Rote Rosen soll es auf sie regnen

Heute tritt meine Kanzlerin von 16 Jahren ab. Meine Tochter, 21, hat immer nur sie vor Augen gehabt. Meine Söhne, 43 und 40 Jahre alt, kennen Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel. Ich habe es im Laufe meines Lebens auf sieben Kanzler und eine Kanzlerin gebracht. Schon daran lässt sich ablesen, wie sagenhaft stabil dieses Land politisch gewesen ist und hoffentlich auch bleibt.

An Adenauer erinnere ich mich als uraltem Mann, der aussah wie ein Indianer (muss ich sagen dürfen, sagte damals jeder, Antonia). Ludwig Erhard wohnte um die Ecke in Rottach-Egern, als ich in Bad Wiessee im Internat war; seltsamerweise war ich stolz darauf, meinem Kanzler so nahe zu sein, obwohl ich seiner nie ansichtig wurde. Kurt-Georg Kiesinger sah gut aus, hieß König Silberzunge, war Mitglied der NSDAP gewesen und blieb Kanzler bis zu meinem Abitur. Willy Brandt ist der einzige Kanzler, für den ich auf die Straße ging, damals 1972 in Mainz, wo ich studierte. Die CDU wollte ihn per konstruktivem Misstrauensvotum los werden. Ein Misstrauensvotum, das konstruktiv sein musste, was einfach hieß, dass zuerst der Kanzler im Bundestag abgewählt wird und dann sofort ein anderer an seine Stelle trat. Auch so ein verfassungsmäßiger Sonderweg, der dem Land Stabilität geben sollte. Willy Brandt blieb bekanntlich Kanzler, was mit Bestechung einher ging, aber damals blieb die Hauptsache, dass wir von Rainer Barzel verschont blieben.

Dann Helmut Schmidt: fotogen, telegen, präzise Sprache, präziser Scheitel, überhaupt durch und durch präzise, dazu autoritär. Krisenkanzler: Ölkrise, RAF-Morde. Der beliebteste Kanzler, als er es nicht mehr war. Je älter, desto mehr Kult. Helmut Kohl, das eigentliche Phänomen unter den Kanzlern, sagenhaft unbeliebt jenseits seiner Partei. Große Verdienste: Nato-Doppelbeschluss, Wiedervereinigung. Der einzige Kanzler, der nach dem Ausscheiden aus dem Amt im Mittelpunkt einer Parteispendenaffäre stand und in seiner CDU in Ungnade fiel.

Und dann sie, das Mädchen, die aus dem Osten, die Kanzlerin. 16 Jahre ohne jede Affäre. Große Stärken: Ruhe, Augenmaß, Pragmatismus ohne Ende, krisenstark. Große Schwächen in Normalzeiten und in der Krisenkommunikation. Insoweit Politik aus Kommunikation besteht, hat sie uns unterversorgt. Da war sie wie Helmut Schmidt, der auch keine Blut-Schweiß-und-Tränen-Reden halten wollte. Die Deutschen wollen nun mal nicht mit zu viel Politik belästigt werden: In dieser Einschätzung waren sich Kohl und Merkel einig – darin waren sich eigentlich alle Kanzler einig. Der Vorbehalt stimmt und stimmt auch wieder nicht. Manchmal muss schon mehr sein als ein Satz wie: Wir schaffen das. Manchmal tut eine längere Rede oder Ansprache ans Volk gut. Wie immer kommt es auf das Timing an.

Ich glaube, Olaf Scholz hat sich einiges von Angela Merkel abgeschaut. Zeit genug hatte er ja, im Kabinett, auf Auslandsreisen. An Sturheit kommt er ihr gleich. An Tonlosigkeit der Sprache auch. Er dürfte uns mit Politik auch nicht überanstrengen. Hoffentlich hat er aber auch gelernt, dass gelegentliche Erklärungen, wieso und weshalb und warum diese oder jene Entscheidung gefallen ist, uns durchaus nicht überfordern.

Heute also Großer Zapfenstreich mit Nina Hagen und Marlene Dietrich neben dem Kirchenlied „Großer Herr, wir loben dich“. Ja, so ist sie, Pfarrerstochter und unkonventionell, Wagner geht ja auch nur schwerlich jenseits von Bayreuth unter freiem Himmel. Wie man hört, fällt ihr der Abschied aus dem Kanzleramt nicht ganz so leicht, wie sie wohl dachte. Das ist in Ordnung. Falls sie jammern sollte, werden wir es nicht hören. Ich nehme an, wir werden überhaupt ziemlich lange ziemlich wenig von ihr hören. So ist sie. Warum sollte sie sich ändern? Selbsttreue muss kein Fehler sein

Und von mir aus kann es ruhig rote Rosen regnen, auf meine Kanzlerin von 16 Jahren.

Nachtrag: Wie es der Zufall will, tritt heute Sebastian Kurz von allen Ämtern zurück. Zufälle können sehr erhellend wirken. Eine tritt ab, einer gibt notgedrungen auf. Eine war 16 Jahre lang da. Einer war vier Jahre da. Die eine ist die Inkarnation einer skandalfreien Kanzlerin. Beim anderen kommt einiges zusammen, sonst würde er nicht aufgeben. Die eine könnte noch alles werden, was sie wollte, will aber nichts mehr werden. Der andere wollte unbedingt ins Kanzleramt zurückkommen, kann es aber nicht. Der einen wird nachgesagt, sie habe keine Überzeugungen, aber sie hat einen Wertekanon. Der andere hat keine Überzeugungen und auch keinen Wertekanon. Die eine nannte man Mutti, weil sie sich sorgt und kümmert. Der andere war das Buberl, weil er jung war und präpotent auftrat. An die eine werden wir uns noch dankbar erinnern. Den anderen werden sie schal im Gedächtnis behalten. Die eine hat sich um ihr Land verdient gemacht. Der andere lässt sein ramponiertes Land wie geplündert zurück. Die eine ist durch Disziplin und Demut an ein selbstbestimmtes Ende gelangt. Der andere ist ein Digitalphänomen, das genau deswegen aufflog. Der einen ist ein Abschied geglückt. Der andere muss gehen, ehe er gegangen wird. Die eine bekommt einen würdigen Abschied. Der andere ist gescheitert und muss sich trollen.