Lieder, die mir ans Herz gehen

Menschen haben Rituale, und das ist auch gut so. Zu meinen gehört es, dass ich täglich ein paar Lieder höre, bei denen mir mein Herz aufgeht. Ich fange an zu lesen oder zu schreiben und dazu singt mir (falls man seine Art der mündlichen Äußerung singen nennen kann) Bob Dylan „Murder most foul“, dieses dichte, ergreifende Klagelied seiner Generation auf den Verlust aller Träume und den Anfang von Melancholie und Zynismus und Trauer. John F. Kennedy wird ermordet und von jetzt an kann jeder an jedem Tag sterben. Robert Kennedy und Martin Luther King folgen, Malcolm X auch. „The Times they are a-changing“ ist Vergangenheit, eine Hymne der Naivität. „Things have changed“ ist Dylans Ballade der Desillusionierung.

Darauf folgt „All along the watchtower“, das auch Bob Dylan geschrieben hat, aber Jimi Hendrix unvergleichlich besser zu Gehör bringt. Kraftvoll. Wuchtig. Hammerhart und doch auch lyrisch. Jimi Hendrix habe ich 1969 in Nürnberg live erlebt. Das Wort stimmt: erlebt, ein Erlebnis fürs Leben. Und dann der Tod mit 27. Bob Dylan bekam seither den Nobelpreis und einen Oscar, eben für „Things have changed“. Und tourt und tourt und tourt. Unsterblich ist er sowieso wegen seiner zahllos vielen, unfassbar schönen Balladen, die man lesen muss, weil sie Literatur sind, die er singt, wie er eben singt, wobei sich die Art seines Singens ebenso ändert, wie er sich geändert hat.

Gary Brooker spielte und lebte auf einem anderen Planeten. Er war nicht die Stimme seiner Generation. Er knallte sich nicht den Kopf weg. Von Anfang an hatte er diese melancholische Stimme, die übrigens nicht in psychedelischen Texten aufging, auch wenn „A whiter shade of pale“ danach klingt. Ich finde, man muss Texte ernst nehmen, und wenn sie von absoluten Könnern wie Gary Brooker gesungen werden und eine Saite in uns anschlagen, die kein anderer anzuschlagen vermag, dann sollten wir den Text durch Aufmerksamkeit ehren.

„A whiter shade of pale“ gehört für mich in die gleiche Liga wie „Good Vibrations“ (für die Jüngeren unter uns, falls die bis hierher gelesen haben sollten: Das haben die Beach Boys gesungen, die man ansonsten weitgehend vergessen kann, jedenfalls unter dem Aspekt Lieder für die Ewigkeit) oder „American Pie“ (stammt von Don McLean, der auch noch „Vincent“ gesungen hat, also zwei Lieder für die Unsterblichkeit). Und nur mal so nebenbei gesagt: „Conquistador“ von Procul Harum ist immer unterschätzt worden, immer zu kurz gekommen.

Gary Brooker lässt sich auf seinen Alben erst richtig entdecken. Das sind keine Lieder, auch keine Balladen, es sind Symphonien. Herrlich gesungen, wunderbare Melodien, grandiose Musik. All das geschrieben und gesungen vor Jahrzehnten. Meine Frau, die zu jung ist für dieses Generation-Unsterblichkeits-Liedgut, liebt diese Musik auch, weil sie eben nicht nur für eine Generation geschrieben ist und nicht mit ihr vergilbt. Irgendwann spielte ich beim Abendessen „Grand Hotel“ ab und sie lauschte und war entzückt und staunte, als ich ihr sagte, wer diese Gruppe war und wann das Album veröffentlicht worden war. Heute hört sich manches vielleicht sogar noch jünger, noch frischer an als damals. Procul Harum wiederentdeckt erreicht viele Herzen, nicht nur meines.

Gary Brooker scheint ein stabiler Mensch gewesen zu sein. Er spielte nach Procul Harum mit allen Größen der Pop-Musik. Er war weit mehr als 50 Jahre mit derselben Frau verheiratet, genau so wie Charlie Watts, der andere Beständige in diesem Wahnsinnsgeschäft, das viele Große früh in den Tod riss.

Gary Brooker schaffte es bis kurz vor 77, der Krebs raffte ihn hin. Er machte nicht viel Gedöns um sich, um seine Lieder, um seine Musik. Er war das Beste, was man über ihn sagen kann: ein Sänger, der in seinen Liedern aufging. Hört mal wieder rein. Es geht ans Herz.

Ein Pionier des TV-Zeitalters

Er hatte diese dunkle Stimme und diese grüblerische Miene. Er war jeden Zoll ein ernsthafter Mensch in der guten alten Zeit des Fernsehens, als die öffentlich-rechtlichen Sender das Monopol besaßen. Als Peter Merseburger 1965 zum NDR kam, sollte er im Dritten Programm ab 20.15 Uhr, nach dem Heiligen Gral „Tagesschau“, den Abend füllen, mit eigenen Ideen und unbehelligt von den Einwürfen seiner Vorgesetzten. Muss man sich mal vorstellen. So viel Freiraum, so viel Eigensinn. Jedem heutigen Fernsehmenschen, eingemauert von Quoten, eisernen Vorgaben und Sparzwang, müssen da die Tränen kommen. 

Peter Merseburger war ein Intellektueller. Zerknittert wirkte er, zerknirscht von den schlimmen Nachrichten, aus aller Welt heran gespült, die Seinesgleichen einordnen und kommentierten sollten und durften. Dazu war er ein Doppeltalent, denn er kam vom Spiegel“, für den er als Korrespondent aus Brüssel geschrieben hatte, und wurde dann zu einem der markanten Fernsehköpfe, welche die ARD in Serie produzierte. Gründerjahre eben, Aufstiegsjahre des Fernsehens in der liberalen Ära des Landes, die eine von Willy Brandt geführte Bundesregierung wohltuend auslöste.

Mir persönlich war Merseburger zu streng, zu humorlos. Das Politische, wie  seine Generation es verstand, war das Schwere, das er den Zuschauern beizubringen versuchte. Immer ein bisschen Volkshochschule, stete Neigung zur Pädagogik. Zweifellos auch verdienstvoll und durchaus erfolgreich, wie das Echo belegte. Merseburger wie auch andere Fernsehgrößen wie Winfried Scharlau oder Gerhard Bott oder auch Claus Hinrich Casdorff zogen tiefe Spuren in der deutschen Fernsehgeschichte.

Umstritten war Merseburger nie. Als er „Panorama“ 1967 übernahm, so erinnerte er sich, da hätten etliche Leute öffentlich gegen ihn demonstriert, weil er ihnen allzu konservativ erschien. Darunter wären Stefan Aust und Ulrike Meinhof gewesen. Muss man sich mal vorstellen. Aus Stefan Aust wurde später ein „Panorama“-Redakteur und noch viel später ein „Spiegel“-Chefredakteur. Aus der begabten und beliebten Kolumnistin Ulrike Meinhof wurde später eine RAF-Terroristin, die sich dann das Leben im Gefängnis nahm.

Für mich war „Panorama“ damals eine Muss-Sendung. Sie war links, das schon, zum permanenten Ärger der CDU und mehr noch der CSU. Sie hatte Haltung, aber sie war um Fairness bemüht. Sie hielt sich von der Gesinnung fern, die heute einige seiner Nachfolger und vor allem Nachfolgerinnen für journalistisch angemessen erachten. Haltung lässt beide Seiten zu ihrem Recht kommen. Gesinnung ist Gefälle – die einen haben Recht und die anderen kommen nur mal so zu Gehör, damit der Rundfunkrat still hält.

Merseburger hatte ein überaus produktives Leben nach dem Fernsehen. Er schrieb Biographien, zum Beispiel über den Heros seiner Generation, Willy Brandt, auch über den Schmerzensmann der Nachkriegsrepublik, den Adenauer-Gegenspieler Kurt Schumacher. Sauber recherchiert, gut geschrieben, dicke Wälzer, immer eindrucksvoll.

Am besten gefiel mir seine Biographie über Rudolf Augstein, opulent und gerecht.  Der „Spiegel“-Gründer erfand in den 1950er Jahren den Kampagnen-Journalismus in seinen Kampf gegen Konrad Adenauer, der aus seiner Sicht die Wiedervereinigung wegen der Westbindung aufgab, und natürlich gegen Franz Josef Strauß, von dem er nur Übles erwartete. Merseburger beschrieb Augstein mit kritischem Wohlwollen. Kritisch, das war das Zauberwort seiner Generation.

Im späten Augstein spiegelte sich Merseburger, zweifellos. Auch er war 1989 ein Patriot, geboren im Osten Deutschlands, der sich über die Wiedervereinigung freute. Es gab eben damals etwas, was heute vielleicht wieder im Entstehen begriffen ist, einen linken Patriotismus. So gesehen steht zum Beispiel Robert Habeck in seiner Nachfolge.

Es bleibt eben immer etwas, auch über den Tod hinaus, der den Schreiber und Fernsehmenschen Peter Merseburger kurz vor seinem 94. Geburtstag ereilte.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Die Zeit verrinnt, der Fatalismus nimmt zu

Natürlich kann Wladimir Putin in seiner Selbstherrlichkeit jeden Tag den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine erteilen. Die Streitkräfte und das schwere Gerät und alles was man so braucht, wenn man der Welt Stärke zeigen will, stehen bereit. Deshalb ist es recht billig, wenn die Experten in Amerika oder Deutschland Tag für TagTipps abgeben, wann der Überfall fällig sein wird.

Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, ob Putin wirklich glaubte, er könnte mit seinen militärischen Drohungen sein politisches Ziel durchsetzen, vertragliche Garantien dafür zu bekommen, dass die Ukraine nicht in die Nato oder die Europäische Union aufgenommen wird. Oder ob die Verhandlungen der letzten Wochen nur der Vorwand für die Vollendung des massiven Aufmarschs an der Grenze waren. Entweder ihr gebt mir, was mir zusteht, oder ich nehme mir, was ich will: Nach dieser Devise geht er jedenfalls vor.

Gut möglich ist es ja auch, dass er sich verschätzt hat. Putin kennt den Westen und seine Logik. Er achtet die Nato gering und hält Amerika für eine Supermacht auf dem absteigenden Ast, von der Russland wenig zu befürchten hat. Diese Erfahrung nimmt er aus Syrien und Libyen mit und wendet sie auf die Ukraine an, die er als russisches Eigentum betrachtet und auch so behandelt. Die paar Soldaten, die von der Nato ins Baltikum geschickt worden sind, dürften ihn in seiner zynischen Einschätzung der Lage bestätigen, was denn sonst. Freundlicherweise haben ja allerlei Sicherheitsexperten in Brüssel und Washington, Paris und Berlin für klare Verhältnisse gesorgt, indem sie auf militärische Gegenmaßnahmen verzichten. Warum also sollte ihm der Westen nicht geben, was er haben will?

Gibt er ihm aber nicht. Das Jahr 2022 hält zwar eine Ahnung von 1938 bereit, aber die Ukraine ist nicht die Tschechoslowakei, die der Westen Hitler schenkte, im Glauben an dessen Genügsamkeit.

Frieden für unsere Zeit, so hat Neville Chamberlain das Münchner Abkommen 1938 bei seiner Rückkehr nach London gefeiert. Frieden für unsere Zeit haben zahlreiche Außenminister und Regierungschefs durch Telefonate und Besuche in Moskau zu retten versucht. Immerhin haben sie keine Zugeständnisse gemacht, die ihnen der russische Präsident abverlangt. Sie drohen ihm Sanktionen an, mehr können sie nicht, mehr wollen sie nicht. Sanktionen schrecken Putin jedoch nicht. Die Abhängigkeit Europas von russischer Energie nimmt Sanktionen die Schlagkraft.

Nun rinnt die Zeit aus. Morgen reist Bundeskanzler Olaf Scholz nach Moskau und wird wohl Putin vortragen, was der schon x-mal gehört hat, von Joe Biden und Emmanuel Macron, von Anthony Blinken und Annalena Baerbock und vielen anderen. Trotzdem ist es richtig, dass er auch noch von Scholz hört, was von seinem Erpressungsversuch zu halten ist. Vielleicht ringt sich der Kanzler sogar dazu durch, im Kreml zu sagen, dass er im Kriegsfall zu seinem größten Bedauern auf North Stream 2 verzichten müsse. Bislang hat er darauf verzichtet, was kein Fehler war, aber ein Symptom.

Egal was passiert, muss sich die deutsche Außenpolitik einer Revision unterziehen. Die SPD lehnt sich noch immer an Willy Brandts Entspannungspolitik an, aber Russland ist nun mal nicht die Sowjetunion, die im Kalten Krieg eine gewisse Verlässlichkeit besaß. Putin persönlich ist die personifizierte Unzuverlässigkeit mit permanenten Phantomschmerzen über den Verlust des Imperiums. Abhängigkeit von ihm, ist eine Schwäche, wofür Nord Stream 2 stellvertretend steht. Zum neuen Realismus gehört die Einsicht, dass die Pipeline ein politischer Fehler war, wie man schon länger wissen konnte.

Die SPD kommt auch nicht an einem Bruch mit Gerhard Schröder vorbei. Ein Alt-Kanzler als Gazprom-Lobbyist. Ein Alt-Kanzler als Sprachrohr des russischen Präsidenten. Unverhohlenes Verständnis für Willkür und Aggression. Materielle Interessen als Grund für ein beschämendes Alterswerk. Mit Würde und Anstand, die man von unseren ehemaligen Kanzler erwarten darf, hat das nicht im Geringsten zu tun. Fehlt nur noch die vollendete Apologie zum Einmarsch.

Olaf Scholz dürfte der letzte Politiker aus dem Westen sein, der auf Wladimir Putin einredet. Zugleich beginnt die dreitägige Münchner Sicherheitskonferenz, die sich wieder den großen Problemen der Weltpolitik widmet – fragt sich nur, ob vor einem Krieg in der Ukraine oder parallel zum Einmarsch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Ein Hauch von München

Wenn jemand erwägt oder gar Anstalten macht, einen Krieg anzufangen, dann sollte er eigentlich nicht wissen, wie andere Länder darauf reagieren. Es ist einigermaßen schlau, dass er im Ungewissen bleibt; das lässt ihn vielleicht Vorsicht walten. Könnte ja sein.

Wladimir Putin ist in einer wesentlich besseren Lage. Im Ungewissen bleibt nur, ob er die Ukraine angreift. Es bleibt ihm überlassen, ob er den 100 000 Soldaten (und Soldatinnen?) samt Panzern und schwerem Geschütz den Marschbefehl erteilt oder nicht. Im Gewissen ist hingegen, dass die Nato nicht eingreifen wird, auch wenn sie so tut, als ob, indem sie ein paar Truppen in die Nähe der Ukraine verlegt. Dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg fällt die trostlose Klarstellung zu, dass es eben einen Unterschied gibt zwischen einem Mitgliedsland des Bündnisses und einem geschätzten Land, das aber nun einmal nicht Mitglied ist und deshalb auch keinen Anspruch auf Intervention zu seinen Gunsten hat. 

Kein Wunder, dass sich die Ukraine verraten und verkauft vorkommt, auch wenn sie nicht ernsthaft auf militärischen Beistand gehofft haben wird. Der Unterschied zwischen der Schnödigkeit à la Stoltenberg und politischer Anteilnahme fällt durchaus ins Gewicht. 

Deutschland beteiligt sich an diplomatischen Bemühungen, das Schlimmste zu verhindern. Nächste Woche wird Annalena Baerbock mit ihrem französischen Kollegen wieder auf Tournee gehen. Das Normandie-Format, das aus Deutschland plus Frankreich plus Ukraine plus Russland besteht, hat Wiederbelebung erfahren. Anthony Blinken, der amerikanische Außenminister, geht bestimmt bald wieder auf Reisen.

Ein Hauch von München liegt in der Luft. Der Westen fragt sich, wie weit er Wladimir Putin entgegen kommen sollte und kommt immer wieder zum gleichen Ergebnis; Was er will, können wir ihm nicht geben – keine schriftliche Garantie, dass weder die Ukraine noch Georgien je in das atlantische Bündnis aufgenommen werden. Folglich wird Diplomatie um der Diplomatie wie damals 1938 betrieben, als der Westen glaubte, Hitler durch Zugeständnisse gebändigt zu haben.

Es stimmt ja auch, solange nicht geschossen wird, kann geredet werden. Darin liegt Trost und zugleich auch Hoffnungslosigkeit. Die Entscheidung liegt ja beim Aggressor, der die Lage herauf beschworen hat. Er kann sich begnügen oder den Krieg beginnen und ein Land dem russischen Reich einverleiben, das ohnehin ihm gehört, wie Putin behauptet. Was damals die Tschechoslowakei war, ist heute die Ukraine.

Ein Hauch München liegt in der Luft, und daher sehen die Kriegsverhinderer wieder nicht besonders gut aus. Sie ringen die Hände, sie appellieren und drohen vorsichtig mit Konsequenzen, mit Sanktionen. Sie sagen, vielleicht droht Putin ja nur und will gar nicht zuschlagen. Sie beschwichtigen, auch wider besseres Wissen, und das ist von 1938 in verheerender Erinnerung. Sie hoffen das Beste, das ist menschlich, und wir alle können nur hoffen, dass der Krieg ausbleibt.

Leider machen die Deutschen in dieser schwierigen Lage eine besonders unglückliche Figur, in Sonderheit der SPD-Anteil in der Regierung. Olaf Scholz fingiert, darin seiner Vorgängerin gleich, dass Nord Stream 2 ein normales wirtschaftliches Geschäft ist, was absurd ist. Seine Partei hat aus der späteren Phase des Kalten Krieges eine Tendenz zur Äquidistanz – gleicher Abstand zur USA und Sowjetunion/Russland. So trifft Putin hierzulande unverdient auf Verständnis. So kommt es, ganz toll,  zur Lieferung von Helmen an die ukrainische Armee. Dass sie aus dem Arsenal der Nationalen Volksarmee seligen Angedenkens stammen, ist die ironische Krönung der Verlegenheitsschenkung.

Waffen? Bloß nicht bei unserer Geschichte, lautet das rot-grüne Argument. Das Argument ließe sich genauso triftig umdrehen: Die Ukraine gehört zu den Bloodlands, in denen die Nazis wie die Kommunisten Schreckliches anrichteten, wie Timothy Snyder in seinem gleichnamigen Buch beschrieb. Damit sie sich selber verteidigen kann, benötigt sie Defensivwaffen. Helme, die sich zum Gebet abnehmen lassen, können als schwächliches Alibi verstanden werden – und werden in Kiew auch so verstanden.

Die allergrößte Peinlichkeit ist unter den Deutschen ausgerechnet ihr Altkanzler Gerhard Schröder. Er schloss kurz vor Toresschluss noch den Vertrag über Nord Stream 2. Er ging wenige Tage später in den Aufsichtsrat von Gazprom. Und jetzt mischt er sich mit Beiträgen zu Wort, die einem das Blut gefrieren lassen.

Er rügt die Außenministerin, weil sie zuerst nach Kiew und dann nach Moskau reiste. Der Ukraine wirft er Säbelrasseln vor. Der Ukraine! Nicht dem lupenreinen Demokraten, der wahrscheinlich zur Selbstverteidigung 100 000 Soldaten an der Grenze zusammenzieht, weil doch die riesige Ukraine das kleine Russland überfallen will.

Vielleicht ist es ja old school, aber ich erwarte eigentlich von ehemaligen Bundeskanzlern, dass sie weiterhin ihrem Land dienen. Bill Clinton holt sich zwar von zweifelhaften Autokraten Geld, aber für seine Stiftung, nicht zur persönlichen Bereicherung. Jimmy Carter bekam den Nobelpreis für seine unzweifelhaften Verdienste nach seiner Präsidentschaft. Ich wette, dass Angela Merkel sich weder korrumpieren lässt noch unbedingt endlich mal in ihrem Leben richtig viel Geld verdienen will.

Zwei Bundeskanzler brachten nach dem Amt Schande über sich. Helmut Kohl wollte unbedingt die Herkunft der Millionenspender für sich behalten und nahm deren Namen mit ins Grab. Gerhard Schröder verwandelte sich ex post in einen Büttel und Supermegalobbyisten im Dienst von Wladimir Putin, dessen Verwandlung in eine destruktive Kraft im internationalen Mächtespiel im entweder entgangen ist oder ihm egal ist. Ziemlich traurig. Ziemlich ruchlos.

Von Krisenzeiten bleibt, wie sich ein Land verhalten hat. Von dieser Krise wird bleiben, dass sich ein Altkanzler zur Kenntlichkeit veränderte und die neue deutsche Regierung Asche über ihr Haupt streuen muss.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Der Windkümmerer

Gerade habe ich über einen Beruf gelesen, der mir bisher entgangen war. Es handelt sich um einen Windkümmerer, der, was natürlich nahe liegt, einer besonderen Aufgabe nachgeht, die sich nicht sofort erschließt. Die Zusammensetzung des Wortes ist genial: Wind ist gut, wissen wir ja, wir brauchen viel davon, damit er die Windräder antreibt, von denen es bald sehr viel mehr geben soll, wie wir seit dem Auftritt Robert Habecks mit seinen Schautafeln wissen, sonst wird es nichts mit der Stromproduktion aus erneuerbaren Energien. Und Kümmerer ist sowieso gut. Die Parteien wollen sich neuerdings auch um ihre Verächter kümmern. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind große Kümmerer und schließen im Zweifelsfall diejenigen ein, die sie abschaffen wollen. In der Pandemie sind unsere größten Kümmerer und Kümmerinnen (sagt man so? Man will ja nicht gegen den Comment verstoßen, gegen den Purismus der Puristen und Puristinnen) – sind also die arbeitenden Menschen in den Altenheimen und Krankenhäusern beklatscht worden. Zu schweigen von durchaus bekannten Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, die sich zum Beispiel zu Sterbebegleitern (und -innen) ausbilden lassen. Kümmern als moralisch hochachtbarer Zweitberuf.

Der Windkümmerer berät, überzeugt, moderiert und dient auch schon mal als Blitzableiter. Er tritt immer dann in Erscheinung, wenn eine bayerische Kommune in Gestalt ihres Bürgermeisters auf den verwegenen Gedanken verfällt, Windkraftanlagen in die begnadet schöne Landschaft zu stellen – beziehungsweise dem Gedanken nahe tritt und deshalb in der eigenen Bevölkerung auf entschiedenen Widerstand trifft. Dann also kümmert sich der Windkümmerer um Ausgleich und Vermittlung der widersprechenden Interessen. Keine leichte Aufgabe.

Nun tritt Bayern ohnehin nicht mit massenhaften Bauwünschen nach Windrädern hervor, eher im Gegenteil. In den beiden vergangenen Jahren gingen je acht Windräder in Betrieb, mehr nicht. Das ist kein Zufall, denn dort gilt die 10-h-Regel, wonach der Abstand bis zur nächsten Wohnsiedlung das Zehnfache der Höhe der Anlage betragen muss. Ist die Anlage 200 Meter hoch, soll sie 2 Kilometer entfernt stehen. Einerseits gilt diese Regel, andererseits gilt sie nicht.

Jedem Bürgermeister (und jeder -in) steht es nämlich frei, in seinem/ihrem Stadt- oder Gemeinderat einen Beschluss über einen geringeren Abstand zwischen der Stadt oder dem Dorf und der Anlage herbeizuführen. Da Konflikte drohen, wie jeder ahnt, sobald ein solcher Beschluss gefasst ist, haben sich sieben Gemeinden in Oberbayern zusammen geschlossen und der Dienste Peter Beermanns versichert. Beermann hat Fachkenntnis, denn er besitzt in München ein Planungsbüro für Windanlagen. Eine Ausschreibung des Freistaates gewann er und so ist er nunmehr der Windkümmerer für die sieben oberbayerischen Gemeinden.

Wer ein Planungsbüro betreibt, dürfte der Erzeugung von Strom durch Wind nicht gänzlich abhold sein. Die 10-h-Regel hält Beermann für überdimensioniert. Gälte eine 3-h-Regel – folglich 600 Meter Pflichtabstand –, wäre schon viel erreicht und Robert Habeck glücklich. Der bayerische Sonderweg ist aus Beermanns Sicht jedoch nicht allein verantwortlich für das Hinterherhinken, es gibt ja auch noch den Artenschutz, der zwar notwendig sein mag, aber jede Planung um mindestens ein Jahr verzögert, wobei dann zumeist die Klagen der Verbände eintrudeln und die Genehmigung in die Länge ziehen. Der Milan und der Schwarzstorch sind besonders gefährdet.

Meine Weisheit entstammt einem vorzüglichen Artikel der FAZ vom Donnerstag. Sein Titel: Zwei Prozent. Er erzählt, wie komplex der Bau von Windrädern ist, vor allem dann, wenn eine Vorgabe der Regierung fehlt. Wobei wir bei Markus Söder wären, der sich mit der 10-h-Regel die Windanlagen vom Leibe hält, einerseits, sich aber andererseits als grünster aller CSU-Menschen zelebriert. Darin steckt jedoch eine andere Geschichte und damit ein anderer Artikel.

Den Windkümmerer gibt es erst seit einem Jahr. An einer empirischen Grundlage für Erfolg oder Misserfolg mangelt es deshalb noch. Die sieben Gemeinden sind geneigt, Windräder aufzustellen. In diesem Bestreben sind sie unterschiedlich weit. Eine prüft noch, ob eigentlich genug Wind herrscht, in einer anderen ist schon das Vermittlungsverfahren eröffnet. Arbeit für den Windkümmerer, versteht sich.

Vier Leben und hellwach bis zuletzt

Mit 88 saß er in einer Sendung bei Markus Lanz und erzählte, dass er in deutsche Schulen ging, um über Schuld zu reden. Das war vor fünf Jahren, und Hardy Krüger sah so beneidenswert aus wie immer: Hellwach die blauen Augen, das Haar noch voll und leicht verstruppelt, aber nicht so kunstvoll wie bei Boris Johnson. Das Blond war dem Weiß gewichen, so ist das nun mal im hohen Alter, das ihm äußerlich ansonsten erstaunlich wenig anhaben konnte. Er erzählte aus seinem Leben und er hatte einiges zu erzählen. Das Arrogante, das ihn wie ein Strahlenkranz als Filmstar umgeben hatte, war nicht ganz gewichen, in der Stimme klang sie immer noch an.

Hardy Krüger besaß eine deutsche Biographie wie aus dem Bilderbuch, Schrecken inbegriffen, Schuld natürlich auch. Im Elternhaus stand eine Büste Adolf Hitlers, den Vater und Mutter verehrten. Konsequent meldeten sie ihren Sohn Eberhard August Franz Ewald mit 13 auf einer NS-Eliteschule an, auf der die Nazis die nächste Generation für die Zeit nach dem Krieg formen und prägen wollten. Bald drehte er seinen ersten Film, Nazi-Propanda, was sonst: „Junge Adler“.

Ein folgsamer Junge seiner Eltern, so sah es aus. Ideologische Kontinuität wie erwünscht. Frühe Schuld könnte man sagen, aber er war ja nur ein Junge. Mit 16 (mit 16!) musste er in den Krieg an der Westfront ziehen. Als er sich in den allerletzten Kriegstagen weigerte, auf einen amerikanische Spähtrupp zu schießen, verurteilten sie ihn zum Tode. So ging es zu im März 1945, Saboteure und Deserteure töteten sie bis in die allerletzte Stunde. Doch Hardy Krüger blieb dieses Schicksal erspart, weil ein SS-Offizier einen Rest an Anstand besaß. Und so konnte Hardy Krüger desertieren und überlebte.

Es gibt auch die Schuld, die Überlebende empfinden, weil ihnen das Privileg zuteil worden war, zu überleben, wo rings um sie massenhaft gestorben wurde. Davon erzählte Hardy Krüger bei Markus Lanz und in den Schulen, und ich kann mir vorstellen, dass er aufmerksame Zuhörer fand. „Ich bin nicht verführt, ich bin falsch erzogen worden von meinen Eltern,“ sagte er häufig.

Wie viele Leben hat ein Mensch? Als Erwachsener hatte Hardy Krüger mindestens vier. Im ersten Leben war er ein deutscher Filmstar, der nach Hollywood ging und mit den Großen drehte: mit Richard Burton und John Wayne, mit Claudia Cardinale und James Stewart. Oft genug musste er den blonden, blauäugigen Nazi-Offizier spielen, zu dem er nach dem Willen der Eltern werden sollte. Nun machten ihn die typisch deutschen Attribute, es waren die 1960er Jahre, zum Weltstar.

Irgendwann erfüllte ihn das Schauspielern nicht mehr, vielleicht blieben auch die feinen Rollen aus, die ihn fasziniert hätten. Deshalb stieg Hardy Krüger um und begann sein zweites Leben, in dem er Dokumentationen für die ARD drehte, die er „Weltenbummler“ nannte. Darin erzählte er mit seiner sonoren Stimme von fremden Ländern und fremden Gebräuchen. Er reiste umher, traf überall Freunde (tatsächlich fast ausschließlich Männer), die ihm und damit dem Publikum erklärten, warum es dort anders zuging als daheim in Deutschland. Die Reihe gibt es heute noch als DVD.

Hardy Krüger war zum Weltbürger geworden. Er lebte in Hamburg, aber mehr noch in Amerika, zumal seine dritte Frau Anita aus Kalifornien stammte. Sein Sohn, den er auch Hardy nannte, stammt aus der zweiten Ehe mit einer italienischen Malerin. Das Verhältnis zum Vater war, milde gesagt, nicht das einfachste.

Hardy Krüger sen. freundete sich mit Helmut Schmidt an, was beiden ungemein schmeichelte. Er begann sein drittes Leben, das Schreiben von Romanen und Reiseberichten. Keine gehobene Literatur, aber interessant genug, um es auf Bestsellerlisten zu schaffen. Ihm gelang, was überhaupt nicht selbstverständlich ist: So oft er sich auch häutete, blieb er doch immer eine Figur des öffentlichen Lebens, wozu eben Auftritte wie bei Markus Lanz im hohen Alter gehörten.

In seinem vierten Leben wurde er politisch –  zum Demokraten, der gegen die neue Rechte anredete. Er trat der Amadeu Antonio Stiftung bei, wetterte gegen Pegida und AfD, gehörte zu den Gründern der Initiative „Gemeinsam gegen rechte Gewalt“. Den Nimbus, der ihn bis zuletzt umwehte, setzte er für die Demokratie ein. Vor einem Jahr noch sagte er in einem Interview mit dem „Kölner Stadtanzeiger“: „All diese Demagogen von AfD und Pegida, die nun in den Parlamenten sitzen, müssen wieder heraus gewählt werden.“

Das ist nun das Vermächtnis aus dem vierten Leben, das  Hardy Krüger, im stolzen Alter von 93 Jahren gestorben in Palm Springs, uns hinterlässt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was zum Hören: You destroyed me with a smile

Mal wieder ein Lied aus der Feder von Bob Dylan. Schreibt er Verse dieser Art, sagt er ja immer, sie seien einem magischen Moment entsprungen. Meine Güte, so viele magische Momente muss man erst einmal haben.

„Love sick“ ist das erste Stücke auf seinem 30. Album, das 1997 herauskam und „Out of My Mind“ heißt. Mir imponiert die Schlichtheit der Lyrik. Das Leichte ist das Schwerste, weiß man ja. Ich mag diese Liebesschwermutslieder, die zu Zimmy passen, zu seinen immer irgendwie erstaunten Augen, den hochgezogenen Augenbrauen, der ausdruckslosen Miene, der Menschenscheue, dem verwehenden Singsang. „You destroyed me with a smile“: geht’s besser?

Love Sick

I’m walkin‘
Through streets that are dead
Walkin‘
Walkin‘ with you in my head
My feet are so tired
My brain is so wired
And the clouds are weepin‘

Did I
Hear someone tell a lie?
Did I
Hear someone’s distant cry?
I spoke like a child
You destroyed me with a smile
While I was sleepin‘

I’m sick of love
That I’m in the thick of it
This kind of love
I’m so sick of it

I see
I see lovers in the meadow
I see
I see silhouettes in the window


I watch them ‚til they’re gone
And they leave me hangin‘ on
To a shadow

I’m sick of love
I hear the clock tick
This kind of love:
I’m lovesick


The silence can be like thunder
Sometimes
I wanna take to the road and plunder
Could you ever be true?
I think of you
And I wonder

I’m sick of love
I wish I’d never met you
I’m sick of love
I’m tryin‘ to forget you

Just don’t know what to do
I’d give anything to
Be with you

Wer oder was treibt Wladimir Putin?

Was hat er vor und warum geht er so vor? Diese Fragen stellt sich momentan so ziemlich jeder, der Anteil an der Welt dort draußen nimmt, sei es privat, sei es öffentlich. Eine plausible Antwort hier wie dort lautet: Weil Wladimir Putin entweder unter Druck steht oder, angesichts seines Alters, sein Erbe sortieren will.

Putin ist 69 Jahre alt. Er lässt sein Land größer und wichtiger erscheinen, als es in Wahrheit ist. In Syrien. In Libyen. Barack Obama nannte Russland abschätzig eine Regionalmacht, womit er Recht hatte, was aber für die Nachbarländer eine existentielle Gefahr bedeutet. An den Unruhen in Kasachstan ist Russland vermutlich nicht unbeteiligt. Belarus ist abhängig wie in den alten guten Zeiten, denen Putin nachtrauert, was Größe und Einfluss anbelangt. Schließlich die Ukraine: Krim annektiert, Unruhen im Donbass orchestriert. Und jetzt 100 000 Mann unter Waffen an der Grenze. 

Wer mit Alter und Erbe argumentiert, geht davon aus, dass Putin einen politischen Zweck erreichen will: die Garantie, dass die Nato förmlich auf die Aufnahme der Ukraine und auch Georgiens verzichtet. Kann sie nicht, sagt sie, die Nato. Wenn aber die Alternative Krieg oder Zugeständnis noch näher rückt, was dann? Dann sollte der Westen Putin entgegenkommen, schreibt Klaus von Dohnanyi in seinem neuen Buch. Oder Amerika gesteht unter der Hand Russland zu, was es unbedingt zugesichert haben will. 

Putin ist gar nicht der neue Zar, nicht der unumstrittene Alleinherrscher im Kreml, wie der Westen denkt, so geht die andere Spekulation über die Gründe für sein erpresserisches Verhalten. Der Gedankengang vollzieht sich so: Zwei Fraktionen stehen sich in Moskau gegenüber – hier Putin und seine Gefolgschaft, dort die Hardliner in Militär und Geheimdienst, die kalt und illusionslos auf die Welt schauen. An Putin kritisieren sie die Fixierung auf Europa und Amerika, wobei es aus ihrer Sicht ganz egal ist, was der Westen sagt und macht. Entscheidend ist, dass er ein Papiertiger ist. Folglich wird der Westen keinesfalls eingreifen, wenn Russland sein Terrain maximal sortiert und sich Verlorenes zurückholt, wozu eindeutig die Ukraine zählt. Warum nicht das Land angreifen und besetzen, zumal es dort ja zumindest eine starke Minderheit der Russland-Freunde gibt?

Die Machtverhältnisse in Russland kann jetzt Annalena Baerbock studieren, wenn sie morgen in Moskau Sergej Lawrow trifft. Größer könnte der Gegensatz nicht sein: Hier die Novizin, dort der Veteran, seit 18 Jahren im Amt, der Inbegriff zynischer Interpretation russischer Interessen und Putins Zweitstimme. Kein Zweifel, dass er die Riege deutscher Außenminister der letzten Jahre nicht besonders ernst nahm: Steinmeier, Westerwelle, Steinmeier, Gabriel, Maas. Und jetzt wird er eben kalt lächelnd der neuen Außenministerin den unverrückbaren Standpunkt herunterbeten, wie es seine Kollegen vorher beim Treffen mit der US-Delegation und im Nato-Russland-Rat herunter gelte haben: Sicherheitsgarantien oder ihr werdet schon sehen.

Übrigens traue ich Annalena Baerbock durchaus zu, dass sie die deutschen Interessen nachhaltig vertritt. Sie hat den Vorteil, dass auch Lawrow weiß, wie wenig sie von Nord Stream 2 hält, und die Gründe, die dagegen sprechen, nehmen ja fast täglich zu. Und jemand wie sie, die mit frischen Augen den alten Haudegen studieren kann, kommt sicherlich mit neuen Eindrücken zurück, die vielleicht die Frage klären hilft, was Putin treibt: das Alter oder die Hardliner.

Allerdings muss auch die neue deutsche Regierung einsehen, dass sich der Konflikt zwischen Amerika und Russland abspielt und niemandem sonst. Das liegt schon einmal an Putins Ehrgeiz, als Großer nur mit den Großen dieser Erde zu verhandeln. Europa, und damit Deutschland, bleibt allein die Rolle des Vermittlers, wenn es hoch kommt. Und Vermittlung zwischen den Antagonisten könnte bald noch wichtiger werden.

Das Problem des Westens besteht ja darin, dass es ziemlich egal ist, ob Putin von seinem Alter oder von den Gegnern in Moskau getrieben wird. Wenn er nicht bekommt, was er will, wenn ihm lediglich ein Angebot gemacht wird, dass er eigentlich nicht annehmen kann, bleibt ihm nur diese Alternative: unehrenhafter Rückzug oder Angriff auf die Ukraine und Besetzung.

Und für Wladimir Putin ist das keine echte Alternative.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Kleine Bitte um Überraschung

Frank-Walter Steinmeier wird Bundespräsident bleiben. Seine Wiederwahl wird überwältigend ausfallen. Alle sind für ihn, mit Ausnahme der Linken, die einen eigenen Kandidaten aufstellt, den man wegen seiner Aussichtslosigkeit als Zählkandidaten bezeichnet, und auch mit Ausnahme der AfD, die Max Otte präsentiert, der jetzt Probleme mit der CDU bekommt, seiner eigentlichen Partei.

Steinmeier also. Die bekannte Größe. Stabilität in einer Zeit, in der eine neue Regierung mit einer neuen Koalition Neues anstrebt und zu allem Überfluss in der Pandemie feststeckt und sich auch mit einer Impfpflicht auf Neuland bewegt, wobei die inneren Fliehkräfte mühselig gebändigt werden müssen, weil die FDP Kompromisse einzugehen gezwungen ist, die ihr zutiefst widerstreben. Na ja.

Stabilität in unübersichtlichen Verhältnissen tut gut. Kann man also leicht rechtfertigen. Wäre eine bis dahin der Öffentlichkeit unbekannt gebliebene Frau nicht Bundestagspräsidentin geworden, hätten Steinmeier Probleme erwartet. So aber hat Bärbel Bas, die man mit einigem Recht als Alibi-Frau bezeichnen kann, dem Präsidenten die zweite Amtszeit gerettet. Wäre Rolf Mützenich Bundestagspräsident geworden, was die eigentliche Option war, wäre der Ruf nach einer Frau in einem Spitzenamt erschallt, von den Grünen, der FDP. Und die CDU/CSU hätte mit einer respektablen Kandidatin den Keil in die Koalition getrieben. Hätte sie gerne, kann sie unter diesen Umständen aber nicht.

Dass Steinmeier sich vor etlichen Monaten selbst um Wiederwahl bewarb, was für einen Bundespräsidenten ungewöhnlich ist, denn üblicherweise sagt irgendjemand, vornehmlich der Kanzler oder die Kanzlerin, er halte den Amtsinhaber für unbedingt geeignet, das Land weiterhin für fünf Jahre zu repräsentieren: geschenkt. Er darf jederzeit sagen, was er will. Und dass er und seine Frau das Land vorzüglich vertreten, ist Herrschaftsmeinung.

Steinmeier sagt viel Richtiges. Er ist ungemein sympathisch, im persönlichen Umgang locker und menschenfreundlich, was nach so langer Zeit in der zweiten und ersten Reihe der deutschen Politik durchaus eine Charakterleistung darstellt. Er unterstützt die Regierung, er flankiert sie, er hilft ihr. Mit einem SPD-Kanzler mag ihm das noch beschwingter gelingen. Der Status quo ist bei ihm in guten Händen, genauso wie die geschmeidige Reform. Das Erwartbare ist sein Fluidum. So ist er, so kennen wir ihn.

Ich persönlich würde mich aber auch mal gerne überraschen lassen.