Stimmen aus dem Jenseits

Nebeneinander habe ich zwei merkwürdige Bücher gelesen, die mich noch immer beschäftigen, ohne dass ich Spaß am Echo, das sie in mir auslösen, finden könnte. Der Grund ist die Perspektive, aus der die beiden Autoren erzählen. Sie erzählen aus dem Jenseits.

Das eine Buch hat Ian McEwan geschrieben: „Nussschale“. Eigentlich ist es ein Kriminalroman, denn ein Mord geschieht, begangen von der Ehefrau und ihrem Geliebten, der zugleich ihr Schwager ist. Der Geliebte ist ein Schwachkopf. Was sie an ihm fasziniert, wird beschrieben auf vielen Seiten: der Sex. Über Sex verständigen und bestätigen sie sich. Denn davor und danach pesten sie sich, können nichts miteinander anfangen und leben mit viel Alkohol in den Tag hinein. Nur wenn sie über den Mord an dem Gatten und Bruder phantasieren, sind sie sich nahe. Das heruntergekommene große Haus, das eigentlich dem Gatten gehört, wollen sie nach dem Mord verkaufen und vom Erlös ausschweifend leben.

Der Gatte ist schwach. Er schreibt erfolglos Gedichte, die er im Eigenverlag druckt. Er liebt noch immer die untreue Ehefrau. Immer mal wieder kommt er vorbei, liest ihr eines seiner neuen Gedichte vor, schaut sie hungrig an, hofft darauf, dass er bleiben darf und lässt sich dann von ihr wie ein lästiger Vertreter für Geschirrhandtücher aus dem Haus komplimentieren. Sie fühlt sich gut, sie lebt auf, wenn sie ihn demütigen darf.

Sie ist ein Miststück, er ist ein lieber Kerl. In ihr wachsen Mordphantasien. In ihm reifen Gedichte. Am Ende seines Lebens winkt ihm eine Glückssträhne. Seine Gedichte sind für den Auden-Preis nominiert. Beschwingt rafft sich auf, er trifft Entscheidungen. Er will in das Haus einziehen und es renovieren. Seine Frau und sein Bruder sollen schleunigst ausziehen. Bei seinem letzten Besuch ist eine junge Frau an seiner Seite. Seine Muse, folgert die plötzlich eifersüchtige Ehefrau messerscharf.

Der Schwächling zeigt Stärke. Er muss sterben. Die beiden inszenieren den Mord als Selbstmord. Er stirbt am Steuer seines Autos. Die beiden Mörder sind nicht schlau genug für den perfekten Mord, wen wundert’s. Die Polizei fährt vor.

Shakespeare lässt grüßen. Der Bruder raubt dem Bruder die Frau. Gemeinsam bringen sie den Ehemann um. Die Aussicht auf Mord zwingt sie zusammen. Die Ausführung treibt sie auseinander. Außer Lust hält sie nichts zusammen.

Die Perspektive, aus der die „Nussschale“ erzählt wird, ist ungewöhnlich. Das Jenseits ist das ungeborene Kind. Es redet, kommentiert und reflektiert wie ein Erwachsener. Bangt um den Vater, findet den Onkel schrecklich, der ständig mit der Hochschwangeren Sex haben will, was ihr mindestens genauso gut gefällt, aber den Fötus einengt. Ihm graut davor, in diese Welt geworfen zu werden. Er liebt und hasst seine Mutter. Als die Polizei läutet, platzt die Fruchtblase. Es gibt kein Entrinnen vor dem Leben.

Dass ein werdendes Kind zum Erzähler wird, ist ein literarischer Kniff. Man kann ihn gut oder schlecht finden, gelungen oder misslungen. Ich finde ihn nur halbwegs gelungen. Konventionell erzählt, hätte daraus ein richtig gutes Buch werden können. Die künstliche Perspektive lenkt nur ab. Das Kind im Leib der Mutter berichtet vom unangenehmen Druck des Penis, von der berauschenden Ankunft des Weins, vom ungestillten Hunger und der Angst vor dem Leben. Was soll’s?

Das andere Buch heißt „Post Mortem“, Michael Jürgs hat es todkrank geschrieben. Er war ein vorzüglicher Geschichtenfinder, ein unermüdlicher Geschichtenerzähler. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber gut genug, um von ihm beeindruckt zu sein. Wenn ich ihn traf, hatte er immer schon alles gelesen, gesehen und gehört und teilte gern.

Dieses Buch handelt vom Tod und vom Leben im Jenseits danach. Dort erfährt Michael Jürgs von seinem Bruder, warum der sich damals umgebracht hat, da war er 20 Jahre alt. Er hört zu, als Roger Willemsen ein Gespräch mit Henri Nannen, Rudolf Augstein, dem Senator Burda und Axel Springer moderiert. Er trifft Gutenberg (den Buchdrucker) und Einstein, Picasso und Steve Jobs. Er trifft viele, die zu seiner Zeit lebten und vor ihm gegangen waren.

Das ist kapitelweise amüsant, aber der wehe Spaß an der Lebenskraft im Dahinsterben verging mir dann doch. Ich fühlte mich schlecht dabei, pietätlos, ich wollte ihm die epische Ausschweifen gönnen. Ich dachte mir, dass die Erinnerungsseligkeit auch ein großer Schmerz gewesen sein muss. So viel Verlust, so viele gestorbene Freunde oder auch Feinde. Dazu das Wissen, dass er ihnen bald folgen wird – und zugleich dieser letzte Triumph über den Gevatter Tod, dem er das Schreiben abrang, 270 Seiten lang. Auf ihnen konstruiert er sich ein irgendwie geartetes Jenseits, weder Himmel noch Hölle, nur ein Sammelort zur Einkehr für die Verstorbenen. Dort will er hin, wenn sich das Sterben schon nicht vermeiden lässt.

Dass sich Michael Jürgs eine Geschichte für sein Leben nach dem Tod ausdachte, ist typisch Jürgs. Aber ich hätte liebend gerne konventionelle Memoiren aus seiner Feder gelesen. Nachkriegsgeschichte von einem, der 1945 geboren wurde, alles erlebt und alle gekannt hat. Ein politischer Mensch sondergleichen, Spurensucher und Interviewkünstler. Schade, dass er lieber über andere schrieb und sie im Irgendwo zu treffen gedachte, die Weggenossen, die noch eitler waren und in aller Selbstverständlichkeit größer von sich dachten als er, was nun wirklich nicht gegen ihn spricht.

Heute Abend läuft auf Arte „Drei Tage in Quiberon“. Ich schaue mir den jungen Herrn Jürgs an, der die schöne, traurige Romy Schneider im Jahr 1981 eigentlich nur interviewen soll, aber daraus entsteht etwas anderes: eine Lebensbeichte, eine Seelenschau. Und daraus wiederum entsteht Jahre später ein beeindruckendes Buch über Romy Schneider. Doch das ist eine andere Geschichte.

In Angela Merkels Schuhen

Gestern waren wir im Sonnenschein am Teltow-Kanal spazieren. Ein Schlepperverband fuhr leer vorbei, und wir dachten schon, er liege zu hoch, um durch den Brückenbogen zu passen, war aber nicht so. Zwei Radfahrer überholten uns, eine ganze Reihe Motorboote lagen eingemottet am Gegenufer. Auf dem Rückweg durch den Wald fanden wir einen kleinen See, an den eine ausladende Wiese grenzte. Drei Menschen saßen auf einem Baumstamm, den Zeichenblock vor sich, und malten dieses Idyll, konzentriert und schweigsam. Ein Hund sprang ins Wasser und holte den dicken Ast mit kläffender Begeisterung heraus.

Die Welt kann seltsam friedlich sein. Unwirklich. Unheimlich. Die Diskrepanz ist ja auch zu grell. Der Himmel so blau und das Virus so tödlich. Spazierengehen in Gottes freier Natur und täglich neue Horrorzahlen. Ich zähle zu den Risikopatienten, denen das Virus schwer zusetzen kann, wenn es mich heimsucht. Ich hatte als Jugendlicher Tuberkulose und verbrachte ein halbes Jahr in einem Lungenheilsanatorium. Das vergisst man nie mehr, das steckt tief im Gemüt, auch bei mildem Sonnenlicht und dem blauesten Himmel. Mir macht es keinen Spaß, die Quarantäne einzuhalten, aber besser als der Tod ist Selbstdisziplin allemal.

Die dritte Woche im Ausnahmezustand ist vorüber. Auf den Balkonen singen und klatschen sie nicht mehr, wie schade. Die Spontanität hat sich ein bisschen erschöpft, ist eben so. Immerhin schlagen die Tageszeitungen unverdrossen ganze Seiten frei und stellen  Alltagshelden vor, die das Land am Laufen halten: die Altenpflegerin, den Lkw-Fahrer, die Ärztin, den Restaurantbetreiber, der die Speisekammer weg kocht und das Essen unentgeltlich an Krankenhäuser oder Polizeistationen ausliefert. 

Nach wie vor lassen sich etliche Menschen einiges in der Not einfallen, was das Herz wärmt. Die Soziologen, die Experten für gravitätische Begriffe sind, sagen dazu: Die Zivilgesellschaft tritt in die Lücke ein, die der Staat lässt. Ist gut so, muss so sein, diese Nachbarschaftshilfe ist wunderbar –  österlich ausgedrückt: diese christliche Nächstenliebe im Ausnahmezustand.

Die Geduld hält an, so sieht es zumindest aus. Klaglos standen am Samstag in Berlin lange Schlange vor dem Schlachter, dem Bäcker,  dem Obstladen, dem Supermarkt. Polizeiautos fuhren durch die Gegend, inspizierten Spielplätze, Parks und Wochenmärkte. Kein Aufruhr, wenig Ärger, Abstand und Anstand. Die Obstfrau auf dem Winterfeldmarkt verabschiedete ihre Kunden mit einem flotten Spruch, der zm Nachdenken einlädt: Bleiben Sie gesund und demokratisch!

Gesundheit ist Glückssache, kein Verdienst. Man steckt sich an oder nicht. Man stirbt oder nicht. Das Leben kann auch Lotterie sein. Das Virus trifft, wen es trifft. Es trifft nicht, wen es nicht trifft. Eine 101 Jahre alte Frau überstand die Lungenkrankheit, habe ich gestern gelesen, wunderbar. Würde ich sie überstehen?

Demokratisch bleibt das Land ganz bestimmt. Oder haben Sie Zweifel? Ich kenne eigentlich niemanden, der nicht in aller Ruhe davon ausgeht, dass wir uns irgendwann wieder öffentlich mit vielen Leuten treffen können – dass wir tun und lassen können, was wir wollen, ohne dass uns die Obrigkeit auseinander treibt. An Angela Merkel war noch vor ein paar Wochen mehr zu kritisieren als momentan, aber autoritärer Anwandlungen hat sie niemand bezichtigt.

Jetzt steht die vierte Woche an. Am Mittwoch schalten sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten zusammen und  entscheiden darüber, wie es weiter geht. Auflockern oder weiter so, das ist die Frage. Wenn Geduld und Vertrauen nicht bröckeln sollen, muss die Bundesregierung weiterhin so klug handeln, wie sie bislang gehandelt hat. Der Rat der Wissenschaftler ist wichtig, aber die politische Entscheidung ist komplexer. So ist das eigentlich immer, aber diesmal hängt noch gewaltig mehr vom richtigen Timing ab.

Stellen Sie sich vor, Sie sind Kanzlerin und müssen sich durch dieses Labyrinth bewegen: Mittelstand und Industrie mahnen zur Eile. Kleine Geschäfte wie Friseure, Buchläden, Cafés, Boutiquen gehen pleite oder stehen kurz davor. Die Mitarbeiter raten Ihnen, Sie sollten sich nicht unter Druck setzen lassen. Das Reden überlassen Sie an Ostern dem Bundespräsidenten, der die Krise zur Charakterfrage erklärt.

Die Virologen raten von einer Lockerung ab, da die Pandemie ihren Höhepunkt noch nicht überschritten hat. Armin Laschet, der Sie beerben will, gibt seine abweichende Meinung zu erkennen und profiliert sich auf ihre Kosten. Die beiden SPD-Vorsitzenden verlangen Steuererhöhungen für die Reichen, der bayerische Ministerpräsident ist für Steuersenkungen nach Corona, um den Konsum zu erleichtern und damit die Wirtschaft anzukurbeln.

In den Talkshows hagelt es Meinungen, was in Deutschland auf dem Spiel steht. Intellektuelle sagen mit gewichtigen Worten, das Land halte dieses künstliche Koma nicht lange aus.

Und dazu Tag für Tag mehr Infizierte und mehr Tote.

Schwieriger kann eine Entscheidung gar nicht sein. Niemand ist zu beneiden, der sie treffen muss. Selten ging es in den letzten Jahrzehnten um so viel wie heute. Da können wir nur Glück für das richtige Timing wünschen, in unserem eigenen Interesse.

Veröffentlicht an Ostermontag auf T-Online.

Im Mainstream, ausnahmsweise

Ich habe eigentlich etwas gegen Mainstreams. Mir fällt dann immer ein, was dagegen spricht. Ich vermute notorisch, dass einige aus Denkfaulheit, Opportunismus oder Apathie mitmachen. Das war so, als Lustangst wegen des bevorstehenden Nuklearkriegs kursierte, als der Wald starb oder die Inflation nach der Weltfinanzkrise 2007/8 drohte und der Euro platzen sollte oder die Rechte die übernächste Bundestagswahl gewinnen würde, ganz bestimmt und unabänderlich.

Wir alle wissen nicht, ob die Einschränkungen unserer Freiheit so dringend notwendig waren, wie sie eingeführt wurden. Wie die Regierung in Gestalt von Kanzlerin/Finanzminister/Gesundheitsminister argumentierte, klang es mir plausibel. Ja, ich habe Vertrauen in die Regierung. Mir macht sie nicht den Eindruck, dass sie unter totalitären Anwandlungen leidet. Ich verlasse mich darauf, dass die Maßnahmen so schnell wie möglich aufgehoben werden, meinetwegen Schritt für Schritt.

Diesmal bin ich aus Überzeugung in dem Mainstream, der mit dem Vorgehen der Regierung in Zeiten von Corona einverstanden ist und Geduld übt und den Frühsommer dort draußen genießt und dabei Abstand hält und das Beste aus dem Schlechten macht.

Natürlich schaue ich mich nach anderen Meinungen um, ob ich etwas übersehe, ob mir was entgeht, ob ich falsch liege mit meinem skeptischen Optimismus. Im „Spiegel“ dieser Woche steht ein Streitgespräch zwischen Katja Suding (FDP) und Karl Lauterbach (SPD). Katja Suding hatte diesen Satz getwittert, mit dem sie die erhoffte Aufregung auflöste: „Was ist das Leben wert, wenn wir uns die Freiheit zum Leben nehmen lassen?“ Sie spielte nicht etwa auf einen Artikel, einen Essay oder ein Buch über den Widerstand unter Hitler an. Was wie Hannah Arendt klingt, ist O-Ton-Suding und ein Kommentar zur Lage der Nation im Bann von Corona.

Als ich den Satz zum ersten Mal las, dachte ich, sie meint: lieber tot als unfrei. Meinte sie aber nicht. Im Grunde meinte sie gar nichts, was ihr aber zu einem Streitgespräch im „Spiegel“ verhalf, in dem sie dann anderes gemeint haben wollte, was sie eingehend interpretierte, womit sie sich zwar immer weiter vom ursprünglich Satz entfernte, aber egal. Sie sagte, sie wollte nur mal darauf hinweisen, dass ökonomisch gesehen Existenzen auf dem Spiel stehen und Ungewöhnliches mit unseren Grundrechten passiert, was umgehend wieder zurechtgerückt werden muss. Als hätte irgendjemand bezweifelt, dass die Rückkehr zur demokratischen Normalität mit freiem Zugang zur Öffentlichkeit dem jetzigen Zustand vorzuziehen wäre.

Es ist ja auch nicht einfach für die Parteien, die in der Opposition sind. In der Stunde der Exekutive, die von einer überragenden Mehrheit mit Vertrauen bedacht wird, fallen sie nicht auf. Die FDP ist ohnehin übel dran, weil sie zwei schwere Fehler begangen hat: Ihr hängt das Platzen der Jamaika-Koalitionsverhandlungen an und auch Erfurt, als sich einer der Ihren in aller Naivität von der AfD zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Beide Fehler sorgen für ziemlich starken Schwefelgeruch.

Die Linke hält sich zurück. Vielleicht nutzt sie die Pause zur Selbstbesinnung oder jedenfalls zur Selbstbetrachtung. Den Charme des Underdogs mit besonderer Pflege der DDR hat sie eingebüßt. Im Osten fällt sie inzwischen unter Establishment, ein Umstand, der sie nicht amüsiert. Schließlich stellt sie die stärkste Partei und den Regierungschef in Erfurt, wenn auch auf Abruf.

Am meisten haben die Grünen zu verlieren. So schön waren sie auf dem aufsteigenden Ast, so schön profitierten sie von der Schwäche der Volksparteien, die längst keine mehr sind, aber mit dem Akzeptieren Schwierigkeiten haben. In der verloren gegangenen Normalität trieben die Grünen unter Habeck/Baerbock schier unaufhaltsam nach oben, aber nichts ist unaufhaltsam, auch wenn die Ereignisse nicht abzusehen sind, die plötzlich vieles unter neuem Licht erscheinen lassen. Was tun? Freundlich bleiben. Pragmatisch bleiben. Die Regierung loben. Good governance einfordern. Abwarten. Hoffen.

Die AfD hat es am Schwersten, was ich bestimmt nicht bedaure. Ihr ist der Feind abhanden gekommen. Sie kann nicht sagen, was sie am liebsten sagt: nein und alle weg und alles muss anders werden. Den starken Staat, den sie liebt, gibt es jetzt. Und weil die Rechte keine Beachtung findet, beschäftigt sie sich mit sich sich selber. Jörg Meuthen hat ausgesprochen, worum es geht. Vermutlich kommt es jetzt noch nicht zur gewünschten Spaltung, aber der Spaltpilz sitzt in der AfD und wird seine Wirkung entfalten, darauf kann man sich einigermaßen verlassen.

Ostern steht bevor. Das Wetter wird schön und warm. Am 19. April wissen wir mehr darüber, wie lange der Ausnahmezustand anhalten wird und wann wir zur Normalität übergehen. Österreich beginnt vorsichtig damit. Wir bald auch, oder?

Wie verhindern wir die nächste Pandemie?

Während wir uns in Geduld üben, um die uns die Bundeskanzlerin bittet, und uns fragen, ob wir denn wenigstens in den Sommerurlaub fahren können, schreiben bestimmt schon etliche Menschen an Büchern über das Leben mit Corona: in Romanen wie in Sachbüchern. Die Rechte an einem Augenzeugenbericht aus Wuhan, der Quelle des Virus, sind schon verkauft.Über die Symptome wissen wir Bescheid, weil wahrscheinlich jetzt schon jeder jemanden kennt, den es erwischt hat oder der es es überstand. An jedem Morgen erfahren wir, wie viele Menschen seit gestern erkrankt und wie viele davon gestorben sind. Wirklich gespenstisch, wirklich surreal das alles.

Deutschland ist gut daran, aber das kann uns auch nicht beruhigen, weil der Infektions-Höhepunkt erst bevor steht, wie uns die Wissenschaftler vorwarnen. Vor Ostern? Nach Ostern? Unsere Regierung hat die richtigen Vorkehrungen getroffen, wir halten die neuen Regeln meistens ein, wir haben ein vorzügliches Gesundheitssystem, wir flachen die Kurve ab, aber das Virus verschont uns trotzdem nicht. Nicht leicht, geduldig zu bleiben.

Wir bleiben im Bann der Lungenkrankheit, solange kein Medikament gefunden wird, das helfen kann. Wann wird es gefunden Bis Weihnachten? Bis nach Weihnachten? Wissenschaftler weltweit fahnden nach einem Impfstoff. Es dauert, sagen sie uns, es zieht sich hin. Und immer sollen wir uns in Geduld üben.

Spätestens dann, wenn alles vorbei sein wird, wird es um Prävention fürs nächste Mal gehen: Wie lassen sich solche Viren vermeiden?

Wie sie entstehen, wissen wir: Sie springen von anderen Säugetieren auf den Menschen über. So war es bei Sars vor 18 Jahren. Tierkrankheiten werden zu Menschenkrankheiten, an denen Menschen sterben.

Donald Trump hat in seiner Ich-nehme-das-nicht-so-ernst-Phase getwittert, Corona sei ein chinesisches Virus. Er meinte damit, Amerika müsse sich nicht davor fürchten. Aus den falschen Gründen hatte er Recht.

Vom Tier auf den Menschen werden Viren auf den Wildtiermärkten übertragen, die in China eine lange kulturelle Tradition haben. Dort werden getötete oder gefangene Tiere verkauft, die von den Käufern meistens gegessen werden. Sars fand im Jahr 2002 seinen Weg über Larvenroller, das sind kleine fleischfressende Wildkatzen, hinüber zum Menschen. Die Larvenroller hatten sich zuvor bei Fledermäusen mit Sars infiziert, bevor sie auf den Markt kamen.

Meine Weisheiten verdanke ich einem Aufsatz, den der Evolutionsbiologe Jared Diamond mit dem Virologen Nathan Wolfe in der „Washington Post“ schrieb und den die „Süddeutsche Zeitung“ nachdruckte. Diamond erlangte im Jahr 2012 mit seinem Bestseller „Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen“ Weltruhm.

Wildmärkte gibt es nicht nur in China, sondern aus anderswo in Asien und darüberhinaus in Afrika. Ebola entstand im Jahr 2006 unter ganz ähnlichen Umständen in Westafrika. „Es gibt dort lebende Tiere, also liegen dort überall Fäkalien herum. Es gibt Blut, weil die Leute sie dort zerhacken“, sagt Peter Daszak, der Leiter der Organisation EcoHealth Alliance zu den Gepflogenheiten. Das globale Reisen und der globale Handel tragen dazu bei, dass sich eine Infektion sehr viel schneller ausbreitet. China ist ein Sonderfall wegen seiner schieren Bevölkerungszahl. 

Noch gibt es keine wissenschaftliche Beweise dafür, dass Covid-19 sich genauso wie Sars verbreitete. Aber die chinesische Regierung geht schon mal davon aus. Denn sie schloss diese Märkte und verbot den Handel mit Wildtieren. Auch das ist ein starker Eingriff in Lebensgewohnheiten. Wildtiere sind für viele Chinesen eine Delikatesse.

So weit, so gut. Allerdings gebe es eine zweite Bezugsquelle für den Handel mit Wildtieren: die traditionelle chinesische Medizin, schreiben Diamond/Wolfe. In ihr sind zum Beispiel die Schuppen des Schuppentieres beliebt, das ist ein kleines ameisenfressendes Säugetier, dem hemmende Wirkung gegen Fieber, Hautinfektionen und Geschlechtskrankheiten zugesprochen wird. Ideale Bedingungen, schreiben die beiden Autoren, dass tierische Mikroben den Menschen infizieren und krank machen und sterben lassen.

An Sars starben weniger als 1000 Menschen, an Ebola rund 11 000. Und an Covid-19?

Die Zahl wird höher liegen, viel höher, das wissen wir heute schon. Und Covid-19 hat viel tiefer in das Gefüge der Welt eingegriffen als jede andere Pandemie. Die langfristigen Auswirkungen können wir heute nur erahnen: politisch und wirtschaftlich, sozial und kulturell. Der Blick und die Zukunft fällt bei Diamond/Wolfe niederschmetternd aus: „Es gibt keinen biologischen Grund, warum zukünftige Epidemien nicht mehrere Hundert Millionen Menschen töten und den Planeten in eine jahrzehntelange Depression stürzen könnten.“

Muss nicht so kommen, geht auch anders. Wird der Handel mit wilden Tieren dauerhaft verboten, wird das Risiko enorm gesenkt. Die chinesische Regierung müsste eigentlich ein Interesse daran haben, denn sonst entsteht in ihrem Land die nächste Pandemie, die auf andere Kontinente überspringt.

Veröffentlicht bei t-online, heute.