Nachruf auf Norbert Blüm
Zuletzt sah ich ihn 2018 beim Deutschen Radiopreis, er zeichnete einen Münchner Moderator für die beste Nachrichtensendung aus und wetterte auf der Bühne darüber, dass die Pest des Nationalismus wiederkehrt sei und schrie gleich mehrmals in den Saal: „Habt Ihr denn nichts gelernt?“ Der Beifall brauste auf und animierte ihn dazu, sich noch einmal noch lauter über die neue deutsche Rechte aufzuregen.
Es war herrlich, wie es oft herrlich war, diesem kleinen Mann mit der Nickelbrille beim Aufregen zuzuhören. Nie war er langweilig, immer war er leidenschaftlich und oft genug lustig dazu. Man konnte ihm gar nicht böse sein, auch wenn er mindestens einmal zu viel sagte: Die Rente ist sicher.
Wenn er sprach, war etwas los
Norbert Blüm war und blieb ein Menschenfreund und das ist bemerkenswert, wenn sich ein Mensch viele Jahrzehnte in der politischen Welt bewegt, die anderen Gemüter die Lebensfreude austreibt. Ergriff er im Bundestag das Wort, blieben die anderen Abgeordneten sitzen, weil gleich was los sein würde. Wo Blüm war, war ziemlich zuverlässig auch ein bisschen Karneval.
Wer so ist, bleibt versöhnlich, behandelt Gegner nicht als Feinde und schmäht sie nicht. Er hält Grenzen ein und geht davon aus, dass andere sie auch nicht verletzen. Es ist ein grundsätzlicher politischer Konsens, in dem sich Norbert Blüm und seine Zeitgenossen bewegten. Es ist die alte Bundesrepublik mit ihrer korporativen Marktwirtschaft, die seinen Gedankenkreis bildete.
Verwurzelt in der katholischen Soziallehre
Was die CDU ursprünglich einmal sein wollte, lässt sich an ihm studieren. Verwurzelt war er in der katholischen Soziallehre, die dem Kapitalismus skeptisch gegenüberstand. Diesen Geist durchzog das berühmte Ahlener Programm von 1947, in dem solche Sätze standen:
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.
Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.“
Ganz verlassen hat ihn der Ahlener Geist nie. Ich kann mir gut vorstellen, wie er sich privat über die Hütchenspieler in den Banken und der Automobilindustrie aufgeregt hat. Eine Blüm-Schule der leidenschaftlichen Erregung hat er leider nicht gegründet.
Ein weiter Weg
Norbert Blüm ging einen weiten Weg. 1935 geboren, Kriegskind, Arbeiter-Eltern. Nach der Volksschule (wie es damals hieß) lernte er Werkzeugmacher beim Opel in Rüsselsheim. Fünf Jahre später holte er das Abitur nach und studierte Philosophie und Geschichte und Theologie und Germanistik – Spätzünder können gar nicht genug Bildung aufsaugen.
Für die Politik entdeckte ihn Helmut Kohl, der in seinen Mainzer Anfängen ein Menschenfischer ungewöhnlicher Talente war: Heiner Geißler gehörte dazu, Richard von Weizsäcker auch. Kohl war Blüms Schicksal: als Arbeitsminister, als CDU-Vorsitzender in Nordrhein-Westfalen. Er kam 1982 mit Helmut Kohl, er ging 1998 mit Helmut Kohl. Er war ihm nahe und dann brach er mit ihm, als Kohl einige Spender nicht nennen wollte, die ihm milde Gaben für die CDU zukommen ließen, weil er ihnen sein Ehrenwort gegeben hatte.
Versöhnlich wie Blüm nun einmal bei aller Aufwallungsbereitschaft war, versuchte er im Alter die Annäherung. Zwei Briefe blieben unbeantwortet. Kohl war keiner, der sich aus der Verbitterung vertreiben ließ.
Er gehörte zur kleinen Hauptstadt am Rhein
Norbert Blüm, das sonnige Gemüt, war Bonn, nicht Berlin. Er gehörte in die Zeit, in der die kleine Stadt am Rhein Hauptstadt war. Dort lebte er mit Frau und Kindern, ging in die Kneipen, in die wir auch gingen, war gesellig und frohsinnig und ließ am liebsten fünf gerade sein. Niemandem war er dauerhaft gram. Niemand war ihm dauerhaft gram.
Manchmal wissen wir erst im Tod, was wir verlieren: nicht nur einen Menschen, sondern auch ein Gemüt, ein Gedankengebäude, eine kulturelle Prägung. All das ist mit ihm dahin, und wir vermissen es zu Recht.
Veröffentlicht heute auf t-online.