Der Rat der Weisen ist eine nette Einrichtung mit bestens beleumdeten Mitgliedern, die der Regierung Handreichungen geben, wie sich die Dinge wahrscheinlich entwickeln werden. Ihren Jahreswirtschaftsbericht bekommt die alte Regierung überreicht, aber auch die neue Regierung wird mit großen Ohren lauschen, was sie zu hören bekommt.
Ein Wachstum von 2,7 Prozent ist weniger als erhofft, na gut. Geradezu grandios fällt jedoch die Prognose für das nächste Jahr aus: 4,6 Prozent. Damit lässt sich leben, damit sieht es so aus, als bekäme die Regierung Scholz/Habeck/Lindner hübschen Rückenwind.
Neue Regierungen bauen immer auf alten auf, geht ja gar nicht anders. Die Kanzlerin Angela Merkel profitierte von Marktreformen, die ihr Vorgänger Gerhard Schröder 2003/2004 bei einer Arbeitslosigkeit von 11,7 Prozent auf sich genommen hatte. Fünf Jahre später, 2008, lag sie nur noch bei 7,8 Prozent, so wirkungsvoll waren die Maßnahmen gewesen. Die Dialektik der Geschichte wollte es, dass die CDU-geführte Regierung dank der Reformen eines SPD-Kanzlers in ruhiges Fahrwasser geriet, während die SPD ewig damit haderte, als wären sie der sinistre Einfall des Klassenfeindes gewesen.
Diesmal ist es umgekehrt. Eine CDU-geführte Regierung handelte in der Pandemie derart konsequent und umsichtig, dass die Wirtschaft sich anscheinend erstaunlich schnell erholt. Die Dreier-Koalition bekommt, so gesehen, einen beschwingten Start, der ihr die ökonomischen Freiheiten erlaubt, die sie sich nehmen will, zum Beispiel mit der Kreditfinanzierung staatlicher Investitionen. Und ist es nicht fast ein Treppenwitz, dass der Kanzler Olaf Scholz erntet, was der Finanzminister Olaf Scholz gesät hat?
Unsere Weisen überraschen auch noch mit einer anderen Einschätzung der Lage. In der Pandemie habe der Staat mit seinem Füllhorn dafür gesorgt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht gewachsen sei – die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen „dürfte nicht angestiegen sein“, heißt es im Gutachten.
Daraus lässt sich was machen. Darauf lässt sich bauen. Die Rahmenbedingungen fallen günstig aus und bieten die Chance für eine ruhige Hand. Aber was macht die Ampel daraus?
Was sie sich zutraut, gießt sie gerade in Papiere, aus denen ein Koalitionsvertrag entstehen soll. Sie beeilt sich und das sollte sie auch. Dafür gilt eine Regel: Je konkreter Verträge formuliert sind, desto geringer ist hinterher der Spielraum. Ohnehin ist es so, dass Regierungen so gut wie von Tag zu Tag von unvorhergesehenen Problemen getrieben werden, besser gesagt Diese Erfahrung bleibt keinem Kanzler und keinem Minister erspart.
Die Gegenwart hat die Ampel schon eingeholt, bevor sie den Amtseid ablegt. Die Pandemie der Ungeimpften verlangt sofort nach überzeugenden Maßnahmen, die früher oder später 2 G heißen werden, was denn sonst. Wer nicht auf absehbare Zeit aus Restaurants, Museen, Konzerten oder Stadien verbannt bleiben will, sollte schleunigst das nächste Impfzentrum aufsuchen. Ein bisschen Druck ist legitim, oder etwa nicht? Vielleicht sieht das sogar Joshua Kimmich ein.
Die alte, abgewählte Regierung verliert mit jedem Tag an Autorität, das ist einfach so. Der neuen Regierung fehlt es an Autorität, solange sie nicht gewählt ist, auch das ist einfach so. Es sollte sie aber nicht davon abhalten, gravierende Ereignisse, die sich mächtig aufbauen, jetzt schon politisch zu beurteilen. Zum Beispiel schreit der lange Marsch der Flüchtlinge geradezu zu sagen, was zu sagen ist. Kaum zu glauben, dass Alexander Lukaschenko allein auf den Einfall verfallen ist, diese armen Menschen aus Irak oder Syrien oder woher auch immer per Flugzeug in sein Land zu holen und dann nach Westeuropa zu lotsen, womit im Wesentlichen Deutschland gemeint ist. Das Genie, dem an der Schwächung Europas gelegen ist und das sich zu diesem Zweck für kein schäbiges Mittel zu schade ist, sitzt doch wohl im Kreml.
Und damit sind wir bei dem Geschäft, das Wladimir Putin im Übermaß Material zur Erpressung zuspielt: Nord Stream 2. Dazu muss die Dreierbande eine Haltung gewinnen, die sich nicht auf das Alibi beruft, dass es sich um ein Geschäft handelt und nicht um Strategie. So kann Manuela Schwesig aus Eigeninteresse die Dinge sehen, aber nicht ein Kanzler. Was macht Olaf Scholz damit? Schwierig, richtig schwierig.
Umso besser, dass wenigstens die Weisen gute Nachrichten überbringen. Damit lässt sich das Stakkato ernsthafter Probleme besser meistern. Man muss sich ihnen nur stellen und zwar nicht erst am Nikolaustag.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.