Ein Hauch von München

Wenn jemand erwägt oder gar Anstalten macht, einen Krieg anzufangen, dann sollte er eigentlich nicht wissen, wie andere Länder darauf reagieren. Es ist einigermaßen schlau, dass er im Ungewissen bleibt; das lässt ihn vielleicht Vorsicht walten. Könnte ja sein.

Wladimir Putin ist in einer wesentlich besseren Lage. Im Ungewissen bleibt nur, ob er die Ukraine angreift. Es bleibt ihm überlassen, ob er den 100 000 Soldaten (und Soldatinnen?) samt Panzern und schwerem Geschütz den Marschbefehl erteilt oder nicht. Im Gewissen ist hingegen, dass die Nato nicht eingreifen wird, auch wenn sie so tut, als ob, indem sie ein paar Truppen in die Nähe der Ukraine verlegt. Dem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg fällt die trostlose Klarstellung zu, dass es eben einen Unterschied gibt zwischen einem Mitgliedsland des Bündnisses und einem geschätzten Land, das aber nun einmal nicht Mitglied ist und deshalb auch keinen Anspruch auf Intervention zu seinen Gunsten hat. 

Kein Wunder, dass sich die Ukraine verraten und verkauft vorkommt, auch wenn sie nicht ernsthaft auf militärischen Beistand gehofft haben wird. Der Unterschied zwischen der Schnödigkeit à la Stoltenberg und politischer Anteilnahme fällt durchaus ins Gewicht. 

Deutschland beteiligt sich an diplomatischen Bemühungen, das Schlimmste zu verhindern. Nächste Woche wird Annalena Baerbock mit ihrem französischen Kollegen wieder auf Tournee gehen. Das Normandie-Format, das aus Deutschland plus Frankreich plus Ukraine plus Russland besteht, hat Wiederbelebung erfahren. Anthony Blinken, der amerikanische Außenminister, geht bestimmt bald wieder auf Reisen.

Ein Hauch von München liegt in der Luft. Der Westen fragt sich, wie weit er Wladimir Putin entgegen kommen sollte und kommt immer wieder zum gleichen Ergebnis; Was er will, können wir ihm nicht geben – keine schriftliche Garantie, dass weder die Ukraine noch Georgien je in das atlantische Bündnis aufgenommen werden. Folglich wird Diplomatie um der Diplomatie wie damals 1938 betrieben, als der Westen glaubte, Hitler durch Zugeständnisse gebändigt zu haben.

Es stimmt ja auch, solange nicht geschossen wird, kann geredet werden. Darin liegt Trost und zugleich auch Hoffnungslosigkeit. Die Entscheidung liegt ja beim Aggressor, der die Lage herauf beschworen hat. Er kann sich begnügen oder den Krieg beginnen und ein Land dem russischen Reich einverleiben, das ohnehin ihm gehört, wie Putin behauptet. Was damals die Tschechoslowakei war, ist heute die Ukraine.

Ein Hauch München liegt in der Luft, und daher sehen die Kriegsverhinderer wieder nicht besonders gut aus. Sie ringen die Hände, sie appellieren und drohen vorsichtig mit Konsequenzen, mit Sanktionen. Sie sagen, vielleicht droht Putin ja nur und will gar nicht zuschlagen. Sie beschwichtigen, auch wider besseres Wissen, und das ist von 1938 in verheerender Erinnerung. Sie hoffen das Beste, das ist menschlich, und wir alle können nur hoffen, dass der Krieg ausbleibt.

Leider machen die Deutschen in dieser schwierigen Lage eine besonders unglückliche Figur, in Sonderheit der SPD-Anteil in der Regierung. Olaf Scholz fingiert, darin seiner Vorgängerin gleich, dass Nord Stream 2 ein normales wirtschaftliches Geschäft ist, was absurd ist. Seine Partei hat aus der späteren Phase des Kalten Krieges eine Tendenz zur Äquidistanz – gleicher Abstand zur USA und Sowjetunion/Russland. So trifft Putin hierzulande unverdient auf Verständnis. So kommt es, ganz toll,  zur Lieferung von Helmen an die ukrainische Armee. Dass sie aus dem Arsenal der Nationalen Volksarmee seligen Angedenkens stammen, ist die ironische Krönung der Verlegenheitsschenkung.

Waffen? Bloß nicht bei unserer Geschichte, lautet das rot-grüne Argument. Das Argument ließe sich genauso triftig umdrehen: Die Ukraine gehört zu den Bloodlands, in denen die Nazis wie die Kommunisten Schreckliches anrichteten, wie Timothy Snyder in seinem gleichnamigen Buch beschrieb. Damit sie sich selber verteidigen kann, benötigt sie Defensivwaffen. Helme, die sich zum Gebet abnehmen lassen, können als schwächliches Alibi verstanden werden – und werden in Kiew auch so verstanden.

Die allergrößte Peinlichkeit ist unter den Deutschen ausgerechnet ihr Altkanzler Gerhard Schröder. Er schloss kurz vor Toresschluss noch den Vertrag über Nord Stream 2. Er ging wenige Tage später in den Aufsichtsrat von Gazprom. Und jetzt mischt er sich mit Beiträgen zu Wort, die einem das Blut gefrieren lassen.

Er rügt die Außenministerin, weil sie zuerst nach Kiew und dann nach Moskau reiste. Der Ukraine wirft er Säbelrasseln vor. Der Ukraine! Nicht dem lupenreinen Demokraten, der wahrscheinlich zur Selbstverteidigung 100 000 Soldaten an der Grenze zusammenzieht, weil doch die riesige Ukraine das kleine Russland überfallen will.

Vielleicht ist es ja old school, aber ich erwarte eigentlich von ehemaligen Bundeskanzlern, dass sie weiterhin ihrem Land dienen. Bill Clinton holt sich zwar von zweifelhaften Autokraten Geld, aber für seine Stiftung, nicht zur persönlichen Bereicherung. Jimmy Carter bekam den Nobelpreis für seine unzweifelhaften Verdienste nach seiner Präsidentschaft. Ich wette, dass Angela Merkel sich weder korrumpieren lässt noch unbedingt endlich mal in ihrem Leben richtig viel Geld verdienen will.

Zwei Bundeskanzler brachten nach dem Amt Schande über sich. Helmut Kohl wollte unbedingt die Herkunft der Millionenspender für sich behalten und nahm deren Namen mit ins Grab. Gerhard Schröder verwandelte sich ex post in einen Büttel und Supermegalobbyisten im Dienst von Wladimir Putin, dessen Verwandlung in eine destruktive Kraft im internationalen Mächtespiel im entweder entgangen ist oder ihm egal ist. Ziemlich traurig. Ziemlich ruchlos.

Von Krisenzeiten bleibt, wie sich ein Land verhalten hat. Von dieser Krise wird bleiben, dass sich ein Altkanzler zur Kenntlichkeit veränderte und die neue deutsche Regierung Asche über ihr Haupt streuen muss.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.