„So ein Leben ist eine einzige große Anstrengung“

Herlinde Koelbl zählt zu den wenigen deutsche Fotografinnen mit Weltruhm. Berühmt für ihre Langzeitprojekte mit Politikerinnen und Politikern, bekam sie Ausstellungen in Seoul und Sydney, New York und Rotterdam. Diesmal fotografierte sie über 30 Jahre hinweg Angela Merkel. Daraus entstand ein Buch, das auf eigene Weise die Geschichte einer überraschenden Karriere bis ins Kanzleramt erzählt und in Portraits auch den Preis anschaulich macht, den sie dafür zahlte. 

t-online: Frau Koelbl, vor 30 Jahren haben Sie erstmals Angela Merkel fotografiert. Wie kam sie Ihnen damals vor und dachten Sie: Hier steht ein großes Talent?

Koelbl: Natürlich habe ich nicht die Kanzlerin in ihr gesehen. Was ich aber sehen konnte, war ihre Kraft und ihre Eigenwilligkeit. Und sie wirkte auf mich wie jemand, der sich nicht so leicht entmutigen lässt.

Vor 30 Jahren sahen Sie und ich auch anders aus. Altern Politiker schneller und folgenreicher?

Schneller altern sie auf jeden Fall, weil sie herausgehobene Ämter einnehmen und deshalb andauernd ungemein starkem Druck ausgesetzt sind. Sie leben wie im Schaufenster, werden ständig beurteilt, leben unregelmäßig, müssen ihre Macht absichern. Für Frauen gilt außerdem, dass sie nach ihren Frisuren und Kleidern bewertet werden. So ein Leben ist eine einzige große Anstrengung. 

Macht Macht sexy?

Das gilt nur für Männer. Frauen machen Männern eher Angst. 

Sie haben ja auch Gerhard Schröder und Joschka Fischer über die Jahre fotografiert. Formt die Macht Männer anders als Frauen?

Die Männerwelt ist noch immer eine eigene Welt, in der Kumpels miteinander konkurrieren, einander unterstützen, zugleich aber auch abschätzig übereinander reden und sich gegenseitig ausstechen. Hingegen müssen Frauen in der Politik noch immer darauf achten, ernst genommen zu werden. Das ist nicht leicht.

Wo im Kanzleramt fanden die Sitzungen statt und wie lange haben sie gedauert? 

In einem kleinen Sitzungssaal im Kanzleramt, jeweils für 15 Minuten.

Haben Sie immer dieselbe Kamera benutzt? Durften Sie Möbel schieben, Gardinen zuziehen, für künstliches Licht sorgen?

Ich benutzte immer eine Hasselblad 6xl6 Mittelformatkamera, immer das gleiche Objektiv und die gleiche Blitzlampe mit Schirm. So versuchte ich, größtmögliche Objektivität durch Stil und Technik zu erreichen. Ich gab nie Anweisungen, wie sie zu stehen oder sitzen hatte oder wie sie die Hände halten sollte. Mir ging es um die eigene Körpersprache, damit ich die Veränderungen an und in dem Menschen festhalten konnte.

Wie müssen wir uns das vorstellen: Die Kanzlerin kommt rein, begrüßt Sie und sagt: Dann machen Sie mal?

Ich hatte im Kanzleramt jedesmal einen Betreuer, das war Herr Brücher. Er begleitete mich in das Zimmer und stand mir auch Lichtmodell. Dann kam die Kanzlerin und wir wechselten ein paar Worte, für Smalltalk haben wir beide keinen Sinn, und dann begannen wir unser Ritual: ein Kopfportrait sitzend und stehend.

Haben Sie ihr Aufnahmen gezeigt? Wollte Sie die Kontrolle haben?

Wollte sie nicht, sie hat nie gefragt, und ich musste ihr auch nichts vorlegen. Die Aufnahmen sah sie erst im Buch. Das war ungewöhnlich, weil  viele Menschen in Machtpositionen auf Image-Kontrolle außerordentlich bedacht sind.

Auf welchem Foto sieht Angela Merkel so drein, dass Sie sagen: So ist sie? Und wie ist sie, wenn Sie ganz bei sich ist?

Das Foto von 1991 mag ich besonders gern. Da ist sie noch scheu, ungelenk, dabei aber durchaus selbstsicher und sie schaut wirklich in 

Kamen Sie ihr über die Jahre näher?

Na ja, ich will mal so sagen: Sie vertraute mir. Hätte sie mich und meine Arbeit nicht respektiert, wäre es nicht zu den 30 Aufnahmen seit 1991 gekommen. Für die „Spuren der Macht“, die im Jahr 1999 erschienen, hatte ich sie auch interviewt und das war wohl für sie die Grundlage für dieses Projekt.

Eigentlich ist der Fotograf ja der natürliche Feind eines Politikers oder einer Politikerin. Fotos können vernichten, siehe Armin Laschet in Erftstadt. Fotos können genau so gut Aura schaffen. Was ziehen Sie vor?

Ich sehe keinen Sinn darin, Politiker oder Politikerinnen zu manipulieren. Ich will ihnen weder schaden noch nutzen, sie weder stabilisieren noch destabilisieren. Ich halte mit der Kamera fest, wie sie sind und wie sie sich verändern. Darum geht es mir.

Im Normalfall sind Politiker Profis, die ihre Masken aufsetzen. Was machen Sie, damit Sie zum Menschen durchdringen?

Vor vielen Jahre schon habe ich mich mit Verhaltensforschung ausgiebig befasst. Elementar ist die Körpersprache. Körper senden Mitteilungen, die ich wahrnehme. Warten ist wichtig und völlige Konzentration, bis ich etwas sehe, was was mich weiterleitet. Und dann entsteht, wenn es gut gegangen ist, ein Foto, das ich für mich akzeptieren kann.

Ihre Fotos zeigen, was die Macht mit den Menschen macht. Was haben Sie über Angela Merkel oder Gerhard Schröder gelernt?

Es ist schon so, dass in der Handhabung der Macht der wahre Charakter  eines Menschen zutage tritt. Er zeigt sich vor allem im Umgang mit  anderen Menschen, die unter ihnen stehen: Gehen sie respektvoll mit ihnen um oder rücksichtslos? Lieben sie das Gepränge, das mit Macht einher geht, oder bleiben sie eher normal? Stehen sie auf einem Sockel und schauen herab oder nutzen sie ihre Macht nur dann, wenn Wichtiges auf dem Spiel steht?

Sie machen immer Langzeitprojekte – weil es nicht das eine Foto gibt, das die ganze Geschichte über einen Menschen erzählt?

Mir geht es nicht um das eine ultimative Foto, sondern ich will mit meinen Projekten eine Geschichte erzählen. Das ist wie bei einem Musikstück, es gibt einen Auftakt, ein Mittelstück und ein Ende. Und es sind die Gesichter, die uns etwas erzählen.

Als Fotografin haben Sie spät angefangen. Hatten Sie Ihre Begabung übersehen oder waren die Kinder aus dem Gröbsten heraus und Sie konnten durchstarten?

Es begann damit, dass mir vor vielen Jahren ein Freund einen Kodak Tri-X-Film mit hoher Auflösung schenkte, einen seltenen Film, den damals eigentlich nur Journalisten benutzten. Meine Kinder habe ich beim Gummihüpfen fotografiert und dazu habe ich mich mit ihnen ins Gras gesetzt und aus dieser Perspektive ziemlich gute Fotos gemacht. 

Was war Ihr erstes Projekt?

Es hieß „Deutsches Wohnzimmer“. Dazu habe ich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten in ihren Wohnzimmern fotografiert, schon damals ohne Anweisungen, denn sie sollten sich so geben, wie sie eben waren. Für mich war spannend, ob sie sich berührten oder Abstand wahrten, zu wem sich die Kinder stellten und wie die Eltern sich verhielten.

Wie lange dauerte es, bis Sie bekannt wurden?

Ziemlich lange. Im Jahr 1986 machte ich ein Buch über „Feine Leute“. Ich hatte sie bei Opern, bei Festspieleröffnungen und anderen feierlichen bürgerlichen Events über mehrere Jahre hinweg fotografiert. 

Die Wirkung eines Fotos liegt in den Augen des Betrachters. Ist das nicht frustrierend für den Fotografen, dass er die Kontrolle aus der Hand geben muss?

Ich weiß es ja schon vorher, dass es so ist. Wenn nach vier oder fünf Jahren ein Buch erscheint, führt es ein eigenes Leben. Ich erinnere mich an ein Projekt, bei dem ich nackte Männer fotografiert hatte. Da waren zwei Männer in inniger Umarmung zu sehen und bei der Ausstellung hörte ich einen Mann sagen: Ich verstehe wirklich nicht, was das soll! Ein anderer Mann hörte das und sagte: Für mich ist das der Inbegriff von Liebe. Ganz offensichtlich sind es die Lebenserfahrungen, die Betrachter zu ihrem Urteil führen. Mit mir hat das dann nichts mehr zu tun.

Hatten Sie Vorbilder, als Sie anfingen? Woran haben Sie sich orientiert?

Als ich anfing, hatte ich schon deshalb keine Vorbilder, weil mir die Szene unbekannt war und die Medienwelt fremd. ich habe nicht groß überlegt, sondern einfach begonnen und bin meinen eigenen Weg genommen. Leicht war das nicht. 

Ist Fotografieren eigentlich ein einsames Geschäft?

Ja und nein. Nein, weil ich Menschen fotografiere und ihnen begegne. Das bereichert mich ungemein. Ja, weil man früher  in der Dunkelkammer und heute beim Sichten und Ordnen des Materials notwendigerweise allein mit sich bleibt.

Angela Merkel ist nicht mehr im Amt. Haben Sie schon mit Olaf Scholz ein Projekt vereinbart? Mit Robert Habeck? Interessiert Sie Annalena Baerbock mehr?

Mit keinem der Dreien habe ich ein Langzeitprojekt vereinbart. Das Privileg, 30 Jahre lang eine Frau zu fotografieren, aus der eine Kanzlerin geworden ist, die uns 16 Jahre regiert hat und nun ihren Abschied nimmt, ist einfach nicht zu toppen.

Und wen haben Sie zu Ihrem Leidwesen noch nicht vor die Kamera bekommen?

Ich hätte zu gerne Fidel Castro fotografiert und interviewt. Der Revolutionär, aus dem ein Diktator geworden ist: sehr facettenreich, dieser Mann. Hat sich nicht ergeben, wie schade.

Frau Koelbl, danke für dieses Gespräch. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Von Vätern und Söhnen

Gestern fiel mir ein Buch in die Hände, das „Nachkriegskinder“ heißt, schon vor zehn Jahren erschien und nun neu aufgelegt worden ist. Die Autorin heißt Sabine Bode. Sie ist an Menschen interessiert und erzählt deren Lebensgeschichten. Ohne theoretische Ansätze kommt so ein Buch aber natürlich nicht aus. Die Autorin schreibt schlank von deutscher Kollektivschuld – klassischer Einwand: Wenn alle irgendwie schuldig geworden sind, ist keiner schuldig und muss sich auch nicht so fühlen. Nun leiden aber die von ihr vorgestellten Personen unter der Gewalt, dem Schweigen, den Traumata der Kriegsväter und manchmal auch der Kriegsmütter. Freundliche, nicht schlagende Väter sind die Ausnahmen, aber es gibt sie. Das ist eben so mit den Erfahrungen, auch mit den Kriegserfahrungen, sie schlagen sich individuell nieder und werden individuell weitergegeben.

Die Generation der Kriegskinder ist weit gefasst in diesem Buch. Sie umfasst die Jahrgänge 1945 bis 1960. Was sich dagegen sagen lässt, möchte ich aus meiner eigenen Erfahrung erzählen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob jemand, wie mein Bruder, 1945 geboren wurde, oder, wie ich, fünf Jahre später. Fünf Jahre machten damals eine Welt aus. Zwar gehören wir beide derselben Generation an, haben aber verschiedene Deutschlands in unseren Anfängen erlebt, die uns zwangsläufig unterschiedlich geprägt haben.

Hof, im März 1945. Der Vater. Bauernsohn, mit 19 eingezogen, zuerst Frankreich, nach Russland. Schwer kriegsversehrt, beide Beine amputiert. Bei Kriegsende 25 Jahre alt. Die Mutter: 20 Jahre alt, aus dem Elsaß nach Oberfranken gezogen in eine fremde Welt mit fremdem Zungenschlag. Das Kind, mein Bruder: Kurz vor Kriegsende geboren, ein Krischperl, kaum lebensfähig in dieser Mangelwirtschaft mit beginnendem Schwarzmarkt. Die jungen Eltern einquartiert in einer ramponierten Villa. Was für Anfänge für das Paar, für das Kind. Absolute Unsicherheit, was die Siegermächte mit dem Land nach der bedingungslosen Kapitulation vorhaben, welche Siegermacht sich am Übergang von Franken nach Thüringen festsetzen wird.

Dagegen ich: 1950 geboren. Seit einem Jahr gibt es die Westrepublik, beschützt und determiniert durch die Westalliierten, allen voran den USA. Vier Zimmer in der Lessingstraße 16, Toilette auf der halben Treppe. Vom Schutt geräumte Straßen, Hof ist glimpflich davon gekommen. Der Vater arbeitet bei der Alten Volksfürsorge, wie die Generali ursprünglich hieß, bekommt Versehrtenrente, bald Zuschüsse zu den Autos, die er fährt. 1956 erste Reise nach Italien im VW HO – C 204.

Die ersten Lebensjahre meines Bruders: absolute Unsicherheit. Meine: Sicherheit. Folge bei ihm: Sicherheitsbedürfnis. Bei mir: eher Neugier aufs Neue. Wichtig ist die Familienkonstellation: Er ist der angepasste Sohn, mir bleibt nur die Rolle des Rebellen. Die Mutter schlägt uns mit dem Teppichklopfer, der Vater ist Linkshänder und legt erst einmal in Ruhe die Uhr ab. Später sagen beide, wir wussten es nicht anders und entschuldigen sich. Der Vater ist Sohn rauher Bauern, die Mutter Tochter eines verarmten bürgerlichen Vaters.

Das Schweigen der Väter, von dem das Buch wimmelt: Mein Vater sagte das Nötige, wie schrecklich der Krieg war und verschont uns mit Einzelheiten, wofür ich ihm heute noch dankbar bin. Er nimmt mich kleinen Jungen mit zum Versehrtensport und seither sind mir die vielfältigen Formen der Verstümmelungen geläufig. Will ich mehr wissen? Später ja und bekomme Antworten. Die Mutter erzählt vom Leben in Kusel, Metz und Saarbrücken und von der Flucht ins Landesinnere. Zwei ihrer Brüder sind „gefallen“, der Bruder meines Vaters auch. Die Mutter weint beim Erzählen. Der Vater: gefasst und selbstironisch.

Entscheidend ist, dass ich zum goldenen Jahrgang der Nachkriegsrepublik gehöre. Aufwachsen im geschützten Land, das in internationale Organisationen hineinwächst und lernt, das von den Alliierten auferlegte System aus Marktwirtschaft und Demokratie sich anzuverwandeln. Das Schulgeld fällt weg. Zugang zum Gymnasium über einen Test. Popmusik als eigene Kultur gegen die Erwachsenen. Ungezwungener Sex dank der Pille für die Freundinnen. Bafög bei Studienbeginn. Sorglose Berufswahl nach dem Examen. Stabile, reiche Republik. Und dann auch noch die Wiedervereinigung.

Ich habe meine Eltern in meinen Zwanzigern bestraft: durch Entzug, durch Nichtachtung, Geringschätzung, durch Schweigen. Hat sich dann erschöpft. Irgendwann sah ich ein, dass sich selber vergiftet, wer andere zu seinem Feind erklärt, zum Beispiel die Eltern oder die Geschwister. Studienmaterial fand ich in meiner nächsten Umgebung. Irgendwann wurde mir auch klar, dass dieses Abarbeiten an den Eltern kindlich war und ich war kein Kind mehr. Es ergab sich, dass ich ein Porträt meiner Heimatstadt für die „Zeit“ schreiben sollte, woraus eine Versöhnung mit meiner Herkunft erwuchs: mit der Stadt, aus der ich kam, mit den Eltern, mit der Region.

Das Leben kann ein Drama sein, es kann auch Tragik entfalten, im Wesentlichen aber ist es ein Prozess. Wer stehen bleibt, könnte sich ja auch mal fragen, warum er stehen bleibt. Und wollen wir nicht selber wer sein und damit mehr als das Produkt unserer Eltern?

Königin der Selbstverleugnung

Ich muss gestehen, ich habe Angela Merkel oftmals bewundert. Für ihre Selbstbeherrschung. Für das Aushalten. Von Horst Seehofer. Von Markus Söder. Für das Ertragen. Von Trump, Xi Jinping, Putins Hund.

Wer im Kanzleramt sitzt, hat einen Höllenjob. Niemand fragt danach, wie viele Stunden man geschlafen hat, ob man erkältet ist, Ärger zu Hause hat, oder abends zuvor zu viel getrunken hatte, ob man mürbe ist oder verzweifelt oder einfach mal keine Lust zum Arbeiten aufbringt. Willy Brandt nahm sich melancholische Auszeiten, zog sich in Krankheiten zurück und war ein paar Tage lang nicht sprechbar. Goldene Zeiten waren das damals, als der Medienwahnsinn noch nicht allgegenwärtig war. Heute wären solche kleine Fluchten undenkbar.

Einmal weinte Angela Merkel im Kabinett, als ihr ein Projekt abgeschmettert worden war. Lange her, da war sie Umweltministerin. Vermutlich nahm sie sich damals vor: Nie wieder passiert mir das, nie wieder weine ich vor diesen Männern, die nur darauf warten, dass ich die Nerven verliere. Daraufhin legte sie sich einen inneren Raum zu, in dem sie unerreichbar blieb von den Zumutungen, Schmähungen und Gemeinheiten aus München und anderen Weltregionen. Jeder, der Kanzler werden will, zum Beispiel Olaf Scholz, kann von dieser Einrichtung einer unerreichbaren Schutzzone lernen.

Wer im Kanzleramt sitzt, muss sein Gemüt einhegen, damit es kein Eigenleben führt und im Gesicht ablesbar wird: als schlechte Laune, als innere Abwesenheit, als Energielosigkeit. Macht sich ausgesprochen schlecht auf Fotos. Deshalb ist Ausdruckslosigkeit das Ziel. Nicht das Herz, das zerebrale Nervensystem wird in diesen Sphären gebraucht. Der Verstand muss ein jederzeit verfügbares Instrument sein. Die Utopie ist die Verwandlung  des Menschen in ein roboterähnliches Wesen, aufnahmefähig schon vor dem Aufwachen und konzentrationsstark bis tief in Nacht bei endlosen Konferenzen mit Menschen, die man nicht leiden kann. Selbstverleugnung gehört zu den unerbittlichen Anforderungen des Metiers. Angela Merkel hat es in dieser Disziplin am weitesten unter den Kanzlern gebracht.

Mit meiner partiellen Bewunderung habe ich mir unter meinen Freunden nicht unbedingt Freunde gemacht. Die einen stießen sich nämlich an ihrem Gleichmut und ärgerten sich über ihre Raubzüge am Ideengut der SPD. Die anderen monierten ihre Anwandlungen an Spontanität, die zum ultraschnellen Verzicht auf die Kernenergie führte. Manche unter meinen Freunden entwickelten sich über die Jahre zu Fundis und sahen in dieser Kanzlerin nichts als eine Totalversagerin, einen Irrtum der Geschichte.

Na, ja, gemach Freunde. Interessant an dieser Kanzlerin ist eher die Tugend der Selbstverleugnung. Es hatte durchaus etwas Giftiges, als sie im Jahr 2003 auf dem Parteitag in Leipzig durchblicken ließ, dass auch der Westen Reformen vertrüge, nicht nur der Osten. Die CDU widmete sich damals unter ihrer Führung einem Programm, das den Namen wirklich verdiente; von so viel achtbarer Konsequenz können die Herren Merz/Röttgen/Braun heute nicht mal träumen.

Angela Merkel wollte ursprünglich viel, wollte hoch hinaus, sie war aber wie Ikarus, der der Sonne zu nahe kam. So fing sie 2005 als Kanzlerin an, mit knapper Mehrheit gewählt und somit erheblich unter ihren Möglichkeiten geblieben.

Zu gerne wüsste ich, wer ihr damals die Eigenheiten des Westen nahe brachte. Bloss nicht zu viel wollen, bloß nicht den Bürgern zu viele Reformen abverlangen, sie keinesfalls  mit Politik überfordern. Daran war Helmut Schmidt nach sieben Jahren gescheitert. Weil er die gewünschte Schonhaltung gewährte, hatte hingegen Helmut Kohl 16 Jahre lang regiert. Und weil sie sich Zurückhaltung auferlegte, konnte Angela Merkel den Fluch Gerhard Schröders abschütteln, sie werde nie und nimmer Bundeskanzlerin werden. Ohne die umfassende Arroganz ihres Vorgängers wäre sie vielleicht nicht einmal seine Nachfolgerin geworden. 

Das Spröde, Nüchterne, das durch und durch Pragmatische waren, so gesehen, nichts als Anpassungsleistungen. Sie durfte nicht wollen, was sie sich eigentlich vorgenommen hatte. Anstatt die Macht zu gefährden, übte sie folglich Verzicht auf Eigensinn. 

Was Angela Merkel 2005 einsah, mussten die Grünen 2021 einsehen. Sie schnurrten dank ihrer Zumutungen für die Bürger auf Normalmaß zurück, ganz zu schweigen davon, dass Annalena Baerbock auch nur in die Nähe des Kanzleramtes gekommen wäre. Und Olaf Scholz, der seine Pappenheimer kennt, darf jetzt werden, was nur er sich zugetraut hatte. 

Politik ist ein Lernprozess, was denn sonst. Und wir Journalisten können ungestraft Maximalansprüche an Kanzler stellen, wenn es uns gefällt. An unseren Irrtümern werden wir ja nicht gemessen.

Morgen wird Angela Merkel vom Kanzlerinnensein erlöst. Von sich aus geht sie, keinem ihrer Vorgänger ist das gelungen. Wie man aus ihrer Umgebung hört, fällt ihr der Abschied weniger leicht, als sie gedacht hätte. Ist eigentlich kein Wunder, nach 16 Jahren. Sollte sie ab Donnerstag jammern, werden wir es nicht erfahren, dafür sorgt schon die Diskretion, mit der sie ihr Ego bezähmte. Eine erstaunliche Leistung.

Mögen ihr gute Jahre beschieden sein.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Rote Rosen soll es auf sie regnen

Heute tritt meine Kanzlerin von 16 Jahren ab. Meine Tochter, 21, hat immer nur sie vor Augen gehabt. Meine Söhne, 43 und 40 Jahre alt, kennen Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Ich habe es im Laufe meines Lebens auf sieben Kanzler und eine Kanzlerin gebracht. Schon daran lässt sich ablesen, wie sagenhaft stabil dieses Land politisch gewesen ist und hoffentlich auch bleibt.

An Adenauer erinnere ich mich als uraltem Mann, der aussah wie ein Indianer (muss ich sagen dürfen, sagte damals jeder, Antonia). Ludwig Erhard wohnte um die Ecke in Rottach-Egern, als ich in Bad Wiessee im Internat war; seltsamerweise war ich stolz darauf, meinem Kanzler so nahe zu sein, obwohl ich seiner nie ansichtig wurde. Kurt-Georg Kiesinger sah gut aus, hieß König Silberzunge, war Mitglied der NSDAP gewesen und blieb Kanzler bis zu meinem Abitur. Willy Brandt ist der einzige Kanzler, für den ich auf die Straße ging, damals 1972 in Mainz, wo ich studierte. Die CDU wollte ihn per konstruktivem Misstrauensvotum los werden. Ein Misstrauensvotum, das konstruktiv sein musste, was einfach hieß, dass zuerst der Kanzler im Bundestag abgewählt wird und dann sofort ein anderer an seine Stelle trat. Auch so ein verfassungsmäßiger Sonderweg, der dem Land Stabilität geben sollte. Willy Brandt blieb bekanntlich Kanzler, was mit Bestechung einher ging, aber damals blieb die Hauptsache, dass wir von Rainer Barzel verschont blieben.

Dann Helmut Schmidt: fotogen, telegen, präzise Sprache, präziser Scheitel, überhaupt durch und durch präzise, dazu autoritär. Krisenkanzler: Ölkrise, RAF-Morde. Der beliebteste Kanzler, als er es nicht mehr war. Je älter, desto mehr Kult. Helmut Kohl, das eigentliche Phänomen unter den Kanzlern, sagenhaft unbeliebt jenseits seiner Partei. Große Verdienste: Nato-Doppelbeschluss, Wiedervereinigung. Der einzige Kanzler, der nach dem Ausscheiden aus dem Amt im Mittelpunkt einer Parteispendenaffäre stand und in seiner CDU in Ungnade fiel.

Und dann sie, das Mädchen, die aus dem Osten, die Kanzlerin. 16 Jahre ohne jede Affäre. Große Stärken: Ruhe, Augenmaß, Pragmatismus ohne Ende, krisenstark. Große Schwächen in Normalzeiten und in der Krisenkommunikation. Insoweit Politik aus Kommunikation besteht, hat sie uns unterversorgt. Da war sie wie Helmut Schmidt, der auch keine Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden halten wollte. Die Deutschen wollen nun mal nicht mit zu viel Politik belästigt werden: In dieser Einschätzung waren sich Kohl und Merkel einig – darin waren sich eigentlich alle Kanzler einig. Der Vorbehalt stimmt und stimmt auch wieder nicht. Manchmal muss schon mehr sein als ein Satz wie: Wir schaffen das. Manchmal tut eine längere Rede oder Ansprache ans Volk gut. Wie immer kommt es auf das Timing an.

Ich glaube, Olaf Scholz hat sich einiges von Angela Merkel abgeschaut. Zeit genug hatte er ja, im Kabinett, auf Auslandsreisen. An Sturheit kommt er ihr gleich. An Tonlosigkeit der Sprache auch. Er dürfte uns mit Politik auch nicht überanstrengen. Hoffentlich hat er aber auch gelernt, dass gelegentliche Erklärungen, wieso und weshalb und warum diese oder jene Entscheidung gefallen ist, uns durchaus nicht überfordern.

Heute also Großer Zapfenstreich mit Nina Hagen und Marlene Dietrich neben dem Kirchenlied „Großer Herr, wir loben dich“. Ja, so ist sie, Pfarrerstochter und unkonventionell, Wagner geht ja auch nur schwerlich jenseits von Bayreuth unter freiem Himmel. Wie man hört, fällt ihr der Abschied aus dem Kanzleramt nicht ganz so leicht, wie sie wohl dachte. Das ist in Ordnung. Falls sie jammern sollte, werden wir es nicht hören. Ich nehme an, wir werden überhaupt ziemlich lange ziemlich wenig von ihr hören. So ist sie. Warum sollte sie sich ändern? Selbsttreue muss kein Fehler sein

Und von mir aus kann es ruhig rote Rosen regnen, auf meine Kanzlerin von 16 Jahren.

Nachtrag: Wie es der Zufall will, tritt heute Sebastian Kurz von allen Ämtern zurück. Zufälle können sehr erhellend wirken. Eine tritt ab, einer gibt notgedrungen auf. Eine war 16 Jahre lang da. Einer war vier Jahre da. Die eine ist die Inkarnation einer skandalfreien Kanzlerin. Beim anderen kommt einiges zusammen, sonst würde er nicht aufgeben. Die eine könnte noch alles werden, was sie wollte, will aber nichts mehr werden. Der andere wollte unbedingt ins Kanzleramt zurückkommen, kann es aber nicht. Der einen wird nachgesagt, sie habe keine Überzeugungen, aber sie hat einen Wertekanon. Der andere hat keine Überzeugungen und auch keinen Wertekanon. Die eine nannte man Mutti, weil sie sich sorgt und kümmert. Der andere war das Buberl, weil er jung war und präpotent auftrat. An die eine werden wir uns noch dankbar erinnern. Den anderen werden sie schal im Gedächtnis behalten. Die eine hat sich um ihr Land verdient gemacht. Der andere lässt sein ramponiertes Land wie geplündert zurück. Die eine ist durch Disziplin und Demut an ein selbstbestimmtes Ende gelangt. Der andere ist ein Digitalphänomen, das genau deswegen aufflog. Der einen ist ein Abschied geglückt. Der andere muss gehen, ehe er gegangen wird. Die eine bekommt einen würdigen Abschied. Der andere ist gescheitert und muss sich trollen.

Zwischenruf: Macht mal schön

Zwei Koalitionsverträge, in Berlin und Berlin, Bundesregierung und Senat. Hier haben drei Koalitionspartner sich um das Wesentliche bemüht, dort haben sie ihre jeweiligen Forderungen addiert. Hier ist das Echo respektabel bis kritisch, dort hyperkritisch bis mokant. Hier könnte sich was tun, dort tut sich mit einiger Sicherheit nichts.

Die Ressortverteilung ist interessant. Im Bund überlässt die SPD der FDP das Finanz- und Verkehrsministerium, dazu bekommt Robert Habeck sein Großministerium und die Grünen auch noch die Kultur, die traditionell im Kanzleramt angesiedelt ist. Alles, was auf Zukunft ausgerichtet ist, liegt nicht in der Hand der Kanzlerpartei, seltsam.

In Berlin bekommen die Grünen das Finanzministerium: Ist das klug oder nur schlau und damit eigentlich unklug? Klug ist es jedenfalls, dass die SPD die Stadtentwicklung übernimmt. Gesundheit und Wissenschaft fällt an die Grünen; in Zeiten der Pandemie ein Schlüsselressort; dafür dürfte sich die Spitzenkandidatin Bettina Jarasch interessieren, die brav und lieb wirkt und die Hardcore-Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg gegen sich haben dürfte, ist einfach so. Die Linke bekommt Justiz, viel Vergnügen, wenn es mal wieder um die Rigaer Straße geht.

Hauptstädte werden ziemlich oft ziemlich schlecht regiert. In den Hauptstädten fallen die Gegensätze zwischen den Parteien härter aus als anderswo. Die SPD erträgt Franziska Gipfel mehr, als dass sie sie tragen würde. Die Grünen haben Bettina Jarasch vorgeschoben und werden sie weiterhin schieben. Klaus Lederer ist der Furioso in der Stadt, beliebter als alle anderen, ich weiß eigentlich nicht, warum. Außerdem werden in Berlin die Aktivisten innerhalb und außerhalb des Parlaments dafür sorgen, dass der Senat an den Volksentscheid über die Enteignung erinnert wird. Die Verzögerung durch den Gang durch etliche Institutionen ist endlich.

Die Ampel macht wenigstens ein bisschen Hoffnung. R2G trifft mit seiner Addition des Widersprüchlichen auf die große Wurschtigkeit, die in Berlin herrscht und uns jeden Tag aus dem Checkpoint des „Tagesspiegel“ anspringt. Dann macht mal schön.

Macht mal und macht es gut

Natürlich sind wir Journalisten so, dass wir uns gerne mokieren. Wir werden einfach misstrauisch, wenn Leute, die eine Regierung bilden wollen, nett zueinander sind, sich gegenseitig loben und überhaupt voller guter Vorsätze stecken. Wäre ja auch noch schöner, wenn wir Scholz/Habeck/Lindner auf den Leim gingen, oder?

Na ja, ist ja auch verständlich, wenn wir Journal*istinen den Politiker*innen (um es gendergerecht zu schreiben) nicht über den Weg trauen und aus der gebündelten Erfahrung heraus sagen: Wann macht ihr es genau so wie alle anderen vor euch und redet schlecht übereinander und arbeitet gegeneinander und lasst diese seltsame Diskretion, die uns im Nebel belässt, endlich hinter euch?

Vorschlag zur Güte: Wie wär’s denn, wenn wir ihnen einräumen, dass sie es ernst meinen und möglicherweise eine Zeit lang durchhalten, was sie sich vorgenommen haben? Wäre ja in unser aller Interesse, wenn ein neuer Stil in die Regierung einzöge. Die Demokratie ist seit Jahren ungemein strapaziert worden, von der AfD über Corona-Leugner bis hin zur Unzufriedenheit der Mittelschichten über Inkompetenz und Durcheinander in der Pandemie bis heute. Wäre auch gut für uns Kritikaster, wenn wir eines Besseren belehrt würden und zur Abwechslung mal für denkbar halten müssten, das es anders kommt, als wir in unserer gesammelten Weisheit denken.

Der Machtkampf unter den Grünen, wer Landwirtschaftsminister werden darf, beweist noch nicht das Gegenteil. Ist offen ausgetragen worden, also in Ordnung. Wenn kein Grüner laut sagt, dass Anton Hofreiter in den Koalitionsverhandlungen eine schlechte Figur abgegeben hat, spricht das für menschliche Rücksichtnahme und Ressourcenschonung. Politik besteht ja bekanntermaßen zu nicht geringem Teil aus Kommunikation, und darin ist Cem Özdemir nun einmal der Bessere. Insofern ist die Abstimmung zu seinen Gunsten folgerichtig – geschmeidig schlägt sperrig.

Im Jahr 1969 fanden zwei Parteien zueinander, die in der Nachkriegsrepublik noch nicht miteinander regiert hatten. Dass es möglich wurde, beruhte auf dem Vertrauen zwischen Walter Scheel und Willy Brandt. Das Vertrauen hielt, auch wenn die Entspannungspolitik vor allem die FDP zerriss. Vertrauen ist nicht alles, aber ohne Vertrauen ist alles nichts.

Im Jahr 1989 wussten Gerhard Schröder und Joschka Fischer, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. Noch heute reden sie freundlich übereinander, was die Vergangenheit gemeinsamer Regierungsjahre anbelangt. Eine Leistung eigener Art, wenn man sich die beiden vor Augen hält.

Diesmal sind es im Kern drei Menschen, die von weither kommen, aufeinander zu liefen und jetzt gemeinsam regieren dürfen. Scholz/Habeck/Lindner haben sich einiges vorgenommen, inhaltlich sowieso, aber eben auch im Erscheinungsbild. Die Regierung ist auf acht Jahre angelegt. Es kann gut gehen, muss aber nicht. Umgekehrt muss es nicht schiefgehen, es kann auch gut gehen.

Jeder der Neuen, von Habeck bis Özdemir, der noch nicht Minister war, muss sich in seinem Ministerium beweisen. Wer Kanzler ist, hat einen Höllenjob, weil er für alles verantwortlich ist. Charakterlich kommt es auf Nervenstärke und stabile Konstitution an. In der Sache hängt viel vom guten Timing ab und von einem Gespür für das Heraufziehen neuer Probleme. Selbstvertrauen im richtigen Maße ist eine unbedingte Voraussetzung fürs Gelingen. Und Vertrauen untereinander bleibt ein rares Gut, das gepflegt und bestätigt sein will.

Dann macht mal und macht es gut.

Endlich mal wieder regiert werden

Neulich im Bundestag gab es eine vielbeachtete Szene, als die amtierende Bundeskanzlerin und ihr Nachfolger hinter einer Säule verschwanden, damit die Kameras sie nicht filmen konnten. Was sie besprachen, weiß niemand außer ihnen, aber man kann ja mal die Phantasie spielen lassen, was sie miteinander ausmachten.

Stellen wir uns einfach mal vor, die Kanzlerin-Alt und der Kanzler-Neu hätten Folgendes hinter der Säule verabredet: Wir berufen jetzt eine Pressekonferenz ein und dann erzählen wir, dass wir gemeinsam zu der Überzeugung gelangt sind, angesichts der Inzidenz und der Belastung der Krankenhäuser, dass eine landesweite Impfpflicht notwendig ist. Unsere Intensivstationen sind voll mit ungeimpften Patienten. Momentan ist die Pandemie zuerst und zuletzt eine Pandemie der Ungeimpften. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass so schnell wie möglich so viele Menschen wie möglich geimpft werden. Also machen wir etwas was wir nicht machen wollten, nun aber machen müssen: Wir führen die Impfpflicht ein, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Schön wär’s. Aber keiner scheint zu wagen, was ratsam ist. Zu lange haben sie gesagt: Zwang wollen wir nicht, halten wir nicht durch. Österreich aber macht es vor, die Inzidenzen in Spanien und Italien isind unvergleichbar niedriger, weil die Impfqute unvergleichlich höher ist: 80 und 82 Prozent. Und Deutschland? Zögert und verwickelt sich in Widersprüche. Auch deshalb wird es Zeit, dass die alte Regierung abtritt. Diesen Wunsch beschleunigt der irrlichternde Jens Spahn, der neuerdings dekretiert, dass Moderna verimpft werden soll. Ein Mann, üben man sich nur noch wundern kann.

Die nächste Regierung hat sich auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die Juristen in der FDP setzten sich mit ihren Vorstellungen durch und das ist nach meiner Erfahrung immer ein Problem. Klingt ja wunderbar, dass Maßnahmen nationaler Tragweite fortan nicht mehr vom Kabinett verhängt werden sollen, damit das Parlament zu seinem Recht kommt. Aber in Tateinheit mit der Fehleinschätzung der Pandemie und rätselhaften Einlassungen des Vorsitzenden Christian Lindner in der ARD ist ein Fehlstart entstanden, von dem man sich fragt: Was eigentlich hat euch geritten?

Dazu kommt noch der enthemmte Mann aus Strande, Wolfgang Kubicki, der voll in seinem Element ist und zum Beispiel rumblökt, dass Ulrich Montgomery, der Majestätsbeleidigung durch Kritik beging, der „Saddam Hussein der Ärzteschaft“ sei. Außerdem bezeichnete er Markus Söder wegen seiner Corona-Politik als „charakterlos und menschlich erbärmlich“. Wer pfeift ihn zurück? Oder sind diese Entgleisungen gewünscht? Oder hält die FDP verschiedene Varianten bereit – bald staatsmännisch, bald rätselhaft, bald prollig? 

Ein Interim zwischen zwei Regierungen ist immer misslich. Die eine Regierung besitzt keine Autorität mehr, die andere besitzt noch keine Autorität. Das Ende der alten Regierung zieht sich unerquicklich hin, der Anfang der neuen auch. Da sich der bald-bin-ich-es-Kanzler Olaf Scholz aus unerfindlichen Gründen vornehm zurückhält, fallen Fahrlässigkeiten der FDP um so mehr auf. 

Derzeit regiert eigentlich niemand. Probleme aber warten aber nicht. Sie türmen sich auf. Sie verlangen nach Handhabung. Bei der Pandemie hat die Ampel zuerst keine gute Figur gemacht und dann halbherzig gehandelt. Die Kanzlerin macht, was Kanzlerinnen machen: Sie versucht durch Telefonat Einfluss auf Lukaschenko zu nehmen. Aber was gedenken der präsumtive Kanzler und seine präsumtive Außenministerin wegen der armen Flüchtlinge an den polnischen Grenzzäunen zu tun? Und ist es weise, wenn die Ampel der Bundesnetzagentur den Umgang mit Nordstream 2 zuschanzt? Und lässt sich Wladimir Putin davon beeindrucken, dass die Zertifizierung hinausgezögert wird?

Noch zwei Wochen bis zum Nikolaustag. Heute oder morgen wollen die Unterhändler der Koalition fertig werden. Aber niemand zwingt sie dazu, mit dem Regieren bis nach dem 6. Dezember zu warten. Lange genug hat sie gute Absichten bekundet. Nun darf sie mit dem Tun anfangen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Mandelas Pendant

Sein Vater war Senator gewesen, ein Onkel Premierminister, und so war es nur konsequent, dass auch er mit Anfang Dreißig ins Parlament ging. Die Familie de Klerk war seit mehreren Generationen weißer Adel im Südafrika der Apartheid. Vermutlich konnte nur jemand mit dieser Biographie das Ungeheuerliche tun.

Noch bevor Frederik Willem de Klerk im Jahr 1989 zum Staatspräsidenten aufstieg, hatte er mit dem prominentesten Gefangenen dieser Zeit zuerst Verbindung und dann Verhandlungen aufgenommen. Im calvinistischen Gottesdienst vor der Amtseinführung sagte der Geistliche ein paar Sätze im Wissen, was alsbald kommen würde: „Neue Pfade müssen gefunden werden, wo Straßen in Sackgassen enden oder nicht mehr befahrbar sind. Jene, die in den Wagenspuren der Vergangenheit steckenbleiben, werden feststellen, daß sie sich das eigene Grab gegraben haben.“

Die Apartheid hatte sich ihr Grab gegraben. Die neuen Pfade führten bald darauf dazu, dass der ANC als politische Partei zugelassen wurde und Nelson Mandela samt weiteren 120 Gefangenen in Freiheit kamen. Südafrika veränderte sich fundamental, ohne dass die große blutige Schlacht zwischen Schwarz und Weiß ausgebrochen wäre, die unvermeidlich zu sein schien.

De Klerk kam das Verdienst zu, dass er die Einsicht in die Notwendigkeit aufbrachte, die Apartheid abzuschaffen. Nelson Mandela kam das Verdienst zu, dass er für Friedfertigkeit und Versöhnung eintrat. Jeder der beiden ging einen weiten Weg. Jeder von ihnen stieß im eigenen Lager auf Unverständnis und Widerstand. Und beide besaßen genügend Autorität, um die große Abrechnung zu vermeiden und das neue Südafrika aufzubauen.

25 Jahre danach sagte de Klerk im Rückblick: „Ich glaube, wenn wir nicht getan hätten, was wir getan haben, dann hätte es einen verheerenden Bürgerkrieg gegeben, es hätte uns gehen können wie Syrien.“ Beide gemeinsam bekamen für ihr geschichtlich beispielhafte Zusammenwirken den Friedensnobelpreis.

Gegensätzliche Tandems wie de Klerk und Mandela hat es immer mal gegeben. Henry Kissinger und Le Duc Tho bekamen 1973 den Friedensnobelpreis für die Beendigung des Vietnam-Krieges. Le Duc Tho lehnte ihn ab, Kissinger nicht. Sogar ein Trio aus Yasser Arafat, Shimon Peres und Yitzak Rabin wurde für den Osloer Friedensprozess im Jahr 1994 ausgezeichnet. Darauf ruhte kein Segen.

Kissinger war als Nationaler Sicherheitsberater und Außenminister ungemein umstritten und ist es bis heute geblieben. Rabin brachte im Jahr nach dem Nobelpreis ein jüdischer Fanatiker um; der friedliche Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern ist knapp 30 Jahre nur noch ein Trugbild zum zynischen Gebrauch. Verglichen damit ist Südafrika passabel durch die Jahrzehnte seit der Aufhebung der schreienden Ungerechtigkeit namens Apartheid gekommen. Immerhin.

Aus dem Traum von dem Regenbogenland ist nicht so viel geworden, wie möglich war, schon wahr. Der ANC hält noch immer das Monopol aufs Regieren, hat sich aber um so ziemlich jede Glaubwürdigkeit gebracht. Die Arbeitslosigkeit in Südafrika ist unerträglich hoch, die Korruption auch. Die Pandemie quält das Land, wie es auch HIV/Aids tat. 8 Prozent der Bevölkerung ist weiß und zumeist privilegiert. Immerhin steht das Modell aus Demokratie und Parlamentarismus, das de Klerk und Mandela hinterließen, stabil da.

Vor ziemlich genau acht Jahren starb Nelson Mandela, der eine Vater der Nation. Heute folgte ihm Frederik Willem de Klerk, der andere Vater der Nation. Welch Glück für ein Land, wenn es zwei herausragende Menschen im vielleicht wichtigsten Augenblick seiner Existenz hat. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wartet nicht auf den Nikolaustag

Der Rat der Weisen ist eine nette Einrichtung mit bestens beleumdeten Mitgliedern, die der Regierung Handreichungen geben, wie sich die Dinge wahrscheinlich entwickeln werden. Ihren Jahreswirtschaftsbericht bekommt die alte Regierung überreicht, aber auch die neue Regierung wird mit großen Ohren lauschen, was sie zu hören bekommt.

Ein Wachstum von 2,7 Prozent ist weniger als erhofft, na gut. Geradezu grandios fällt jedoch die Prognose für das nächste Jahr aus: 4,6 Prozent. Damit lässt sich leben, damit sieht es so aus, als bekäme die Regierung Scholz/Habeck/Lindner hübschen Rückenwind.

Neue Regierungen bauen immer auf alten auf, geht ja gar nicht anders. Die Kanzlerin Angela Merkel profitierte von Marktreformen, die ihr Vorgänger Gerhard Schröder 2003/2004 bei einer Arbeitslosigkeit von 11,7 Prozent auf sich genommen hatte. Fünf Jahre später, 2008, lag sie nur noch bei 7,8 Prozent, so wirkungsvoll waren die Maßnahmen gewesen. Die Dialektik der Geschichte wollte es, dass die CDU-geführte Regierung dank der Reformen eines SPD-Kanzlers in ruhiges Fahrwasser geriet, während die SPD ewig damit haderte, als wären sie der sinistre Einfall des Klassenfeindes gewesen.

Diesmal ist es umgekehrt. Eine CDU-geführte Regierung handelte in der Pandemie derart konsequent und umsichtig, dass die Wirtschaft sich anscheinend erstaunlich schnell erholt. Die Dreier-Koalition bekommt, so gesehen, einen beschwingten Start, der ihr die ökonomischen Freiheiten erlaubt, die sie sich nehmen will, zum Beispiel mit der Kreditfinanzierung staatlicher Investitionen. Und ist es nicht fast ein Treppenwitz, dass der Kanzler Olaf Scholz erntet, was der Finanzminister Olaf Scholz gesät hat?

Unsere Weisen überraschen auch noch mit einer anderen Einschätzung der Lage. In der Pandemie habe der Staat mit seinem Füllhorn dafür gesorgt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht gewachsen sei – die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen „dürfte nicht angestiegen sein“, heißt es im Gutachten.

Daraus lässt sich was machen. Darauf lässt sich bauen. Die Rahmenbedingungen fallen günstig aus und bieten die Chance für eine ruhige Hand. Aber was macht die Ampel daraus?

Was sie sich zutraut, gießt sie gerade in Papiere, aus denen ein Koalitionsvertrag entstehen soll. Sie beeilt sich und das sollte sie auch. Dafür gilt eine Regel: Je konkreter Verträge formuliert sind, desto geringer ist hinterher der Spielraum. Ohnehin ist es so, dass Regierungen so gut wie von Tag zu Tag von unvorhergesehenen Problemen getrieben werden, besser gesagt Diese Erfahrung bleibt keinem Kanzler und keinem Minister erspart.

Die Gegenwart hat die Ampel schon eingeholt, bevor sie den Amtseid ablegt. Die Pandemie der Ungeimpften verlangt sofort nach überzeugenden Maßnahmen, die früher oder später 2 G heißen werden, was denn sonst. Wer nicht auf absehbare Zeit aus Restaurants, Museen, Konzerten oder Stadien verbannt bleiben will, sollte schleunigst das nächste Impfzentrum aufsuchen. Ein bisschen Druck ist legitim, oder etwa nicht? Vielleicht sieht das sogar Joshua Kimmich ein.

Die alte, abgewählte Regierung verliert mit jedem Tag an Autorität, das ist einfach so. Der neuen Regierung fehlt es an Autorität, solange sie nicht gewählt ist, auch das ist einfach so. Es sollte sie aber nicht davon abhalten, gravierende Ereignisse, die sich mächtig aufbauen, jetzt schon politisch zu beurteilen. Zum Beispiel schreit der lange Marsch der Flüchtlinge geradezu zu sagen, was zu sagen ist. Kaum zu glauben, dass Alexander Lukaschenko allein auf den Einfall verfallen ist, diese armen Menschen aus Irak oder Syrien oder woher auch immer per Flugzeug in sein Land zu holen und dann nach Westeuropa zu lotsen, womit im Wesentlichen Deutschland gemeint ist. Das Genie, dem an der Schwächung Europas gelegen ist und das sich zu diesem Zweck für kein schäbiges Mittel zu schade ist, sitzt doch wohl im Kreml.

Und damit sind wir bei dem Geschäft, das Wladimir Putin im Übermaß Material zur Erpressung zuspielt: Nord Stream 2. Dazu muss die Dreierbande eine Haltung gewinnen, die sich nicht auf das Alibi beruft, dass es sich um ein Geschäft handelt und nicht um Strategie. So kann Manuela Schwesig aus Eigeninteresse die Dinge sehen, aber nicht ein Kanzler. Was macht Olaf Scholz damit? Schwierig, richtig schwierig.

Umso besser, dass wenigstens die Weisen gute Nachrichten überbringen. Damit lässt sich das Stakkato ernsthafter Probleme besser meistern. Man muss sich ihnen nur stellen und zwar nicht erst am Nikolaustag.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.