Xi und die Zinnsoldaten

Momentan tagt in Peking der Volkskongress, dieses Riesenparlament aus 3000 Delegierten, die mit Maske dicht an dicht stehen, wie die Zinnsoldaten, die sie ja auch tatsächlich sind, der ergebene Chor zum Bejubeln der Führung, die alles richtig macht, grundsätzlich und immerdar.

Den Rechenschaftsbericht verlas der Ministerpräsident Li Keqiang. Immerhin gestand er ein, dass die Zeiten unübersichtlich sind. Damit meinte er die Pandemie und deren Folgen für die Weltwirtschaft, weshalb die Staats- und Parteiführung   auf Wachstumsziele für die kommenden Jahre verzichtet. Ein ungewöhnliches Zugeständnis.

Li ist aber nur eine Nebenfigur in diesem genau abgestimmten System. Die Sonne scheint einzig und allein auf Xi Jinping, den zweiten Mao, für den etliche Gesetze nicht gelten, die für seine Vorgänger galten. Er will länger an der Macht bleiben, als eigentlich zulässig ist. Er erhebt sich zum absoluten Herrscher in einem totalitären System und wiederholt bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass China in den kommenden Jahrzehnten in den Rang der ersten Weltmacht aufrücken wird.

Corona ist, so gesehen, eine lästige Unterbrechung im Prozess der Geschichte, der auf Chinas Wiederaufstieg abzielt. China denkt ja wie selbstverständlich in langen Etappen und ist wie eh und je auf sich selbst zentriert. Nun ist Corona aber in China entsprungen, vielleicht schon bei den Militärweltspielen Ende Oktober, ganz sicher wenig später auf einem Wildtiermarkt in Wuhan. Von dort ging die Pandemie aus und suchte sämtliche Kontinente heim. Im Ursprung handelt es sich um eine chinesische Krankheit, die von Tieren auf Menschen überging.

Auch darauf kam Xi auf dem Volkskongress zu sprechen, und ich war gespannt, was er sagen würde. Bei den Angehörigen jenes Arztes Li Wenliang, der früh vor dem Virus warnte und dafür bestraft wurde und am Ende traurigerweise an der Krankheit starb, hatte sich die regionale Führung entschuldigt. Und nun, vor den 3000? Kleine Zeichen von Selbstkritik, national oder gar international?

Natürlich nicht. X ging es um anderes. Um Machtdemonstration. Um den Führungsanspruch der KP. Um die Umdeutung der Ereignisse. Er erzählte, wie souverän und schnell und gezielt die KP auf die Krise antwortete. Nicht zögernd, verschleiernd, unsicher. Seine Apologie gipfelte in dem dürftigen Allerweltssatz, dass Krisen große Chancen bieten.

Wirklich souverän wäre es gewesen, wenn Xi sich zu einem anderen Satz verstanden hätte: Tut uns leid, Welt dort draußen, dass hier bei uns diese furchtbare Pandemie zuerst ausbrach und dann sich ausbreitete,  überall die Volkswirtschaft lahmlegte, die Bürger zu Hause isolierte und hiermit historisch beispiellose Konsequenzen verursachte. Wir werden die Wildtiermärkte nicht nur vorübergehend schließen, sondern für immer. Für das, was uns allen widerfuhr, übernehmen wir die Verantwortung.

Totalitäre Herrscher reden so nicht. Sie würden das Gesicht verlieren. Sie würden zugeben, dass sie sterblich sind, menschlich, dass ihnen Fehler unterlaufen, Irrtümer auch, Dummheiten, ja selbst die. Sie würden ihre Absolutheitsanspruch in Frage stellen. Und sie haben ja die Machtmittel, mit denen sich die Dinge auf den Kopf stellen lassen. Der chinesische Propaganda-Apparat läuft momentan auf Hochtouren, damit kein Zweifel an der Umsicht und dem Überblick aufkommt, den die KP angeblich jederzeit und immer wieder behält und somit die Geschicke des Volkes zu Wohlstand und Sicherheit lenkt und leitet.

Im nächsten Jahr wird die KP Chinas 100 Jahre alt, und sie wird den 23. Juli als welthistorisches Ereignis feiern und den imperialen Anspruch gegenüber dem Westen und der niedergehenden Supermacht USA untermauern. Im Jahr darauf finden die olympischen Winterspiele im Land statt. Noch eine Gelegenheit der Welt zu zeigen, was China kann, was China will.

Was China kann, ist imposant: Fast eine Milliarde Menschen aus der Armut befreien. Was es will, ist bedrohlich: Hongkong übernehmen, Taiwan einverleiben.

Noch aber lebt das Riesenreich im Bann von Corona wie der Rest der Welt. Erst ein Impfstoff wird das Infizieren und Sterben beenden. Erst dann verliert die Pandemie ihren Schrecken und wird Vergangenheit. Und am Vergessen hat China, das uns die Krankheit schickte, das allergrößte Interesse.

Veröffentlicht auf t-online, gestern

MJ und die Schatztruhe

Fünf Montage lang war ich gespannt, aufgeregt, fieberte ich „The Last Dance“ entgegen. Netflix hatte sich darauf kapriziert, die zehnteilige Serie über Michael Jordan und die Chicago Bulls im Zweierpack anzubieten, anstatt wie sonst alle Folgen auf einmal anzubieten. Dafür gibt es einen Grund. Die Rechte liegen beim amerikanischen Sportsender ESPN, der die Serie in Amerika ausstrahlte. Keine andere Sportdokumentation hatte je so viele Zuschauer.

„The Last Dance“ nannte Phil Jackson die Saison 1997/98. Noch einmal spielten sie zusammen, Michael Jordan und Scottie Pippen, Dennis Roman, Toni Kukoc und Steve Kerr und die anderen. Danach würde es vorbei sein, wie es Jerry Krause, der kleine, runde, gemeine Generalmanager der Bulls Anfang der Saison ankündigte. Egal, ob sie zum sechsten Mal die Meisterschaft gewännen oder nicht, die Mannschaft würde zerschlagen werden. Die Drohung galt in erster Linie Phil Jackson, dem Trainer.

Für diesen Tanz eröffnete Michael Jordan einem Fernsehteam exklusiven Zugang. 10 000 Stunden an Material entstanden, dazu kommt Ungesehenes aus den Jahren zuvor, eine Schatztruhe an Aufnahmen aus dem innersten Zirkel, aus dem Training, kleine Biographien über Pippen, Rodman, Kerr und Jackson. Und immer wieder wilde Szenen unter dem Korb und immer wieder Michael Jordans heraushängende Zunge, wenn er in die Luft steigt, stehen bleibt, während sich sein Gegenspieler schon wieder dem Boden nähert und dann verlässt der Ball seine Hand und swutsch, zischt er durchs Netz. Im Mittelpunkt des ganzen Kunstwerks steht er, der Größte aller Großen, der grandiose Hüter seines Erbes und seines Rufs, bekannt auf der ganzen Welt und nie in Vergessenheit geraten. Jordan behielt sich vor, und durfte es ganz selbstverständlich, dass das Öffnen der Schatztruhe von seiner Zustimmung abhing. Von seiner und von sonst niemandens.

Er erteilte sie im Sommer 2016. Gerade hatten die Cleveland Cavaliers den NBA-Titel geholt, der in amerikanischer Bescheidenheit Weltmeisterschaft heißt. LeBron James holte seinen dritten Ring. Er gilt als der Beste seiner Generation, er hat von Anfang an die Nummer 23 getragen , die Nummer, die MJ gehörte. Er suchte den Vergleich mit MJ, er ließ sich davon anspornen und vorantreiben, er misst sich an ihm. So halten es die Großen, sie definieren ihre eigenen Herausforderungen, sie erfüllen sich ihre eigenen Träume.

Zu unserem Glück fühlte sich Michael Jordan herausgefordert. Die Gefahr, dass James ihn einholt, ist zwar gering. Jordan gewann 6 Ringe, James wechselte in der Saison 2016/17 nach Los Angeles zu den Lakers, um ihn wurde eine neue Mannschaft aufgebaut, die in dieser Corona-Saison beste Chancen auf den Titel gehabt hätte, aber er wird 36, allzu viel Zeit bleibt ihm nicht mehr. MJ jedenfalls muss sich gedacht haben: Wird Zeit, dass ich mich in Erinnerung bringe. Er erteilte sein Placet und aus dem Irrsinnsmaterial entstand ein Meisterwerk der Sportdokumentation, eine Hagiographie, das auch, aber vor allem die Geschichte des Basketballs von einer peripheren Sportart zu einem Milliardengeschäft.

Jordan kam 1984 in die NBA. Damals war Basketball verschrieen als Sport der Schwarzen (so hieß das nun mal in jenen Tagen), die gerne koksten und von Groupies umgeben waren, die sich Kinder machen ließen, weil sie damit ausgesorgt hatten. So unvorteilhaft war der Ruf, so vernichtend das Image, zumindest für die Weißen (so hieß das nun mal in jenen Tagen), die Baseball oder Football vorzogen, eben den Sport, den Weiße dominierten. Bei Basketballspielen waren die Hallen selten ausverkauft, Fernsehübertragungen eine Seltenheit. Das begann sich schon mit Magic Johnson und Larry Bird zu ändern, vor allem aber mit MJ.

Drei Dinge kamen zusammen, damit sich der Basketball rehabilitieren und zu einem typisch amerikanischen Geschäft werden konnte:

  1. Eine kleine, ehrgeizige Klitsche in Kalifornien strebte damals auf den Markt und suchte dafür eine Galionsfigur. Sie lud den jungen Jordan ein, der keine Lust hatte und lieber einen Vertrag mit Adidas eingegangen wäre, aber sein Vater sagte ihm, lass uns hinfahren und ihnen eine Chance geben. So unterschrieb der unwillige junge Herr Jordan mit Nike einen Vertrag, der zur Grundlage für sein Vermögen geworden ist, mit dem Gehalt der Bulls als Beigabe. Das erste Paar „Nike Air Jordan 1S“ ging vor ein paar Tagen bei Sotheby’s für eine halbe Million Dollar an einen Bieter, dem Fünffachen des Schätzpreises.
  2. Ein kleiner Spartensender in Connecticut drängte damals ins nationale Geschäft. Ein NBC-Reporter namens Bill Rasmussen gründete ihn und nannte ihn kurz ESPN; Ghetty Oil kaufte sich noch vor dem Start ein. Der Sender war gedacht als private Konkurrenz für die traditionellen Kanäle und die Sportseiten der Tageszeitungen. ESPN erwarb unter anderem die Rechte zur Übertragung von Basketballspielen. Übrigens gab der Sender für den neuesten Vertrag 24 Milliarden Dollar aus.
  3. 1984 trat ein neuer Geschäftsführer sein Amt bei der NBA an: David Stern, ein fintenreicher, kluger, umsichtiger Mann, der dafür sorgte, dass die 23 Mannschaften auf 30 aufgestockt wurden und sich das Geschäft professionalisierte. Dazu fügte sich, dass Michael Jordan, der aus North Carolina stammt, bei der Lotterie 1984 von den Chicago Bulls gezogen wurde.

Jordan war nie so untadelig, wie ihn die Legende haben wollte. Glaubwürdig ist aber, dass er nicht kokste und von außerehelichen Kindern weiß ich auch nichts. Er wollte immer nur eines: gewinnen, gewinnen, gewinnen; so viele Ringe wie möglich; der Größte aller Zeiten werden. Eine Offenbarung war er schon als Rookie, als Anfänger. Allerdings dauerte es einige Jahre lang, bis eine konkurrenzfähige Mannschaft entstanden war. Es dauerte auch, bis die Bulls 1991 zum ersten Mal die Detroit Pistons schlugen, die überragende Mannschaft, die Nemesis, die den Bulls zweimal die Grenzen aufzeigten, eine Mannschaft, die mit allen Wassern gewaschen war, mit vielen Tricks und noch mehr Tücke und Willenskraft andere Teams weniger besiegte, als in den Wahnsinn trieb. Isiah Thomas war ihr Star und die Inkarnation des schmutzigen Basketballs, den seine Mannschaft aus Mangel an überragendem Talent bevorzugte. Erst als die Bulls Dennis Rodman den Pistons wegnahmen, den überragenden Verteidiger, waren sie komplett – die vielleicht beste Mannschaft aller Zeiten, auch wenn solche Superlative immer ebenso falsch wie richtig sind.

Ohne Scottie Pippen wäre MJ nicht MJ geworden. Ohne Dennis Rodman hätten sie wichtige Spiele verloren. Ohne John Parsons und Steve Kerrs Dreier wären sie nicht in Endspiele gekommen. Jordan war klug genug, seinen Mitspielern in entscheidenen Momenten zu vertrauen. Er zog zwei Gegenspieler auf sich und bediente Paxson und Kerr, die frei standen und in aller Ruhe warfen. Die Mannschaft gewann als Mannschaft.

Nein, nicht die Mannschaft, die Organisation, der Klub, die Bulls gewannen, sagte Jerry Krause, der Generalmanager. Und noch einmal, damit es auch alle verstanden, sagte er laut und deutlich, nicht Mannschaften gewinnen, Organisationen gewinnen. Er war klein, dick und größenwahnsinnig und zog viel Häme auf sich. Aber Recht hatte er doch. Krause machte Phil Jackson zum Trainer, einen ehemaligen Spieler der New York Knicks, der bis dahin nichts vorzuweisen hatte. Er holte Scottie Pippen und die anderen Rollenspieler. Er formte die Mannschaft. MJ musste nicht mehr wie früher jeden Ball haben und jeden Wurf nehmen und dann doch verlieren, obwohl er 40, 50, 60 Punkte machte. Er konnte beweisen, dass er eine Mannschaft besser machen konnte wie Magic Johnson, dass er eine Mannschaft führen konnte wie Larry Bird. Erst unter diesen glücklichen Umständen wurde aus Michael Jordan der König des Basketballs, weltweit verehrt und weltweit gekauft. Der ungeliebte, auftrumpfende, verkannte Jerry Krause krönte den geliebten, genialen Michael Jordan.

Natürlich wäre es zu viel verlangt, wenn Michael Jordan zur Rehabilitation Jerry Krauses beitrüge, der 2017 starb und posthum in die Hall of Fame aufgenommen wurde, immerhin. Mit so viel Souveränität hätte MJ seinen Ruhm allerdings auch mehren können.

„The Last Dance“ ist eine wunderbare Dokumentation, über die sich noch viel mehr schreiben ließe, über Jordan und seinen Vater, über den Jordan, der 2001 sein drittes Comeback für die Washington Wizards feierte, natürlich wenig glücklich, über die Reagan-Jahre, in denen er aufstieg, über seine Abstinenz von jeder Politik, über seine wilde Zockerei. Aber, Freunde, schaut euch einfach die zehn Folgen an, sie sind jetzt alle auf einmal zu haben.

Tief in der ostdeutschen Ackerfurche

Die AfD hat sich ermannt, Andreas Kalbitz die Mitgliedschaft zu entziehen. Er hatte der Partei verschwiegen, dass er bei seinem Rundgang durch  neonazistische Kleingruppen auch der „Heimattreuen Deutschen Jugend“ angehört hatte. Sie organisierte Zeltlager für Kinder und Jugendliche, die sie militärisch drillte und ideologisch schulte, womit sie nicht zufällig an die Hitler-Jugend erinnerte. Selbst der AfD war das zu anrüchig. Die Partei erließ einen Unvereinbarkeitsbeschluss.

Nun könnte man ja sagen: Jugendsünden, was soll’s, oder auch: Da war einer auf der Suche, hatte eine Vorliebe fürs Militärische, war dann ja auch in der Bundeswehr, und ist heute ein tragendes Mitglieder dieser aufstrebenden rechten Partei, wiederum mit einer Vorliebe für völkische Romantik, weshalb er zugleich ein prominentes Mitglied im „Flügel“ ist. Interessanterweise aber gibt es genügend einflussreiche Leute in der AfD, die Kalbitz los haben möchten.

Klare Kante, oder? Na ja, es begibt sich aber, dass der Antrag nicht aufzufinden ist, mit dem Kalbitz im Jahr 2013 seinem Wunsch nach Aufnahme Ausdruck verlieh. Und was verloren gegangen ist, kann auch kein Beweis sei, ist einfach so. Außerdem müsste die brandenburgische AfD-Fraktion ihren Vorsitzenden abwählen, der  nicht mehr der AfD angehören darf. Müsste.

Denn natürlich ist Kalbitz keineswegs isoliert. Er ist einer aus der Mitte seiner Partei, beliebt und erfolgreich. Er steckt tief in der ostdeutschen Ackerfurche, in der die AfD die zweitstärkste Partei ist. Sie könnte den Erfolg genießen, sich stabilisieren und sich im Parlament hervortun. Stattdessen ist sie ruhelos und unbefriedet. Warum?

Corona ist der Grund. Corona drängt die AfD ins Abseits. Die Stunde der Exekutive verursacht die Wiederauferstehung der CDU und die Wiederbelebung der Kanzlerin. Der Staat ist so stark, wie ihn die AfD haben möchte. Von der Einschränkung der liberalen Demokratie träumt sie sonst ausgiebig, kann jedoch heute schlecht sagen: gut so, wollen wir ohnehin. Deshalb verliert sie an Boden, an Opferstatus, den sie braucht wie der Fisch das Wasser, an der Feindseligkeit der politischen Konkurrenz.

Ich dachte eigentlich, dass die Aufmärsche der Verschwörungsliebhaber in vielen Städten die AfD beleben würde. Die Corona-Demonstranten bejubeln aber nicht Höcke oder Gauland oder Weidel, sondern Figuren wie Ken Jebsen oder Attila Hildmann oder Michael Ballweg oder Bodo Schiffmann. Das sind Einzelgänger, um es freundlich zu sagen, die auf ihren Ruhm bedacht sind. Sie phantasieren sich Verschwörungen zurecht, in denen es um die Weltherrschaft geht, um Impfintrigen, um Handy-Strahlungen, um die Vorbereitung einer Diktatur in Deutschland.

Für solche Hirngespinste gibt es nahe liegende Erklärungen. Historisch außergewöhnliche Ereignisse sind Erweckungserlebnisse für die Bänkelsänger der Apokalypse. Nach 9/11 machten sie wahlweise die amerikanischen Regierung, die CIA oder die Juden für die Anschläge auf Amerika verantwortlich. An der Weltfinanzkrise im Jahr 2007 waren sowohl ein Marderbiss als auch das Finanzjudentum schuld. 

Eine Pandemie als Auslöser einer weltweiten Großkrise kannten wir noch nicht. Kein Wunder, dass sie Angst auslöst, dass Unsicherheit grassiert, weil niemand weiß, wie lange der Impfstoff auf sich warten lässt und welche Folgen das lange Warten auslöst, gesellschaftlich wie privat. Das Bedürfnis nach ureinfachen Erklärungen und identifizierbaren Schuldigen tobt sich aus und nimmt für eine Zeitlang eher zu als ab. So lange haben die Wanderprediger ihren Auftritt.

Verglichen mit dem Irrsinn, der sich an den Wochenenden in die Städte ergießt, ist die AfD eine phantasiearme Partei. Selbstverständlich versucht sie sich an den Protest anzuhängen, was ihr jedoch nicht gelingt.

Die AfD steht am Rande. Nichts Schlimmeres gibt es für sie als Nichtbeachtung. Sie steht unter Quarantäne und wie bei einer unfriedlichen Familie in einer kleinen Wohnung brechen lange schwelende Konflikte auf.

Die AfD ist noch immer ein gäriger Haufen, in dem es keine sicheren Mehrheiten gibt und die Matadore wechseln. Am ehesten lassen sich zwei Grundtendenzen unterscheiden: Die einen wollen die AfD in eine rechte CDU verwandeln, die auf mittlere Sicht regierungsfähig wird. Die anderen streben eine Art Antiparteienpartei an, die zwar in Parlamenten sitzt, aber auf die Herrschaft der Straße zielt – mehr Pegida und weniger AfD. Wenn schon Machtergreifung, dann wie 1933.

Der Matador der einen ist Jörg Meuthen, der Matador der anderen Björn Höcke.

Meuthen, der Professor für Volkswirtschaftslehre, überhob sich damit, den halbfaschistischen „Flügel“ auszuschließen und begnügte sich jetzt mit Andreas Kalbitz. Kalbitz bot sich mit seiner Heimlichtuerei über seine Vergangenheit geradezu als Ersatzhandlung an. Zugleich ist er ein Gefolgsmann Höckes und somit ein Symbol dafür, dass der Kampf um die Seele der Partei erst begonnen hat. 

Nun dürfen wir gespannt sein, was folgt. Kalbitz könnte einfach bleiben, was er ist, Fraktionsvorsitzender und Flügelfreund. Beschlüssen des Bundesvorstandes muss Brandenburg nicht unbedingt nachkommen. Die AfD ist vor allem in Ostdeutschland immer für Überraschungen gut. Gut möglich, dass seine Fraktion ihren Kalbitz als Vorsitzenden behalten will, selbst wenn er parteilos ist. Dann aber wäre Meuthen nur eine Pappfigur, das bürgerliche Aushängeschild einer antibürgerlichen Partei.

Die Suche nach dem Mitgliedsantrag geht weiter, keine Frage, genau so wie der Machtkampf. Björn Höcke spricht von „Verrat“ und will die „Zerstörung unserer Partei“ verhindern. 

Am Ende dürfte ein Rücktritt fällig sein. Kalbitz oder Meuthen, das ist die Frage. Ich tippe auf: Meuthen.

Veröffentlicht auf t-online, gestern

Ein paar Goldtaler für die SPD

Wenn ich Sozialdemokrat wäre, würde ich mich auch über die Ungerechtigkeit der Welt beschweren. Schließlich regiert die SPD in Berlin in der Corona-Krise mit der Union, bekommt aber von den Goldtalern nichts ab, die auf den Koalitionspartner niederregnen.

Olaf Scholz verteilt Milliarden Euro, wie es nur ein Finanzminister kann. In den Talkshows, in denen er viel Lebenszeit verbringt, argumentiert er ruhig in hanseatischer Sprödigkeit. Markus Heil hat das Kurzarbeitergeld noch einmal aufgestockt und ist ebenfalls ein Ausbund an wacher Sachlichkeit. Und der Außenminister Heiko Maas hat 240 000 Deutsche unbürokratisch aus der ganzen Welt nach Hause fliegen lassen.

Drei SPD-Minister gehen ihrer Arbeit umsichtig und energisch nach. Sind ständig in den Nachrichten, sitzen häufig in Talkshows, tragen das Ihre zur Bewältigung der Corona-Krise bei, machen keinen Heckmeck, stehen in Übereinstimmung mit der Kanzlerin, und was hat die SPD davon?

Wenig. Bei den allfälligen Umfragen geht die Union durch die Decke, bewegt sich im Umkreis von 40 Prozent, wo sie sich lange nicht mehr bewegt hat, ist somit formell wieder eine Volkspartei. Die SPD hingegen dümpelt weiterhin bei 15 bis 16 Prozent, als wäre nichts gewesen, als stünde ihr kein ein einziger Goldtaler zu. Sie verharrt im Niemandsland, eingequetscht zwischen AfD und Grünen.

Gerecht ist das nicht, das stimmt schon. Im Beklagen der Ungerechtigkeit ist die SPD aber ohnehin eingeübt. Allerdings wäre es besser, wenn sich ihre Klage auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezöge, zum Beispiel auf den Gegensatz zwischen Arm und Reich, der sich in Krisenzeiten gewöhnlich sogar verschärft. Daraus könnte sie Lebenselixier für Reformen schöpfen. Leider aber verwandte sie zuletzt viel Herzblut darauf, Reformen zu reformieren, die ihr letzter Bundeskanzler eingeführt hatte, und das ist ziemlich lange her. Und die intensive Selbstbeschäftigung ist die momentan einzige Kunstform, welche die SPD virtuos beherrscht.

Stellen wir uns mal kurz vor, Olaf Scholz wäre nicht gescheitert, sondern Vorsitzender der ältesten deutschen Partei geworden und säße in dieser Eigenschaft neben Markus Söder und Angela Merkel auf dem Podium und würde den Deutschen die neuesten Maßgaben für die milde Wiedereröffnung von Geschäften und Restaurants mitteilen. Genauso wenig wie die Kanzlerin müsste er für seine Partei trommeln, da ohnehin jeder Zuschauer und jede Zuschauerin genau wüsste, um wen es sich handelt: um den Vorsitzenden der SPD.

Ich vermute, seine Partei stünde dann um einiges besser da, sagen wir: bei 20 Prozent. Das wäre nicht berauschend, aber ein solider Fortschritt und die SPD läge mal wieder vor den Grünen.

Als Wortführer der SPD-Länder sitzt statt dessen der Hamburger Bürgermeister Peter Tschenscher auf dem Podium, ein ebenfalls angenehm sachlicher Mann mit Vorkenntnissen als Arzt. Er komplettiert die Riege hochkompetenter Sozialdemokraten in herausgehobenen Ämtern, denen man gerne zuhört und in dieser Krise Vertrauen schenken kann.

Die SPD hat nun aber zwei Vorsitzende, die keinerlei Regierungsfunktion innehaben und in dieser Krise keinerlei Rolle spielen. Sie könnten unsichtbar und unhörbar bleiben, da sie nun einmal nichts beizutragen haben. Wäre konsequent. Saskia Esken lässt auch dankenswerterweise kaum etwas vernehmen. Norbert Walter-Borjans vermag das Wasser allerdings weniger gut zu halten.

Vor ein paar Tagen erinnerte er sich plötzlich daran, dass immer noch Nuklearwaffen auf deutschem Boden lagern. Schien er vergessen zu haben. Offenbar erschrak er darüber, als es ihm wieder einfiel. Dafür sorgte ein Parteifreund, der momentan auch nicht besonders gefragt ist, nämlich der Fraktionsvorsitzende im Bundestag Ralf Mützenich, der meinte, die Atomwaffen müssten weg, da unter Präsident Trump das Eskalationsrisiko unüberschaubar geworden sei. Walter-Borjans sprang ihm heftig bei und sagte markant, er sei gegen den Einsatz von Atomwaffen.

Wer wäre das nicht. Ich kenne niemanden, der dafür ist. Ich kenne auch niemanden, der darin gerade jetzt ein brennendes Problem sähe. Im übrigen hat Sicherheitspolitik zwar mit Moral zu tun, aber nicht so ausschließlich, wie es die beiden Weltstaatsmänner Mützenich und Walter-Borjans darstellen. Zur Klarstellung müssten sie sich nur mal in den baltischen Ländern oder in Polen umhören.

Man wird den Eindruck nicht los, dass da zwei unausgelastete Sozialdemokraten nach einem Thema suchten, damit sich die Welt mal wieder um sie dreht. Sie versuchten es mit Populismus und schielten auf Beifall. Ihr Vorstoß wurde sogar wahrgenommen, schaffte es auf die Nachrichtenseiten in den Tageszeitungen, aber das war’s auch.

Corona verschlingt alles andere. Hätte man wissen können. Ist einfach so. Wird sich auch wieder ändern, aber nicht so schnell.

Stellen wir uns kurz mal vor, die beiden SPD-Vorsitzenden samt dem Fraktionsvorsitzenden hätten es sich einfallen lassen, ihre Minister in der Bundesregierung ausgiebig für ihre gute Arbeit zu loben. Das wäre nicht nur angemessen, sondern vielleicht sogar hilfreich. Sie könnten sich in den Dienst der Sache stellen, was ohnehin zu ihrem Job gehört, und dazu beitragen, dass der Anteil der SPD am guten Regieren in schwierigen Zeiten angemessen gewürdigt wird.

Dafür könnten sie aus der Versenkung auftauchen und in den Talkshows sitzen oder den Tageszeitungen Interviews geben. Sie müssten nur so auftreten wie Scholz oder Heil: sachlich, kompetent, unaufgeregt. Die SPD würde als schlagkräftige Einheit wahrgenommen, als eine Partei, welche die üblichen Konkurrenzkämpfe und Eifersüchteleien zurückstellt, weil es die Krise verlangt.

Dann fänden die Wähler womöglich einen Grund, nicht nur die Union, sondern auch die SPD mit ein paar Goldtalern zu bedenken.

Natürlich verlangt der Dienst an der Sache eine gewisse Selbstlosigkeit. Nicht jedem ist Ego-Kontrolle gegeben. Nicht jeder eignet sich dafür. Aber man kann es ja damit zur Abwechslung mal probieren. Rollenwechsel zahlen sich fast immer aus. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt es sich in diesen Tagen, Markus Söder zu betrachten.

Es fällt ja auf, dass niemand das Loblied auf die Kanzlerin schöner singt als der bayerische Ministerpräsident. Niemand profitiert davon mehr als eben dieser bayerische Ministerpräsident, der an Popularität mächtig zugelegt hat und wie zufällig in der Gunst der Union weit vor den anderen Kandidaten auf die Merkel-Nachfolge liegt.

Ja, der Söder Markus weiß genau, was er tut. Besondere Zeiten bedürfen besonderer Charaktere. Darauf hat er sich schneller als andere eingestellt. Er wird sich auch wieder zur Kenntlichkeit zurück verändern, keine Sorge, aber in der Zwischenzeit bewegt er sich in seiner eigenen Komfortzone.

Anstatt über die Ungerechtigkeit der Welt zu klagen, könnten Sozialdemokraten davon lernen, was andere richtig machen.

Veröffentlicht heute auf t-online

Meine Eltern im Mai 1945

Eigentlich müsste heute in Berlin der Feiertag sein, der an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Denn erst am 9. Mai 1945 unterzeichneten Deutsche und Russen im Hauptquartier der 5. Sowjetischen Stoßarmee in Karlshorst die bedingungslose Kapitulation. Darauf hatte Stalin bestanden, nachdem das Deutsche Reich schon zweimal im Westen kapituliert hatte. Der Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg besiegelte an diesen beiden Tagen dreimal mit seiner Unterschrift das Ende des Dritten Reiches.

Mein Vater war 25 Jahre und schwer kriegsversehrt. Für den Gefreiten Johann Paul Spörl war der Krieg am 3. Februar 1942 bei Charkow vorbei gewesen: Wundbrand nach Treffern in beiden Beinen. Davon erholte er sich in den nächsten drei Jahre bis zur Kapitulation in einem Lazarett in Franzensbad, wo seine beiden Beinstümpfe, 10 cm unterhalb der Knie, soweit heilten, bis ihnen Prothesen angepasst werden konnten, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2007 tragen würde.

Meine Mutter war damals im Mai noch ein paar Tage lang 20 Jahre alt und Mutter eines winzigen Sohnes, der am 12. März geboren worden war. Als BdM-Mädchen hatte sie dem Landser Hans Spörl Briefe schreiben müssen. Aufmunterungsbriefe, damit er wusste, dass da jemand in der Heimat an ihn dachte, während er an der Ostfront Krieg führte. Durchhalteappelle, damit er seine Beine für das Vaterland hinhielt. Trostbriefe, denn was hatte ein Bauernsohn aus dem fränkisch-thüringischen Grenzgebiet schon außer seinem nackten Leben, woraus er in der Angst Hoffnung auf eine irgendwie geartete Zukunft schöpfen konnte?

Da war nun immerhin diese Luise Karoline Elisabeth Harth, die sich Carola nannte, wohnhaft zuerst in Kusel, dann in Saarbrücken, dann in Metz, die ihm Briefe zukommen ließ. Und als sie dann aus dem Westen in den Osten des Reiches fliehen musste und nichts hatte und nicht wusste, wohin sie fliehen sollte, da erinnerte sie sich an ihren Brieffreund und machte sich auf den langen, mühsamen Weg nach Franzensbad, um diesen Hans Spörl aufzusuchen, den sie jetzt kennenlernen wollte. Jetzt brauchte sie ihn genau so, wie er sie gebraucht hatte, ohne dass sich beide gekannt hätten.

Bald war sie schwanger. Bald heirateten sie, am 2. September 1944. Bald lebten sie in diesen schönen Maitagen des Jahres 1945 in einer kriegsgeschädigten Villa in Hof, einquartiert mit aus Schlesien geflohenen Adeligen, die Mitleid mit dieser jungen Frau und ihrem Kind hatten und meiner Mutter rieten, den Wurm doch sterben zu lassen, so mickerig wie er war, lohnte sich doch nicht, hatte keinen Sinn. Ihr Verhältnis zur deutschen Aristokratie blieb von solchen Gesprächen getrübt, wie man sich denken kann.

Was haben meine Eltern gefühlt, gedacht, als der Krieg vorbei war, als keine Deserteure mehr an den Laternen hingen, als die amerikanischen Panzer durch Hof rollten und es keine Nazis mehr gab, sondern nur noch innere Widerstandskämpfer? Meine Mutter sagte, das Schlimmste sei die absolute Unsicherheit gewesen, diese grauenhafte Ungewissheit, wie es weiter geht, wovon sie leben sollten, ob mein Vater eine Anstellung finden würde, ob ihr Kind überleben würde, ob sie sich auf den Vater ihres Sohnes Hans-Friedrich würde verlassen können, den sie viel zu wenig kannte, um zu wissen, was er für einer war, ob sie eine Wohnung finden würden, denn in der Villa wollten sie nicht bleiben, und alles hing ja ohnehin davon ab, was die Amerikaner mit ihnen vorhatten, mit ihnen machen würden, mit Deutschland machen würden.

Die Eltern meines Vaters hatten 24 Kilometer entfernt von Hof in Lichtenberg ein Gasthaus und besaßen auch Land, das sie bewirtschafteten. Von den beiden Söhnen, die sie Johann Paul und Paul Johann tauften, war aus Sicht der Mutter der Falsche wieder gekommen, nicht der jüngere, sondern der ältere. Dass er auf Prothesen laufen musste, nannte sie denkwürdigerweise „den Grund für seine Sündenschuld“. Vielleicht meinte sie damit die Schuld dafür, dass er die Sünde begangen hatte, nicht zu sterben wie sein Bruder, oder dass er wenigstens zu Recht seine Beine eingebüßt hatte, wo doch sein Bruder das ganze Leben verlor. Vielleicht stellte sich diese harte Mutter es sich so vor, dass die beiden gewürfelt hatten, wer überleben darf , und was der andere, der starb, dem Überlebenden an Leiden auferlegen durfte, damit der das Glück, am Leben zu bleiben, wenigstens durch Verlust der Beine bezahlen musste. So machte sie den Sohn, der heimkehrte, für den Tod des Sohnes verantwortlich, der nicht heimkehrte.

Seine Eltern sucht man sich nicht aus. Man findet sie vor. Mein Vater fuhr fortan immer wieder nach Lichtenberg und versorgte Frau und Kind mit Brot und Wurst und Eiern und allem Lebenswichtigem. Er fand bald eine Anstellung bei der Alten Volksfürsorge und bekam eine Versehrtenrente. Bald durfte die kleine Familie in eine Wohnung mit Toilette auf dem Flur einziehen. Bald besaßen wir einen VW mit dem Kennzeichen HO – C 204 und fuhren nach Italien in den Urlaub. Bald ging auch meine Mutter arbeiten. Bald bauten meine Eltern ein Haus in der Hügelstraße 33. Ihre Kinder gingen aufs Gymnasium und nahmen das Studium auf, denn ihnen sollte es besser ergehen als den Eltern. Wir waren die Spörls, eine deutsche Nachkriegsvorzeigefamilie.

Als die Mauer fiel, als die Welt zusammenbrach, die im Mai 1945 entstanden war, fragte ich meinen Vater, ob ich mit ihm nach Charkow fahren sollte, dorthin, wo er verwundet worden war. Er wollte nicht. Er war froh, dass er überlebt hatte, im Gegensatz zu seinem Bruder und den vielen andere Kameraden im Krieg.

Als mein Vater starb und ich mit meiner Mutter über die frühen Jahre redete, den Krieg und ihre Anfänge, da sagte sie, er habe ihr damals in Franzensbad wahnsinnig leid getan. Nichts sei einfach gewesen, die Frage, ob Befreiung oder Niederlage, hätte sie nicht gestellt. Es war eine Niederlage und der Rest Glück. Mit meinem Vater sei es später leichter geworden, als sie erst einmal wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. 64 Jahre lang waren meine Eltern Carola und Hans Spörl verheiratet.

Einer soll dürfen, was andere noch nicht dürfen

Die Wochen der großen Einmütigkeit klingen ab. War die Bundeskanzlerin gerade noch umzingelt von Wohlmeinenden, die sie für ihre Umsicht und Entschlossenheit mit Lob überschütteten, lichten sich die Reihen jetzt. FDP und AfD trompeten einträchtig für die Wiederaufnahme des Geschäftslebens unter Beachtung gewisser Regeln. SPD und Union waren sich wochenlang bewundernswert einig, wie das Virus eingedämmt werden kann und welche Einschränkungen dafür notwendig sind. Nun driften sie zumindest in Teilen wieder auseinander.

Zum großen Symbolthema ist die Bundesliga geworden. Sie will den Betrieb wieder aufnehmen. Die DFL hat ein Konzept vorgelegt. Der Fußball soll dürfen, was andere Branchen noch nicht dürfen. Die Saison wird am 16. Mai fortgesetzt. In einigen Wochen wissen wir, wer Deutscher Meister wird und wer absteigt.

An der Bundesliga scheiden sich die Geister, kein Wunder. Gestern bei „Anne Will“ war Armin Laschet der beredte Befürworter für die Fortsetzung des Spielbetriebs, assistiert von Christian Lindner. Beide haben den Kollateralnutzen ihrer Meinung scharf im Blick. Laschet möchte die Kanzlerin beerben, Lindner den Schwefelgeruch vergessen lassen, der ihm seit dem Platzen der Jamaika-Koalition und der Wahl von Erfurt anhängt. Wer sich mannhaft für den Fußball einsetzt, bekommt Beifall von vielen Süd- oder Nordkurven, so viel ist klar.  

Gegen Geisterspiele in Corona-Zeit argumentierten Annalen Baerbock von den Grünen und Karl Lauterbach (SPD). Baerbock, die selber im linken Mittelfeld spielte, führte Gründe der Egalität an: Kinder dürfen nicht auf den Bolzplatz, aber Neuer, Reus & Co dürfen ins Stadion? Geschickter Populismus, könnte man sagen. Lauterbach tritt seit Wochen in Talkshows weniger als Politiker denn als Wissenschaftler auf. Wenn schon Spiele, dann müssten die Spieler aber auch in Quarantäne, schlägt er vor. Klingt virologisch plausibel.

Der Fußball taugt bestens als Symbolthema in diesen Tagen, in denen es um eine sanfte Wiedererweckung der ins Koma versetzten Volkswirtschaft geht. Wo Männer in kurzen Hosen dem Ball hinterher jagen, geht es einerseits um Kapitalismus in Reinkultur und andererseits um tiefenscharfe Emotionen eines mehrheitlich männlichen Publikums, das sich über Klubgrenzen hinweg zu einer Romantik bekennt, die auf Kindheitserlebnisse zurückgeht.

Aus dieser Besonderheit leiten die Matadore der Bundesliga das Recht auf Privilegien ab. Worum es geht, hat Uli Hoeneß in schönster Einfalt geäußert: Geisterspiele, sagte der Erfinder des Festkontos, seien zwar unschön, aber „lebensnotwendig und bedingungslos“. Da keine Zuschauer im Stadion sitzen dürften, könnten ARD und ZDF ja die Spiele übertragen, wofür sie lebensnotwendig an die Klubs zahlen sollen und zwar bedingungslos.

Dass ihm das Sonderrecht, das er für den Fußball beansprucht, entgangen ist, verrät eine Nebenbemerkung über die politische Debatte dieser Tage: Er würde sich sehr freuen, sagte der Uli, „wenn sich manche Öffnungs- und Lockerungsfanatiker, die zurzeit in den Meinungsumfragen nicht so gut abschneiden, etwas mehr zurücknehmen würden. Es kann nicht sein, dass für eine oder zwei Wochen mehr Spaß auch nur ein einziger Mensch mehr stirbt. Das kann keiner von uns verantworten“.

Das Risiko, dass sich Fans, die sich vor den Stadien oder privat zu den Spielen treffen, weil Fußball im Kollektiv noch schöner erlebt wird, mit Corona infizieren, gibt es durchaus. Sollte irgendjemand mal dem Uli sagen, dem Lösungsfanatiker, der sich über andere Lösungsfanatiker erregt.

Die Bundesliga schafft einen Präzedenzfall. Präzedenzfälle sind eigentlich dazu da, Maßstäbe zu straffen. Diesmal aber werden Maßstäbe gelockert.

Deutschland besteht aus Sparten und Branchen, die „lebensnotwendig und bedingungslos“ wieder ins Spiel kommen wollen. Schätzungsweise 50 Milliarden Euro fehlen der deutschen Volkswirtschaft Woche für Woche. Allein in Berlin werden normalerweise abendlich 60 000 Karten für Konzerte und Theater, für Shows und Revuen verkauft. Davon profitieren auch Restaurants, Bars und Klubs.

Notleidende Sektoren gibt es überall in Deutschland. Dabei handelt es sich um Konzerne und den Mittelstand, um Kleinunternehmer und Ein-Mann-Betriebe. Das Leben in den Städten steht deshalb surreal still und die Rezession entfaltet sich. Aus Einsicht in die Notwendigkeit halten sich die meisten Deutschen an die Regelungen, auch im Vertrauen darauf, dass Merkel/Scholz/Spahn und die anderen bei aller Ungewissheit das Richtige im richtigen Tempo angehen.

Doch das Regieren in der Corona-Zeit wird jetzt schwieriger. Ich würde der Bundesregierung wünschen, dass sie weiterhin in kurzen Abständen überprüfen könnte, welche Auswirkungen ihre Lockerungsübungen haben:  Wie viele Menschen sich infiziert haben, wie viele gestorben sind – eben wie der Sachstand ist. Um dann auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob die Kitas geöffnet werden können und die Restaurants und irgendwann alles andere auch, unter bestimmten Regeln, solange es keine Medikamente gegen Corona gibt.

Fromme Wünsche. Mit der Ruhe ist es vorbei, weil es mit der großen Einmütigkeit vorbei ist und mit der Gleichheit für alle Teile der Volkswirtschaft auch.

Veröffentlicht gestern auf t-online

Wo er war, war auch ein bisschen Karneval

Nachruf auf Norbert Blüm

Zuletzt sah ich ihn 2018 beim Deutschen Radiopreis, er zeichnete einen Münchner Moderator für die beste Nachrichtensendung aus und wetterte auf der Bühne darüber, dass die Pest des Nationalismus wiederkehrt sei und schrie gleich mehrmals in den Saal: „Habt Ihr denn nichts gelernt?“ Der Beifall brauste auf und animierte ihn dazu, sich noch einmal noch lauter über die neue deutsche Rechte aufzuregen.

Es war herrlich, wie es oft herrlich war, diesem kleinen Mann mit der Nickelbrille beim Aufregen zuzuhören. Nie war er langweilig, immer war er leidenschaftlich und oft genug lustig dazu. Man konnte ihm gar nicht böse sein, auch wenn er mindestens einmal zu viel sagte: Die Rente ist sicher.

Wenn er sprach, war etwas los

Norbert Blüm war und blieb ein Menschenfreund und das ist bemerkenswert, wenn sich ein Mensch viele Jahrzehnte in der politischen Welt bewegt, die anderen Gemüter die Lebensfreude austreibt. Ergriff er im Bundestag das Wort, blieben die anderen Abgeordneten sitzen, weil gleich was los sein würde. Wo Blüm war, war ziemlich zuverlässig auch ein bisschen Karneval.

Wer so ist, bleibt versöhnlich, behandelt Gegner nicht als Feinde und schmäht sie nicht. Er hält Grenzen ein und geht davon aus, dass andere sie auch nicht verletzen. Es ist ein grundsätzlicher politischer Konsens, in dem sich Norbert Blüm und seine Zeitgenossen bewegten. Es ist die alte Bundesrepublik mit ihrer korporativen Marktwirtschaft, die seinen Gedankenkreis bildete.

Verwurzelt in der katholischen Soziallehre

Was die CDU ursprünglich einmal sein wollte, lässt sich an ihm studieren. Verwurzelt war er in der katholischen Soziallehre, die dem Kapitalismus skeptisch gegenüberstand. Diesen Geist durchzog das berühmte Ahlener Programm von 1947, in dem solche Sätze standen:

„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.

Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“

Ganz verlassen hat ihn der Ahlener Geist nie. Ich kann mir gut vorstellen, wie er sich privat über die Hütchenspieler in den Banken und der Automobilindustrie aufgeregt hat. Eine Blüm-Schule der leidenschaftlichen Erregung hat er leider nicht gegründet.

Ein weiter Weg

Norbert Blüm ging einen weiten Weg. 1935 geboren, Kriegskind, Arbeiter-Eltern. Nach der Volksschule (wie es damals hieß) lernte er Werkzeugmacher beim Opel in Rüsselsheim. Fünf Jahre später holte er das Abitur nach und studierte Philosophie und Geschichte und Theologie und Germanistik – Spätzünder können gar nicht genug Bildung aufsaugen.

Für die Politik entdeckte ihn Helmut Kohl, der in seinen Mainzer Anfängen ein Menschenfischer ungewöhnlicher Talente war: Heiner Geißler gehörte dazu, Richard von Weizsäcker auch. Kohl war Blüms Schicksal: als Arbeitsminister, als CDU-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Er kam 1982 mit Helmut Kohl, er ging 1998 mit Helmut Kohl. Er war ihm nahe und dann brach er mit ihm, als Kohl einige Spender nicht nennen wollte, die ihm milde Gaben für die CDU zukommen ließen, weil er ihnen sein Ehrenwort gegeben hatte.

Versöhnlich wie Blüm nun einmal bei aller Aufwallungsbereitschaft war, versuchte er im Alter die Annäherung. Zwei Briefe blieben unbeantwortet. Kohl war keiner, der sich aus der Verbitterung vertreiben ließ.

Er gehörte zur kleinen Hauptstadt am Rhein

Norbert Blüm, das sonnige Gemüt, war Bonn, nicht Berlin. Er gehörte in die Zeit, in der die kleine Stadt am Rhein Hauptstadt war. Dort lebte er mit Frau und Kindern, ging in die Kneipen, in die wir auch gingen, war gesellig und frohsinnig und ließ am liebsten fünf gerade sein. Niemandem war er dauerhaft gram. Niemand war ihm dauerhaft gram.

Manchmal wissen wir erst im Tod, was wir verlieren: nicht nur einen Menschen, sondern auch ein Gemüt, ein Gedankengebäude, eine kulturelle Prägung. All das ist mit ihm dahin, und wir vermissen es zu Recht.

Veröffentlicht heute auf t-online.

Der Kampf ist eröffnet

Normalerweise lese ich Sonntag Spielberichte und studiere die Bundesligatabelle. Da wir aber im Ausnahmezustand leben, schaue ich mir die Corona-Tabelle an, die das Robert-Koch-Institut Tag für Tag veröffentlicht. Gestern waren mehr als 140 000 Menschen infiziert; knapp 90 000 davon haben es hinter sich und sind gesund; im Vergleich zur Vorwoche ging die Zahl der Neuerkrankten zurück, worin wir ein gutes Zeichen sehen sollten, sagen die Virologen, die mir Nachhilfe beim Verständnis der Zahlenflut erteilen. Fast 5000 Menschen sind in Deutschland gestorben, mögen sie in Frieden ruhen.

Es geht voran, es gibt Grund zur Zuversicht, aber nur in Maßen. Vom Gesundheitsminister stammt der Satz, am Freitag ausgesprochen, dass das Virus „beherrschbar“ sei – „beherrschbarer“ schob er rasch nach, damit bloß kein Missverständnis entsteht. Worte wollen sorgfältig gewählt sein. 

„Beherrschbar“ hätte Normalität bedeutet und nicht nur vorsichtige Lockerung der Kontaktsperre, wie sie die Regierung verkündete. „Beherrschbarer“ klingt verhalten und meint dem Sinne nach: Bloß nicht ungeduldig werden, bloß nicht denken, wir sind schon über den Berg, es geht weiter wie bisher, mit ein paar Veränderungen, okay?

In kleinen Schritten geht es voran, in Kinderschritten. Das ist folgerichtig, weil weder ein Medikament bereit steht, das den Erkrankten Linderung bringen könnte, geschweige denn ein Impfstoff erfunden wäre, der diese tückische Lungenkrankheit besiegen würde. Die Suche dauert an, zieht sich hin, vielleicht nur bis in den Herbst, vielleicht aber auch ins nächste Jahr. Niemand weiß mehr, niemand kann mehr versprechen.

Große Schritte hätten wir alle gerne, sie sind aber nicht angebracht. Sie kämen zu früh, sagen Merkel/Scholz/Söder/Spahn. Sie wären möglicherweise kontraproduktiv, sagen die Virologen. Klingt plausibel, also halten wir auf Abstand im schönsten Frühlingswetter. Verschieben Reisen, bangen um den Sommerurlaub und unsere schöne Freiheit. Macht immer weniger Spaß, muss aber sein, oder?

Unsere Gesundheit hat Vorrang. Deshalb müssen wir uns noch lange gedulden, das wissen wir seit der letzten Pressekonferenz der Kanzlerin. In Wahrheit wird bis zum Jahresende, mindestens, nichts Größeres passieren: keine vollen Fußballstadien, keine vollen Konzerthäuser, keine vollen Theater, keine vollen Kinos, keine vollen Klubs oder Restaurants, weder gästereiche Geburtstagsfeiern noch Bälle noch Weihnachtsfeiern und so weiter und so fort.

Ironischerweise ist die Länge des Ausnahmezustandes eine Folge unserer Geduld. Im Ausland preisen sie die Deutsch dafür: für ihre Disziplin, für das intakte Gesundheitssystem, für den Pragmatismus der Regierung, für die umfassende Staatshilfe für die Kleinen wie die Mittleren wie die Großen im Wirtschaftsprozess. Verglichen mit den USA und Großbritannien, mit Frankreich oder Italien, geht es uns gold mit unserem Gesundheitswesen und dem Sozialstaat.

Stimmt ja auch, ist gut so, hat aber eine Kehrseite, wie alles eine Kehrseite hat.

Ich habe noch Angela Merkel im Ohr, die uns sagte, dass 60 bis 70 Prozent aller Deutschen sich infizieren müssten, damit die Herdenimmunität erreicht sein werde, womit unser aller Schutz vor Infektion gemeint ist. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Daß die Infektionskurve abgeflacht ist, worauf es ja ankommt, damit die Krankenhäuser funktionstüchtig bleiben, bedeutet eben auch, dass der Gesamtprozess lange dauern wird, länger als anderswo.

Kleine Schritte ja. Große Schritt nein. Kann das gut gehen?

Momentan gilt der Primat unserer Gesundheit. Darüber können wir uns kaum beschweren. Dafür hat sich die Kanzlerin entschieden und deshalb hat sie unser Vertrauen, noch. Die spannende Frage ist nur, ob sie das so lange durchhalten kann, wie es die Logik ihrer Politik verlangt. 

Es ist ja nicht zu übersehen, wie der Unmut in der Wirtschaft wächst, die von den kleinen Schritten nicht begünstigt ist. Sie verlangt nach großen Schritten, sie will mehr, anderes. Galeria Karstadt Kaufhof will das Recht auf Wiedereröffnung sogar vor Gericht erstreiten. Wenn das Sommergeschäft ausbleibt, gehen Hotels und Gaststätten massenweise pleite, sagt die Lobby des Gewerbes. Wie die unvermeidliche Rezession ausfällt, hängt von der Fixierung auf kleine Schritte ab.

Ein klassischer Konflikt zwischen Gesundheit und Ökonomie zeichnet sich da ab. Er steckte von Anfang in der Corona-Krise, erst latent und nun eben manifest. Die Argumente werden in den nächsten Tagen und Wochen mit zunehmender Schärfe ausgetragen werden. Jede Seite hat für sich recht, was die Sache nicht einfacher macht, sondern erschwert.

Der politische Kampf ist eröffnet. Und wir entscheiden mit darüber, wer sich durchsetzt – mit der Geduld, die wir bewahren oder verlieren, und dem Vertrauen, das wir weiterhin in die Kanzlerin setzen oder ihr entziehen.

Veröffentlicht heute auf t-online.de