Meine Eltern im Mai 1945

Eigentlich müsste heute in Berlin der Feiertag sein, der an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Denn erst am 9. Mai 1945 unterzeichneten Deutsche und Russen im Hauptquartier der 5. Sowjetischen Stoßarmee in Karlshorst die bedingungslose Kapitulation. Darauf hatte Stalin bestanden, nachdem das Deutsche Reich schon zweimal im Westen kapituliert hatte. Der Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg besiegelte an diesen beiden Tagen dreimal mit seiner Unterschrift das Ende des Dritten Reiches.

Mein Vater war 25 Jahre und schwer kriegsversehrt. Für den Gefreiten Johann Paul Spörl war der Krieg am 3. Februar 1942 bei Charkow vorbei gewesen: Wundbrand nach Treffern in beiden Beinen. Davon erholte er sich in den nächsten drei Jahre bis zur Kapitulation in einem Lazarett in Franzensbad, wo seine beiden Beinstümpfe, 10 cm unterhalb der Knie, soweit heilten, bis ihnen Prothesen angepasst werden konnten, die er bis zu seinem Tod im Jahr 2007 tragen würde.

Meine Mutter war damals im Mai noch ein paar Tage lang 20 Jahre alt und Mutter eines winzigen Sohnes, der am 12. März geboren worden war. Als BdM-Mädchen hatte sie dem Landser Hans Spörl Briefe schreiben müssen. Aufmunterungsbriefe, damit er wusste, dass da jemand in der Heimat an ihn dachte, während er an der Ostfront Krieg führte. Durchhalteappelle, damit er seine Beine für das Vaterland hinhielt. Trostbriefe, denn was hatte ein Bauernsohn aus dem fränkisch-thüringischen Grenzgebiet schon außer seinem nackten Leben, woraus er in der Angst Hoffnung auf eine irgendwie geartete Zukunft schöpfen konnte?

Da war nun immerhin diese Luise Karoline Elisabeth Harth, die sich Carola nannte, wohnhaft zuerst in Kusel, dann in Saarbrücken, dann in Metz, die ihm Briefe zukommen ließ. Und als sie dann aus dem Westen in den Osten des Reiches fliehen musste und nichts hatte und nicht wusste, wohin sie fliehen sollte, da erinnerte sie sich an ihren Brieffreund und machte sich auf den langen, mühsamen Weg nach Franzensbad, um diesen Hans Spörl aufzusuchen, den sie jetzt kennenlernen wollte. Jetzt brauchte sie ihn genau so, wie er sie gebraucht hatte, ohne dass sich beide gekannt hätten.

Bald war sie schwanger. Bald heirateten sie, am 2. September 1944. Bald lebten sie in diesen schönen Maitagen des Jahres 1945 in einer kriegsgeschädigten Villa in Hof, einquartiert mit aus Schlesien geflohenen Adeligen, die Mitleid mit dieser jungen Frau und ihrem Kind hatten und meiner Mutter rieten, den Wurm doch sterben zu lassen, so mickerig wie er war, lohnte sich doch nicht, hatte keinen Sinn. Ihr Verhältnis zur deutschen Aristokratie blieb von solchen Gesprächen getrübt, wie man sich denken kann.

Was haben meine Eltern gefühlt, gedacht, als der Krieg vorbei war, als keine Deserteure mehr an den Laternen hingen, als die amerikanischen Panzer durch Hof rollten und es keine Nazis mehr gab, sondern nur noch innere Widerstandskämpfer? Meine Mutter sagte, das Schlimmste sei die absolute Unsicherheit gewesen, diese grauenhafte Ungewissheit, wie es weiter geht, wovon sie leben sollten, ob mein Vater eine Anstellung finden würde, ob ihr Kind überleben würde, ob sie sich auf den Vater ihres Sohnes Hans-Friedrich würde verlassen können, den sie viel zu wenig kannte, um zu wissen, was er für einer war, ob sie eine Wohnung finden würden, denn in der Villa wollten sie nicht bleiben, und alles hing ja ohnehin davon ab, was die Amerikaner mit ihnen vorhatten, mit ihnen machen würden, mit Deutschland machen würden.

Die Eltern meines Vaters hatten 24 Kilometer entfernt von Hof in Lichtenberg ein Gasthaus und besaßen auch Land, das sie bewirtschafteten. Von den beiden Söhnen, die sie Johann Paul und Paul Johann tauften, war aus Sicht der Mutter der Falsche wieder gekommen, nicht der jüngere, sondern der ältere. Dass er auf Prothesen laufen musste, nannte sie denkwürdigerweise „den Grund für seine Sündenschuld“. Vielleicht meinte sie damit die Schuld dafür, dass er die Sünde begangen hatte, nicht zu sterben wie sein Bruder, oder dass er wenigstens zu Recht seine Beine eingebüßt hatte, wo doch sein Bruder das ganze Leben verlor. Vielleicht stellte sich diese harte Mutter es sich so vor, dass die beiden gewürfelt hatten, wer überleben darf , und was der andere, der starb, dem Überlebenden an Leiden auferlegen durfte, damit der das Glück, am Leben zu bleiben, wenigstens durch Verlust der Beine bezahlen musste. So machte sie den Sohn, der heimkehrte, für den Tod des Sohnes verantwortlich, der nicht heimkehrte.

Seine Eltern sucht man sich nicht aus. Man findet sie vor. Mein Vater fuhr fortan immer wieder nach Lichtenberg und versorgte Frau und Kind mit Brot und Wurst und Eiern und allem Lebenswichtigem. Er fand bald eine Anstellung bei der Alten Volksfürsorge und bekam eine Versehrtenrente. Bald durfte die kleine Familie in eine Wohnung mit Toilette auf dem Flur einziehen. Bald besaßen wir einen VW mit dem Kennzeichen HO – C 204 und fuhren nach Italien in den Urlaub. Bald ging auch meine Mutter arbeiten. Bald bauten meine Eltern ein Haus in der Hügelstraße 33. Ihre Kinder gingen aufs Gymnasium und nahmen das Studium auf, denn ihnen sollte es besser ergehen als den Eltern. Wir waren die Spörls, eine deutsche Nachkriegsvorzeigefamilie.

Als die Mauer fiel, als die Welt zusammenbrach, die im Mai 1945 entstanden war, fragte ich meinen Vater, ob ich mit ihm nach Charkow fahren sollte, dorthin, wo er verwundet worden war. Er wollte nicht. Er war froh, dass er überlebt hatte, im Gegensatz zu seinem Bruder und den vielen andere Kameraden im Krieg.

Als mein Vater starb und ich mit meiner Mutter über die frühen Jahre redete, den Krieg und ihre Anfänge, da sagte sie, er habe ihr damals in Franzensbad wahnsinnig leid getan. Nichts sei einfach gewesen, die Frage, ob Befreiung oder Niederlage, hätte sie nicht gestellt. Es war eine Niederlage und der Rest Glück. Mit meinem Vater sei es später leichter geworden, als sie erst einmal wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten. 64 Jahre lang waren meine Eltern Carola und Hans Spörl verheiratet.