auch deshalb schlug die Ankündigung, möglicherweise trete Sánchez zurück, wie eine Bombe ein. Großes Rätselraten, große Motivforschung. Was bezweckt er damit? „Es ist ein Chaos“, sagt Pablo Simón, ein Politologe an der Madrider Universität. „Es gab keinen eindeutigen Anlass für diesen Schachzug. Das ist sehr riskant.“
Schon wahr, für Spanien ist dieser Vorgang beispiellos. In Amerika aber baute Donald Trump sogar eine eigene Platform für seine Tiraden auf, als Twitter ihn sperrte. Und rechte Parteien in ganz Europa suchen sich Kommunikationskanäle, auf denen sie ihre Theorien über das Geschehen auf Gottes Erdboden frei flottieren lassen.
Doch Pedro Sánchez ist kein Außenseiter und schon gar nicht rechts. Große Entscheidungen stehen in diesen Tagen an. Seine Regierung ist zum Beispiel geneigt, das Recht der Palästinenser auf einen Staat anzuerkennen; die anderen Europäer werden nicht amüsiert sein. Dazu hat sich Sanchez bereit erklärt, katalanische Separatisten zu amnestieren, die im Jahr 2017 illegal eine Abstimmung über die Abspaltung von der Madrider Zentrale organisiert hatten.
Was Sánchez aus der Bahn warf, sind Vorwürfe gegen seine Frau. Es geht um Behauptungen, die erst im Internet kursierten und dann von der rechten Aktivisten-Gruppe „Saubere Hände“ zur Anzeige gebracht wurden. Ein Madrider Staatsanwalt leitete Ermittlungen gegen Begoña Gomez ein, so heisst Sánchez’ Frau.
Gomez soll in der Pandemie Gefälligkeitsschreiben für Firmen aufgesetzt haben, die um Aufträge im Höhe von 10 Millionen Euros mit 20 Konkurrenten kämpften. Außerdem habe sie mit Air Europa, einer spanischen Fluglinie, eine vertrauliche Vereinbarung getroffen, wonach jährlich 40 000 Euros an eine Privatuniversität, für die sie arbeitet, fließen sollten. Bald darauf erhielt Air Europa 400 Millionen Euro an Pandemie-Hilfe vom Staat – von der Regierung Sánchez.
Die Ermittlungen werden sicherlich noch einige Zeit andauern. Kein Staatsanwalt will sich nachsagen lassen, dass er nicht konsequent geprüft hat, selbst wenn die Anschuldigungen fadenscheinig oder gar konstruiert sind. Vorgeladen sind nun zwei Journalisten, auf die einzelne Behauptungen zurückgehen.
Wahrscheinlich hat das Ehepaar Sánchez/Gómez seit Donnerstag viele Stunden mit Grübeln verbracht. Ist an den Vorwürfen etwas dran? Ist das mehr als eine Schmutzkampagne der rechten Parteien? Den „Sauberen Händen“ hängt Schwefelgeruch an, weil sie zur Rechten gehören. Kann Sánchez einfach ins Amt zurückkehren?
Kann er und will er. Vier Tage lang betrieb er Introspektion, jetzt ist es hohe Zeit, wieder zu regieren. Jetzt geht es darum, ob eine Mehrheit der Spanier und Spanierinnen ihm darin folgen, Separatisten wie Puigdemont laufen zu lassen oder den Palästinensern trotz des 7. Oktober einen Staat zu gewähren. Daran muss sich der Ministerpräsident messen lassen.
Immerhin wissen die Spanier nun, dass ihr Ministerpräsident nicht nur ein Machtakrobat ist, sondern auch ein Herz hat.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.