Einer soll dürfen, was andere noch nicht dürfen

Die Wochen der großen Einmütigkeit klingen ab. War die Bundeskanzlerin gerade noch umzingelt von Wohlmeinenden, die sie für ihre Umsicht und Entschlossenheit mit Lob überschütteten, lichten sich die Reihen jetzt. FDP und AfD trompeten einträchtig für die Wiederaufnahme des Geschäftslebens unter Beachtung gewisser Regeln. SPD und Union waren sich wochenlang bewundernswert einig, wie das Virus eingedämmt werden kann und welche Einschränkungen dafür notwendig sind. Nun driften sie zumindest in Teilen wieder auseinander.

Zum großen Symbolthema ist die Bundesliga geworden. Sie will den Betrieb wieder aufnehmen. Die DFL hat ein Konzept vorgelegt. Der Fußball soll dürfen, was andere Branchen noch nicht dürfen. Die Saison wird am 16. Mai fortgesetzt. In einigen Wochen wissen wir, wer Deutscher Meister wird und wer absteigt.

An der Bundesliga scheiden sich die Geister, kein Wunder. Gestern bei „Anne Will“ war Armin Laschet der beredte Befürworter für die Fortsetzung des Spielbetriebs, assistiert von Christian Lindner. Beide haben den Kollateralnutzen ihrer Meinung scharf im Blick. Laschet möchte die Kanzlerin beerben, Lindner den Schwefelgeruch vergessen lassen, der ihm seit dem Platzen der Jamaika-Koalition und der Wahl von Erfurt anhängt. Wer sich mannhaft für den Fußball einsetzt, bekommt Beifall von vielen Süd- oder Nordkurven, so viel ist klar.  

Gegen Geisterspiele in Corona-Zeit argumentierten Annalen Baerbock von den Grünen und Karl Lauterbach (SPD). Baerbock, die selber im linken Mittelfeld spielte, führte Gründe der Egalität an: Kinder dürfen nicht auf den Bolzplatz, aber Neuer, Reus & Co dürfen ins Stadion? Geschickter Populismus, könnte man sagen. Lauterbach tritt seit Wochen in Talkshows weniger als Politiker denn als Wissenschaftler auf. Wenn schon Spiele, dann müssten die Spieler aber auch in Quarantäne, schlägt er vor. Klingt virologisch plausibel.

Der Fußball taugt bestens als Symbolthema in diesen Tagen, in denen es um eine sanfte Wiedererweckung der ins Koma versetzten Volkswirtschaft geht. Wo Männer in kurzen Hosen dem Ball hinterher jagen, geht es einerseits um Kapitalismus in Reinkultur und andererseits um tiefenscharfe Emotionen eines mehrheitlich männlichen Publikums, das sich über Klubgrenzen hinweg zu einer Romantik bekennt, die auf Kindheitserlebnisse zurückgeht.

Aus dieser Besonderheit leiten die Matadore der Bundesliga das Recht auf Privilegien ab. Worum es geht, hat Uli Hoeneß in schönster Einfalt geäußert: Geisterspiele, sagte der Erfinder des Festkontos, seien zwar unschön, aber „lebensnotwendig und bedingungslos“. Da keine Zuschauer im Stadion sitzen dürften, könnten ARD und ZDF ja die Spiele übertragen, wofür sie lebensnotwendig an die Klubs zahlen sollen und zwar bedingungslos.

Dass ihm das Sonderrecht, das er für den Fußball beansprucht, entgangen ist, verrät eine Nebenbemerkung über die politische Debatte dieser Tage: Er würde sich sehr freuen, sagte der Uli, „wenn sich manche Öffnungs- und Lockerungsfanatiker, die zurzeit in den Meinungsumfragen nicht so gut abschneiden, etwas mehr zurücknehmen würden. Es kann nicht sein, dass für eine oder zwei Wochen mehr Spaß auch nur ein einziger Mensch mehr stirbt. Das kann keiner von uns verantworten“.

Das Risiko, dass sich Fans, die sich vor den Stadien oder privat zu den Spielen treffen, weil Fußball im Kollektiv noch schöner erlebt wird, mit Corona infizieren, gibt es durchaus. Sollte irgendjemand mal dem Uli sagen, dem Lösungsfanatiker, der sich über andere Lösungsfanatiker erregt.

Die Bundesliga schafft einen Präzedenzfall. Präzedenzfälle sind eigentlich dazu da, Maßstäbe zu straffen. Diesmal aber werden Maßstäbe gelockert.

Deutschland besteht aus Sparten und Branchen, die „lebensnotwendig und bedingungslos“ wieder ins Spiel kommen wollen. Schätzungsweise 50 Milliarden Euro fehlen der deutschen Volkswirtschaft Woche für Woche. Allein in Berlin werden normalerweise abendlich 60 000 Karten für Konzerte und Theater, für Shows und Revuen verkauft. Davon profitieren auch Restaurants, Bars und Klubs.

Notleidende Sektoren gibt es überall in Deutschland. Dabei handelt es sich um Konzerne und den Mittelstand, um Kleinunternehmer und Ein-Mann-Betriebe. Das Leben in den Städten steht deshalb surreal still und die Rezession entfaltet sich. Aus Einsicht in die Notwendigkeit halten sich die meisten Deutschen an die Regelungen, auch im Vertrauen darauf, dass Merkel/Scholz/Spahn und die anderen bei aller Ungewissheit das Richtige im richtigen Tempo angehen.

Doch das Regieren in der Corona-Zeit wird jetzt schwieriger. Ich würde der Bundesregierung wünschen, dass sie weiterhin in kurzen Abständen überprüfen könnte, welche Auswirkungen ihre Lockerungsübungen haben:  Wie viele Menschen sich infiziert haben, wie viele gestorben sind – eben wie der Sachstand ist. Um dann auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob die Kitas geöffnet werden können und die Restaurants und irgendwann alles andere auch, unter bestimmten Regeln, solange es keine Medikamente gegen Corona gibt.

Fromme Wünsche. Mit der Ruhe ist es vorbei, weil es mit der großen Einmütigkeit vorbei ist und mit der Gleichheit für alle Teile der Volkswirtschaft auch.

Veröffentlicht gestern auf t-online