Von Vätern und Söhnen

Gestern fiel mir ein Buch in die Hände, das „Nachkriegskinder“ heißt, schon vor zehn Jahren erschien und nun neu aufgelegt worden ist. Die Autorin heißt Sabine Bode. Sie ist an Menschen interessiert und erzählt deren Lebensgeschichten. Ohne theoretische Ansätze kommt so ein Buch aber natürlich nicht aus. Die Autorin schreibt schlank von deutscher Kollektivschuld – klassischer Einwand: Wenn alle irgendwie schuldig geworden sind, ist keiner schuldig und muss sich auch nicht so fühlen. Nun leiden aber die von ihr vorgestellten Personen unter der Gewalt, dem Schweigen, den Traumata der Kriegsväter und manchmal auch der Kriegsmütter. Freundliche, nicht schlagende Väter sind die Ausnahmen, aber es gibt sie. Das ist eben so mit den Erfahrungen, auch mit den Kriegserfahrungen, sie schlagen sich individuell nieder und werden individuell weitergegeben.

Die Generation der Kriegskinder ist weit gefasst in diesem Buch. Sie umfasst die Jahrgänge 1945 bis 1960. Was sich dagegen sagen lässt, möchte ich aus meiner eigenen Erfahrung erzählen. Es macht nämlich einen großen Unterschied, ob jemand, wie mein Bruder, 1945 geboren wurde, oder, wie ich, fünf Jahre später. Fünf Jahre machten damals eine Welt aus. Zwar gehören wir beide derselben Generation an, haben aber verschiedene Deutschlands in unseren Anfängen erlebt, die uns zwangsläufig unterschiedlich geprägt haben.

Hof, im März 1945. Der Vater. Bauernsohn, mit 19 eingezogen, zuerst Frankreich, nach Russland. Schwer kriegsversehrt, beide Beine amputiert. Bei Kriegsende 25 Jahre alt. Die Mutter: 20 Jahre alt, aus dem Elsaß nach Oberfranken gezogen in eine fremde Welt mit fremdem Zungenschlag. Das Kind, mein Bruder: Kurz vor Kriegsende geboren, ein Krischperl, kaum lebensfähig in dieser Mangelwirtschaft mit beginnendem Schwarzmarkt. Die jungen Eltern einquartiert in einer ramponierten Villa. Was für Anfänge für das Paar, für das Kind. Absolute Unsicherheit, was die Siegermächte mit dem Land nach der bedingungslosen Kapitulation vorhaben, welche Siegermacht sich am Übergang von Franken nach Thüringen festsetzen wird.

Dagegen ich: 1950 geboren. Seit einem Jahr gibt es die Westrepublik, beschützt und determiniert durch die Westalliierten, allen voran den USA. Vier Zimmer in der Lessingstraße 16, Toilette auf der halben Treppe. Vom Schutt geräumte Straßen, Hof ist glimpflich davon gekommen. Der Vater arbeitet bei der Alten Volksfürsorge, wie die Generali ursprünglich hieß, bekommt Versehrtenrente, bald Zuschüsse zu den Autos, die er fährt. 1956 erste Reise nach Italien im VW HO – C 204.

Die ersten Lebensjahre meines Bruders: absolute Unsicherheit. Meine: Sicherheit. Folge bei ihm: Sicherheitsbedürfnis. Bei mir: eher Neugier aufs Neue. Wichtig ist die Familienkonstellation: Er ist der angepasste Sohn, mir bleibt nur die Rolle des Rebellen. Die Mutter schlägt uns mit dem Teppichklopfer, der Vater ist Linkshänder und legt erst einmal in Ruhe die Uhr ab. Später sagen beide, wir wussten es nicht anders und entschuldigen sich. Der Vater ist Sohn rauher Bauern, die Mutter Tochter eines verarmten bürgerlichen Vaters.

Das Schweigen der Väter, von dem das Buch wimmelt: Mein Vater sagte das Nötige, wie schrecklich der Krieg war und verschont uns mit Einzelheiten, wofür ich ihm heute noch dankbar bin. Er nimmt mich kleinen Jungen mit zum Versehrtensport und seither sind mir die vielfältigen Formen der Verstümmelungen geläufig. Will ich mehr wissen? Später ja und bekomme Antworten. Die Mutter erzählt vom Leben in Kusel, Metz und Saarbrücken und von der Flucht ins Landesinnere. Zwei ihrer Brüder sind „gefallen“, der Bruder meines Vaters auch. Die Mutter weint beim Erzählen. Der Vater: gefasst und selbstironisch.

Entscheidend ist, dass ich zum goldenen Jahrgang der Nachkriegsrepublik gehöre. Aufwachsen im geschützten Land, das in internationale Organisationen hineinwächst und lernt, das von den Alliierten auferlegte System aus Marktwirtschaft und Demokratie sich anzuverwandeln. Das Schulgeld fällt weg. Zugang zum Gymnasium über einen Test. Popmusik als eigene Kultur gegen die Erwachsenen. Ungezwungener Sex dank der Pille für die Freundinnen. Bafög bei Studienbeginn. Sorglose Berufswahl nach dem Examen. Stabile, reiche Republik. Und dann auch noch die Wiedervereinigung.

Ich habe meine Eltern in meinen Zwanzigern bestraft: durch Entzug, durch Nichtachtung, Geringschätzung, durch Schweigen. Hat sich dann erschöpft. Irgendwann sah ich ein, dass sich selber vergiftet, wer andere zu seinem Feind erklärt, zum Beispiel die Eltern oder die Geschwister. Studienmaterial fand ich in meiner nächsten Umgebung. Irgendwann wurde mir auch klar, dass dieses Abarbeiten an den Eltern kindlich war und ich war kein Kind mehr. Es ergab sich, dass ich ein Porträt meiner Heimatstadt für die „Zeit“ schreiben sollte, woraus eine Versöhnung mit meiner Herkunft erwuchs: mit der Stadt, aus der ich kam, mit den Eltern, mit der Region.

Das Leben kann ein Drama sein, es kann auch Tragik entfalten, im Wesentlichen aber ist es ein Prozess. Wer stehen bleibt, könnte sich ja auch mal fragen, warum er stehen bleibt. Und wollen wir nicht selber wer sein und damit mehr als das Produkt unserer Eltern?