Normalerweise lese ich Sonntag Spielberichte und studiere die Bundesligatabelle. Da wir aber im Ausnahmezustand leben, schaue ich mir die Corona-Tabelle an, die das Robert-Koch-Institut Tag für Tag veröffentlicht. Gestern waren mehr als 140 000 Menschen infiziert; knapp 90 000 davon haben es hinter sich und sind gesund; im Vergleich zur Vorwoche ging die Zahl der Neuerkrankten zurück, worin wir ein gutes Zeichen sehen sollten, sagen die Virologen, die mir Nachhilfe beim Verständnis der Zahlenflut erteilen. Fast 5000 Menschen sind in Deutschland gestorben, mögen sie in Frieden ruhen.
Es geht voran, es gibt Grund zur Zuversicht, aber nur in Maßen. Vom Gesundheitsminister stammt der Satz, am Freitag ausgesprochen, dass das Virus „beherrschbar“ sei – „beherrschbarer“ schob er rasch nach, damit bloß kein Missverständnis entsteht. Worte wollen sorgfältig gewählt sein.
„Beherrschbar“ hätte Normalität bedeutet und nicht nur vorsichtige Lockerung der Kontaktsperre, wie sie die Regierung verkündete. „Beherrschbarer“ klingt verhalten und meint dem Sinne nach: Bloß nicht ungeduldig werden, bloß nicht denken, wir sind schon über den Berg, es geht weiter wie bisher, mit ein paar Veränderungen, okay?
In kleinen Schritten geht es voran, in Kinderschritten. Das ist folgerichtig, weil weder ein Medikament bereit steht, das den Erkrankten Linderung bringen könnte, geschweige denn ein Impfstoff erfunden wäre, der diese tückische Lungenkrankheit besiegen würde. Die Suche dauert an, zieht sich hin, vielleicht nur bis in den Herbst, vielleicht aber auch ins nächste Jahr. Niemand weiß mehr, niemand kann mehr versprechen.
Große Schritte hätten wir alle gerne, sie sind aber nicht angebracht. Sie kämen zu früh, sagen Merkel/Scholz/Söder/Spahn. Sie wären möglicherweise kontraproduktiv, sagen die Virologen. Klingt plausibel, also halten wir auf Abstand im schönsten Frühlingswetter. Verschieben Reisen, bangen um den Sommerurlaub und unsere schöne Freiheit. Macht immer weniger Spaß, muss aber sein, oder?
Unsere Gesundheit hat Vorrang. Deshalb müssen wir uns noch lange gedulden, das wissen wir seit der letzten Pressekonferenz der Kanzlerin. In Wahrheit wird bis zum Jahresende, mindestens, nichts Größeres passieren: keine vollen Fußballstadien, keine vollen Konzerthäuser, keine vollen Theater, keine vollen Kinos, keine vollen Klubs oder Restaurants, weder gästereiche Geburtstagsfeiern noch Bälle noch Weihnachtsfeiern und so weiter und so fort.
Ironischerweise ist die Länge des Ausnahmezustandes eine Folge unserer Geduld. Im Ausland preisen sie die Deutsch dafür: für ihre Disziplin, für das intakte Gesundheitssystem, für den Pragmatismus der Regierung, für die umfassende Staatshilfe für die Kleinen wie die Mittleren wie die Großen im Wirtschaftsprozess. Verglichen mit den USA und Großbritannien, mit Frankreich oder Italien, geht es uns gold mit unserem Gesundheitswesen und dem Sozialstaat.
Stimmt ja auch, ist gut so, hat aber eine Kehrseite, wie alles eine Kehrseite hat.
Ich habe noch Angela Merkel im Ohr, die uns sagte, dass 60 bis 70 Prozent aller Deutschen sich infizieren müssten, damit die Herdenimmunität erreicht sein werde, womit unser aller Schutz vor Infektion gemeint ist. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Daß die Infektionskurve abgeflacht ist, worauf es ja ankommt, damit die Krankenhäuser funktionstüchtig bleiben, bedeutet eben auch, dass der Gesamtprozess lange dauern wird, länger als anderswo.
Kleine Schritte ja. Große Schritt nein. Kann das gut gehen?
Momentan gilt der Primat unserer Gesundheit. Darüber können wir uns kaum beschweren. Dafür hat sich die Kanzlerin entschieden und deshalb hat sie unser Vertrauen, noch. Die spannende Frage ist nur, ob sie das so lange durchhalten kann, wie es die Logik ihrer Politik verlangt.
Es ist ja nicht zu übersehen, wie der Unmut in der Wirtschaft wächst, die von den kleinen Schritten nicht begünstigt ist. Sie verlangt nach großen Schritten, sie will mehr, anderes. Galeria Karstadt Kaufhof will das Recht auf Wiedereröffnung sogar vor Gericht erstreiten. Wenn das Sommergeschäft ausbleibt, gehen Hotels und Gaststätten massenweise pleite, sagt die Lobby des Gewerbes. Wie die unvermeidliche Rezession ausfällt, hängt von der Fixierung auf kleine Schritte ab.
Ein klassischer Konflikt zwischen Gesundheit und Ökonomie zeichnet sich da ab. Er steckte von Anfang in der Corona-Krise, erst latent und nun eben manifest. Die Argumente werden in den nächsten Tagen und Wochen mit zunehmender Schärfe ausgetragen werden. Jede Seite hat für sich recht, was die Sache nicht einfacher macht, sondern erschwert.
Der politische Kampf ist eröffnet. Und wir entscheiden mit darüber, wer sich durchsetzt – mit der Geduld, die wir bewahren oder verlieren, und dem Vertrauen, das wir weiterhin in die Kanzlerin setzen oder ihr entziehen.
Veröffentlicht heute auf t-online.de