Ein Krieg, der sich im Kreise dreht

Der Krieg im Gaza dreht sich im Kreis. Die Verhandlungen über eine Feuerpause samt Gefangenenaustausch sind erneut gescheitert. Die israelische Regierung gibt Feuer frei für eine neue Offensive im Süden. Die amerikanische Regierung ist massiv dagegen, lässt Care-Pakete aus Flugzeugen niederregnen, hat sich im Uno-Sicherheitsrat der Stimme enthalten und ließ somit eine Resolution „für eine sofortige und dauerhafte Waffenruhe“ passieren.

Benjamin Netanjahu beschwört nach wie vor, die Führung der Hamas zu töten. Diesem Ziel ist die Befreiung der Geiseln untergeordnet. Ungefähr 100 von ihnen sind seit dem 7. Oktober Gefangene der Hamas – Stand heute sind seither 177 Tage vergangen. Die Angehörigen verzweifeln daran, dass die Aussicht auf Heimkehr von Tag zu Tag sinkt. Dafür machen sie die Regierung verantwortlich, zu recht.

Damit sich nicht auch meine Argumentation im Kreise dreht, versuche ich heute ein Resümee aus größerer Distanz zu ziehen. Die Grundfrage lautet, was eigentlich daraus folgt, wenn wir beklagen, dass dieses militärische Vorgehen der israelischen Streitkräfte inhuman geworden ist. Gibt es eine Alternative, um die Hamas zu besiegen, eine andere militärische Strategie, ohne so viele zivile Opfer?

Dass die Hamas nach diesem Krieg nicht mehr im Gaza herrschen soll, ist unbenommen. Dass es nicht sinnvoll wäre, wenn Israel dort dauerhaft als Besatzungsmacht aufträte, wie es Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beabsichtigt, ist auch so gut wie unbenommen. Ohnehin sehen die Regierungen in den USA, Frankreich und vielleicht sogar heimlich in Deutschland mittlerweile Netanjahu als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung. 

Momentan durchkämmen israelische Soldaten den Untergrund zweier Krankenhäuser im Gaza. Ohnehin liegen die Schlachtfelder in den Tunneln, welche die Hamas grub. Das Prinzip ist seit dem Vietnam-Krieg bekannt, denn auch die Vietkong entzogen sich dem Zugriff der US-Bomber und -Truppen unterirdisch.

Vor dem Krieg, so schrieb die „New York Times“, hätten die Israelis die Tunnels auf rund 160 Kilometer geschätzt. Die Hamas habe sich gebrüstet, die Strecke sei viel größer „und jetzt erweist sich, sie hatte recht“, schreibt das Blatt. Neue Berechnungen belaufen sich auf 550 bis 800 Kilometer unter der Erde. Dort lebt die Hamas, dort hält sie die Geiseln fest, dort sind ihre Waffenlager, dort baut sie Raketen und dort bewegt sie sich wie Fische im Wasser.

Die wichtigsten militärischen und strategischen Objekte liegen unter Krankenhäusern oder Schulen, soviel ist klar. Die Vietkong hatten das Tunnelsystem erfunden. Die Hamas aber haben es auf beispiellose Weise ausgebaut und nutzen es konsequent für ihren asymmetrischen Krieg gegen Israel.

Vermutlich kostete der Bau dieses Netzwerkes tief in der Erde eine Milliarde Dollar. Die vielen Millionen, die aus Europa und den Golf-Staaten nach Gaza flossen, wurde zum größeren Teil in diese Infrastruktur investiert, anstatt in Schulen oder den Aufbau von Industrie und Wirtschaft. Die Serverfarm, das digitale Rechenzentrum der Hamas, befindet sich zum Beispiel unterhalb der Büros des Uno-Flüchtlingswerks befunden. 

Die Kämpfer der Hamas sind unten und kämpfen von dort. Die Israelis sind oben. Zwischen denen dort oben und denen unten sind die Zivilisten hilflos ausgeliefert. Je mehr von ihnen sterben, desto besser ist es für die Sache der Hamas, da sich die öffentliche und auch die politische Meinung im Westen dreht, das ist die zynische Logik.

Für die Hamas liegt das Optimum darin, dass Israel, isoliert in der Welt, den Krieg beenden muss. Für Israel liegt das Optimum in der Ausschaltung der Hamas als politischer Kraft im Gaza.

Ist die israelische Strategie erfolgreich? Weniger als die Hälfte der Tunnel sind zerstört. Die israelischen Streitkräfte behaupten, sie hätten knapp die Hälfte der 30 000 Hamas-Kämpfer ausgeschaltet – getötet oder gefangengenommen. Taktisch gesehen ist das keine schlechte Bilanz. Politisch betrachtet, sieht es anders aus.

Der Blickwinkel hat sich vor allem in den USA verändert. Joe Biden, ein überzeugter Freund Israels seit einem halben Jahrhundert, hat die Geduld verloren und wendet sich entschieden gegen die Regierung Netanjahu. Äußerungen von Emmanuel Macron schlagen in dieselbe Richtung. Selbst Außenministerin Annalena Baerbock hat den Ton leicht verschärft.

Die Frage lautet also: Kann Israel die Hamas im Krieg unter Vermeidung vieler ziviler Opfer ausschalten? Gibt es eine militärische Strategie, die aus der politischen Isolation herausführt? 

Eine notwendige Alternative ist der Aufhebung der Hungerblockade. Es ist schon erstaunlich, wie wenig Netanjahu und seine nationalreligiösen Koalitionspartner in Verlegenheit geraten, wenn Jordanien und die USA Gaza aus der Luft versorgen und dazu an einer Seebrücke arbeiten.

Eine andere militärische Möglichkeit besteht darin, gezielter gegen die Anführer der Hamas vorzugehen. Dafür wären weitaus weniger Soldaten nötig. Momentan sind ohnehin nur noch rund 50 000  im Gaza im Einsatz. Die Voraussetzung ist der Verzicht auf eine Bodenoffensive in Rafah, die sicherlich ein neues Blutbad unter Zivilisten anrichten würde.

Eine weitere Option wäre der Übergang von Krieg auf gezielte Mordaktionen, zumal sich nicht alle bekannten Figuren der Hamas noch im Gaza aufhalten dürften. So ging Israel nach dem Olympia-Attentat 1972 vor. Es dauerte Jahre, bis der letzte Attentäter von Mossad-Agenten umgebracht worden war.

Dass die Hamas bedingungslos kapituliert, glaubt niemand.  Aus ihrer Sicht läuft der Krieg gut und Israel handelt wie kalkuliert. So gesehen, kann es weitergehen wie bisher –  Luftangriffe mit Dutzenden Toten inklusive, natürlich auch mit dem Angriff auf Rafah, wo der israelische Geheimdienst 5000 bis 8 000 Hamas-Kämpfer vermutet.

Eine andere Alternative sähe so aus: Israel beendet den Krieg, begnügt sich mit dem Erreichten und verzichtet auf eine Invasion in Rafah. Diesen Rationalismus verlangt nun der amerikanische Präsident Israel ab. Ist das klug?

Natürlich birgt jede Lösung eigene Tücken. In Gaza könnte ein Machtvakuum entstehen. Die Führung der Hamas könnte überleben, die Vormacht im Gaza behalten und nichts hätte sich durch den Sieg verändert. Kann sich Israel damit zufrieden geben? Sicherlich nicht.

Am besten wäre es, wenn die Regierung Netanjahu erheblich mehr daran setzen würde, die 100 Geiseln frei zu bekommen. Noch besser wäre es, wenn der Ministerpräsident zum Rücktritt gezwungen würde. Sein Nachfolger könnte die Lastwagen mit den Lebensmitteln wieder in den Gaza fahren lassen. Und er könnte die Autorität für eine neue Strategie gegen die Hamas erlangen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Darauf kommt es jetzt an

Ralf Mützenich tut sich schwer mit der Rechtfertigung für seinen Satz, dass der Krieg in der Ukraine „eingefroren“ werden sollte. Man könnte auch sagen, der SPD-Fraktionsvorsitzende weicht ins Sachliche aus, obwohl es ihm gar nicht um die Sache geht, sondern um Moral, und die Adressaten weder Putin noch Selenskji sind, sondern die Sozialdemokraten.

Die SPD wäre auch diesmal lieber moralisch gesonnen und damit gegen den Krieg. Also ist sie beides, sowohl dagegen als auch dafür. Die goldene Mitte verkörpert Olaf Scholz, der sowohl für die weitreichende Unterstützung der Ukraine ist als auch gegen die Lieferung des Taurus-System.

In Deutschland ist die Debatte noch nicht so weit gereift, wie sie es in der Ukraine und Russland, in Israel und im Gaza notgedrungen längst ist. Dort stellt sich tiefenscharf die entscheidende Frage: Wer sind wir und was wollen wir?

Die Ukraine will ein Land aus eigenem Recht sein, das sich seine Verbündeten selbständig aussucht. Sie kämpft um ihre Identität und Existenz. Russlands Identität ist aus Sicht ihres Präsidenten durch Gebietsverluste beschädigt und die Restitution des Imperiums, die in der Ukraine beginnt, soll diese schwärende Wunde heilen.

In Israel gibt es so etwas wie Realpolitik eigentlich nicht. Jedes politische Problem ist existentiell ausgerichtet oder wird auf diese Weise verstanden. Der Überfall auf Konzertbesucher in Moskau ist furchtbar, gefährdet aber nicht Russland. Der Überfall auf die Besucher eines Pop-Konzerts am 7. Oktober aber riss einen Abgrund auf und demonstrierte, dass sich der Staat Israel nicht in Sicherheit wiegen darf. Die mittlerweile maßlose Reaktion im Gaza ist ein Spiegelbild dieser existentiellen Angst.

Auch hier stellt sich die Identitätsfrage: Was will Israel sein – eine militante Demokratie, dazu bereit, den Rechtsstaat zu beugen und Expansion in der Westbank zu betreiben, egal was die Verbündeten davon halten? Und wer will Israel sein – ein jüdischer Staat, der Araber wie Menschen zweiter Klasse behandelt und die Zwei-Staaten-Theorie verwirft?

Beide Kriege dauern an und sind von Frieden weit entfernt. Und beide Kriege haben eine Eigenschaft, die Politiker wie Mützenich oder Sarah Wagenknecht und andere übersehen. Denn darüber wird nicht nur auf den Schlachtfeldern entschieden, sondern auch bei den Wahlen, vor allem in Amerika.

Benjamin Netanjahu wie Wladimir Putin spielen auf Zeit. Putin sagte den typischen Putin-Satz, er denke nicht daran, über Frieden nachzudenken, nur weil der Ukraine die Munition ausgeht. Netanjahu gibt zu erkennen, dass er sich nicht um Joe Bidens Einwände gegen die Offensive in Rafah schert und auch nicht um die berechtigten Vorwürfe des Uno-Generalsekretärs über die verhängte Hungersnot über Gaza.

Am 5. November wählt Amerika zwischen Joe Biden und Donald Trump. Eine Alternative im wahrsten Sinne des Wortes. Wahlen entscheiden sich selten in der Außenpolitik, aber diesmal schon. In den Umfragen liegt Biden hinten, weil die Demokraten vor allem über Israel  mindestens genauso gespalten sind wie die SPD. Kann der Präsident seine eigene Partei nicht hinter sich scharen, verliert er die Wahl. Sein Motto lautet jetzt: Demokratie und Rechtsstaat sind in Gefahr, im Ausland wie im Inland.

Trump hingegen unterstützt Israel bedingungslos und stört sich nicht an den Leiden der Zivilbevölkerung im Gaza oder der Expansion im Westjordanland. Verletzungen des Völkerrechts? In Trumps darwinistischer Weltsicht gibt es immer und überall die Starken und die Schwachen und die Starken nehmen sich, was sie wollen.

Bei dieser Wahl steht auf dem Spiel, wer die Supermacht USA sein möchte – ein Garant der Demokratie oder eine isolationistische Macht, der die Ordnung in den internationalen Beziehungen gleichgültig ist? 

Natürlich schauen wir Deutschen atemlos zu, was dort drüben vor sich geht. Dabei sollten wir allerdings unsere eigenen Wahlen nicht aus den Augen verlieren. Gewinnt die europäische Rechte bei der Europa-Wahl im Juni eindeutig, wird das Rückwirkungen auf das Klima in Deutschland wie Frankreich haben. Gewinnt die AfD bei den drei ostdeutschen Wahlen ähnlich eindeutig wie prognostiziert, ändern sich auch die innenpolitischen Verhältnisse mit Auswirkungen auf die Außenpolitik.

Einige Fragen nach unserer Identität könnten sich dann stellen, denen wir eigentlich nicht ausgesetzt sein wollten – zum Beispiel diese: Sollten wir nicht die Bundeswehr schnell aufrüsten, anstatt Munition, Panzer und Raketen an die Ukraine zu liefern, die den Krieg gegen Russland eh nicht gewinnen kann? Oder: Ist es nicht besser, Trump entgegen zu kommen, damit die USA nicht Europa den Rücken kehren?

Wir leben in explosiven Zeiten und da ist es nicht einfach, Haltung zu bewahren. Wer man sein will, ist eben auch für Länder eine Charakterfrage. Im Jahr 2024 müssen wir wohl ein paar Antworten geben. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Das ist nur logisch

Adidas muss ab 2027 ohne die Nationalmannschaft klar kommen. Der eher biedere DFB erlag dem großzügigen Angebot von Nike und hofft jetzt darauf, dass die Zeit die Wunden heilt, in Herzogenaurch und den Fan-Kurven.

Es begab sich aber zu der Zeit, als Nike im Städtchen Beaverton noch eine kleine Klitsche war, dass ein junger Sportler gegen seinen Willen mit den Eltern anreiste. Der junge Mann besaß eine Vorliebe für Adidas und hätte viel lieber Schuhe mit den drei Streifen getragen, aber er gehorchte und damit war sein Schicksal besiegelt, ein ungeheuer reicher Mann zu werden.

Der Junge hieß Michael Jordan und spielte im Jahr 1984 seine erste Saison bei den Chicago Bulls. Nike entwickelte einen maßgeschneiderten Schuh für ihn, den sie „Air Jordan“ nannten. Das erste Paar, das Jordan getragen hatte, wurde im Jahr 2020 für 560 000 Dollar ersteigert.

Man muss sich kurz mal durch den Kopf gehen lassen, Michael Jordan hätte sich damals gegen seine Eltern durchgesetzt und einen langjährigen Vertrag mit Adidas abgeschlossen. Hätte Adidas genauso viel Phantasie wie Nike gehabt und alles auf MJ gesetzt? Wäre Adidas dann ebenso schnell zu einem globalen Weltkonzern aufgestiegen?

Im Jahr 1984 war Adidas ein braves Familienunternehmen aus Herzogenaurach, dem der Kult um eine einzige lebende Person fremd war. Fußball war schließlich ein Mannschaftssport. Adidas war damals wie Deutschland: auf Tradition bedacht, aufs Heimische konzentriert, stolze Provinzialität. Eine deutsche Marke für deutsche Sportler.

Michael Jordan mag 1984 an Adidas gedacht haben, nicht aber Adidas an Michael Jordan, der heute noch als bester Basketballer aller Zeiten gelten darf. Übrigens spielte MJ der Klitsche oben in Oregon schätzungsweise zweieinhalb Milliarden Dollar ein.

So blieb Adidas eine Kulturrevolution erspart und fixierte sich auf die Symbiose mit der deutschen Fußballnationalmannschaft. 1954 wurde Adidas Weltmeister, weil Helmut Rahn mit den drei weißen Streifen die entscheidenden Tore schoß. Ist Franz Beckenbauer in Nike-Schuhen denkbar? Genau.

Adidas ist übrigens ein Kunstname, der sich aus dem Vornamen Adolf ableitet. Adolf Dassler wurde Adi genannt, weil der volle Name Adolf anderweitig besetzt war. Die zweite Silbe ist die Abkürzung seines Nachnamens. Ist in Ordnung, konnte man so machen, damals gleich nach dem Krieg, ist aber auch ein bisschen schlicht, oder?

Hinter Nike steht mehr Gedankenarbeit. Nike ist der Name der griechischen Siegesgöttin, den sich Phil Knight, ein Mittelstreckenläufer und Firmengründer, einfallen ließ. Das Logo mit dem berühmten Swoosh bedeutet den Flügel der Göttin. Die Studentin Carolyn Davidson ließ ihn sich einfallen und bekam dafür sage und schreibe 35 Dollar.

Heute ist Nike ein globaler Gigant mit einem Umsatz von 37,4 Milliarden Dollar. Nike erfand Schuhe als Lebensstil, als Statement, als Kulturgut. Adidas schrammte an Pleiten vorbei, erfand sich neu und setzte im vorigen Jahr 21,4 Milliarden Euro um. 

Natürlich hat der DFB Dollarzeichen in den Augen und man kann’s ihm gar nicht verdenken. Die DFL hätte nur zu gerne die Tore für Investoren geöffnet, durfte aber nicht. Die 50 + 1-Regel scheint in Eisen gegossen zu sein. Kapitalismus in Reinkultur hat in England und Amerika Tradition, nicht aber hier bei uns. Der DFB versucht’s eben mal und schaut, was passiert. Bis 2027 ist ja noch weit hin.

Ob jetzt auch wieder Fan-Proteste durch die Stadien fegen und Spiele lahm legen? Glaub’ ich nicht. Wahrscheinlich ist es nicht ganz so wichtig, ob Sané, Kimmich und Gündogan an ihren imposanten rosanen, güldenen, blauen oder gelben Tretern drei Streifen oder das Swoosh haben. Die Hauptsache ist doch, wir werden Europameister. Oder kommen wenigstens ins Halbfinale. Oder wäre nicht das Viertelfinale schon ein bemerkenswerter Erfolg?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der alles persönlich nimmt

Man kann sich natürlich fragen, was sie eigentlich sollte, diese Scheinwahl, die offensichtlich nur einer ernst nahm, nämlich Wladimir Putin, so ernst, dass er seinen ärgsten Widersacher Alexej Nawalny aus dem Weg räumen ließ, zuerst in den Permafrost und dann in den Tod.

Man muss sich auch fragen, was in Putins Gemüt vor sich geht, dass er zu solchen Mitteln greift, um zu gewährleisten, dass dieser Akt der Scheindemokratie keine Störung erfährt. Anscheinend nimmt er alles persönlich. Widerworte führen ins Gefängnis, Opposition ins Straflager. Infragestellung ist tödlich. Rache erstreckt sich bis London oder in den Berliner Tiergarten. Vor Nawalny bezahlte Anna Politkowskaja ihre journalistische Arbeit mit dem Leben. Auch sie sollten wir nicht vergessen.

Wladimir Putin zieht eine Blutspur nach sich, wo immer ihn seine Paranoia hin treibt. Darin liegt die Gemeinsamkeit seiner bislang vier Amtszeiten und auch in den nächsten Jahren dürfte sich daran nichts ändern. Tschetschenien, zehn Jahre lang Krieg. Georgien im Sommer 2008. Die Ukraine, Kriegsschauplatz seit mehr als zwei Jahren. Aus dem Mann, der im Herbst 2001 im Bundestag eine Rede hielt, in der er den Kalten Krieg für unabänderlich beendet erklärte, ist ein Mann geworden, der auf einen Rachefeldzug gegen den Westen zieht, der vermutlich so lange anhalten wird, wie er die Macht inne hat. 

Man sollte sich auch fragen, ob sich ein Land Russland demokratisch regieren läßt, zumal Demokratie hier keine Tradition besitzt. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums gab es unter Boris Jelzin ein flüchtiges Experiment mit Reformen nach kapitalistischem Muster mit Liberalisierung, Privatisierung und Marktwirtschaft. Der Preis waren politische Instabilität und Inflation.

Der junge Mann, dem Jelzin im Jahr 1999 Russland zur Stabilisierung der Verhältnisse anvertraute, hieß Wladimir Putin. Den Auftrag nahm er so ernst, dass er nach und nach eine Diktatur über Russland verhängte. Diktaturen haben hier seit den Zaren Tradition.

Boris Jelzin ist heute genauso wie Michail Gorbatschow vergessen, wenn nicht verfemt. Aus Sicht Putins tragen sie die Schuld am Untergang der ruhmreichen Sowjetunion. Die größtmögliche Demütigung widerfuhr Putin im Jahr 2014 durch Barack Obama, der Russland als Regionalmacht abtat.

Demütigungen können anspornen. Der Gedemütigte kann sich dazu berufen fühlen, es der Welt zu zeigen, vor allem dem Demütiger. Putin, der in einer Dokumentation freimütig davon erzählte, wie er als Kind gemobbt wurde, und wie beengt die Familie in der Einzimmerwohnung zurecht kommen musste, ist ein Kenner von Demütigungen, die er heimzahlt, wo er nur kann. Die Besetzung der Krim und des Donbas im Jahr 2014 waren als Anfang der Reconquista gedacht.

Obama hatte Recht und Unrecht zugleich. Russland ist mehr als eine Regionalmacht, aber auch keine Weltmacht wie im Kalten Krieg, denn diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei, auch wenn Putin diese Tatsache nicht akzeptiert. Russland ist ein Zwischending in der Weltpolitik, die im Umbruch steht, ein Hybrid.

Putin nutzt jedes Vakuum, das sich irgendwo auf dem Erdball eröffnet, sei es in Syrien oder im Sudan, in Libyen oder Mali. Irans Atompolitik hängt von Russland ab und auch Nordkorea braucht dessen Unterstützung. Russland sucht Einfluss dort, wo Amerika sich zurückzieht, freiwillig oder unfreiwillig, genauso wie dort, wo Frankreich seinen Einfluss verliert, zum Beispiel in Afrika.

Konsequent ist diese Außenpolitik, das schon, aber ist sie auch konsistent genug für Putins übergroße Ambitionen? Im Hintergrund steht immer und überall eine weitaus größere Macht, ein anderer Diktator mit imperialem Anspruch, den er militärisch, politisch und ideologisch untermauert: China unter Xi Jinping.

Für China ist Russland nützlich. Russland schmäht den Westen und droht mit weiteren Kriegen zur Beruhigung der Phantomschmerzen. So lange die USA sich in der Ukraine – und im Nahen Osten – engagieren müssen, so lange können sie sich nicht auf Asien konzentrieren, wovon sie schon seit zehn Jahren reden.

Nur aus diesem Grund behandelt China das real existierende Russland mit Vorzug. Denn in Wahrheit ist Russland für China das abschreckende Beispiel dafür, welche Konsequenzen ideologische Lethargie und ökonomische Schwäche nach sich ziehen – den Zusammenbruch eines Imperiums. Von der untergegangenen Sowjetunion lernen, heißt Stärke unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bewahren, egal was der Rest der Welt darüber denkt. Und Russland ist, mit chinesischen Augen betrachtet, eine Resterampe mit bemerkenswerten Illusionen.

Nach erfolgreich manipulierter Wahl geht Wladimir Putin nunmehr in seine fünfte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation. Nicht anders als zuvor wird er handeln und sich verhalten, darauf ist Verlass.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wenn Vorsicht in Schikane übergeht

Amerika baut einen provisorischen Hafen vor Gazas Küste, der über einen Damm mit dem Festland verbunden werden soll. Dort kommen dann Schiffe an, löschen ihre Ladung, die per Lastwagen aufs Festland gebracht werden. Die Konstruktion der Seebrücke dürfte zwei Monate dauern.

Bis es soweit ist, gibt es eine Zwischenlösung. Schiffe mit Hilfsgütern sollen in Zypern losfahren. Momentan wartet dort ein Schiff mit 200 Tonnen an Reis, Mehl und Proteinen auf Genehmigung für das Ablegen. Da der einzige Hafen in Gaza nicht genug Tiefgang besitzt, muss die Fracht auf kleinere Boote umgeladen werden. Dieses Vorhaben unterstützen die Vereinten Arabischen Emirate und Großbritannien, Deutschland will sich daran beteiligen.

Allzu lange haben etliche Regierungschefs und auch die Uno darauf hingewiesen, dass Menschen im Gaza an Hunger leiden, dass ihnen das Nötigste fehlt, dass die Krankenhäuser dringend Medikamente und Apparate brauchen. Es stimmt ja auch, nach Maßgabe des Völkerrechts ist die Besatzungsmacht dazu verpflichtet, die Versorgung der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Die Besatzungsmacht ist in diesem Fall Israel. Zuerst riegelte sie den Streifen an der Küste vollkommen ab. Seither lässt sie über zwei Grenzübergänge bedingt Hilfe passieren.

Die israelische Armee kontrolliert die Lastwagen peinlich genau. Die Vorsicht ist nach dem Massaker vom 7. Oktober verständlich, es könnten ja auch Waffen geschmuggelt werden. Weshalb aber die Soldaten zum Beispiel Schlafsäcke und Zeltstangen zurückweisen, bleibt ein Rätsel. Genauso wenig dürfen Beatmungsgeräten und Wasserfilter durch. Die Vorsicht geht, wie es scheint, in Schikane über.

Besonders der amerikanische Präsident Joe Biden wird nicht müde, begütigend auf Premierminister Benjamin Netanjahu einzureden. Nun fordert er ihn dazu auf, auch den Grenzübergang Erez im Norden Gazas zu öffnen. Momentan fahren wenig mehr als 100 Lastwagen mit Hilfsgütern hinein. Das ist viel zu wenig für die zwei Millionen Einwohner. Viele von ihnen hungern, etliche Kinder sind schon an Unterernährung gestorben.

Im Netz kursiert das erschütternde Foto, auf dem Yazan Kafarneh, ein zehnjähriger Junge, in einem Bett liegt, angeschlossen an ein Infusionsgerät. Sein Kopf ähnelt einem Totenschädel, weil die bleiche Haut sich kaum noch über Wangen, Nase und Stirn wölbt. „Sein Fleisch ist eingefallen und geschrumpft, das Leben beschränkt sich auf wenig mehr als eine dünne Maske vor dem nahenden Tod,“ schrieb die „New York Times“, die sein Sterben mit Einverständnis der Eltern begleitete. „Die Bilder, die Yazan zeigen, zirkulieren in den sozialen Medien und machen ihn zum Gesicht des Hungertods in Gaza,“ schreibt das Blatt.

Ich habe schon am vorigen Montag über Leiden und Sterben im Gaza geschrieben und angemerkt, dass Kriege sich wandeln. Dass Israel nach dem Massaker am 7. Oktober gegen die Hamas mit aller Härte vorging, war verständlich. Mittlerweile ist jedoch die Zivilbevölkerung die Hauptleidtragende in diesem Krieg. Mehr noch ist die Hungerblockade ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ein Leser schrieb mir daraufhin eine lange Mail mit kritischen Bemerkungen. Er bezweifelte, dass 30 000 Zivilisten gestorben sind und monierte vor allem eine bestimmte Haltung: „Was mich aber bei all diesen Artikeln stört, die immer wieder das Leid der Palästinenser in Gaza uns näherbringen wollen, ist die Unterschlagung der zumindest theoretischen Möglichkeit, dass die Hamas mit weißen Fahnen aufgibt, ihre Waffen niederstreckt und sich den Israelis  ausliefert.“

Es stimmt, das wäre am besten. Dann wäre der Hunger, der Schrecken und das Leid vorbei. Vielleicht gibt es sogar Versuche, Ismail Haniyya, den Anführer der Hamas im Gaza, zur Aufgabe zu bewegen. Aber ernsthaft glaubt niemand daran, dass Haniyya und die anderen militärischen Anführer klein beigeben. Der Krieg ist ihr Leben, die Vernichtung Israels ihr Ziel. Dafür opfern sie eben auch Zehntausende Männer, Frauen und Kinder im Gaza. Und Bilder wie die vom sterbenden Yazan sind ihr zynisch willkommen, weil sie dort draußen in der Welt Mitleid bewirken.

Der Nahe Osten ist eine Region getränkt mit Hass, mit Tod, mit Leid. So wie du mir, so ich dir und zwar noch schlimmer, das ist die bittere Logik, die sich in wirklichkeitsgesättigten Serien wie „Fauda“ widerspiegelt. Fauda heißt auf Deutsch übrigens Chaos. Chaos ist der Leitfaden für diese Weltgegend.

Zur Wahrheit gehört, dass die Palästinenser im Nahen Osten nur eine politisch dienende Rolle spielen – für den Iran. Denn an der Besserung der herrschenden Verhältnisse für die Menschen gibt es weder für die Hamas noch für die Hisbollah im Libanon noch anderswo in dieser Region großes Interesse.

1947, als Israel gegründet wurde und der Krieg mit der Vertreibung Hunderttausender Palästinenser endete, standen Saudi-Arabien und die Emirate am Golf oder Jordanien noch nicht einmal am Anfang ihrer erstaunlichen Entwicklung. Seither aber sind Saudi-Arabien oder Abu Dhabi oder Dubai oder Katar zu gewaltigem Reichtum gelangt und kaufen verschwenderisch ein, was es anderswo gibt, Taylor Swift und die Fußballweltmeisterschaft inklusive.

Die Palästinenser aber leben zu Zehntausenden immer noch in Flüchtlingscamps und sind der Hamas und der Hisbollah ausgeliefert, die sich nicht um Wohlfahrt scheren, sondern auf ihren militärischen Kampf zur Vernichtung Israels fixiert sind. 

Und Israel? Benjamin Netanjahu macht sich wenig aus den Mahnungen aus Washington oder New York, aus Paris, London und Berlin. Irgendwann mag er den Krieg im Gaza zum durchschlagenden Erfolg erklären, was aber mit Vorsicht zu genießen sein wird. Denn in Israel erwartet man, dass Netanjahu dann gegen die Hisbollah im Libanon vorzugehen gedenkt. Denn solange Krieg herrscht, bleibt er unantastbar.

Der Nahe Osten ist harthörig, resistent gegen Aufrufe zu Frieden und Besinnung. Mit Menschlichkeit dringt man hier nur schwerlich durch. Gerade deshalb ist es ein Segen, dass Amerika unter Joe Biden eine Seebrücke gegen den Hunger bauen lässt. Und wir können nur hoffen, dass ihn dieser Akt der Humanität nicht um die Wiederwahl bringt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Frieden mit Netanjahu? Wohl kaum.

Flugzeuge werfen jetzt Lebensmittel und Medikamente ab, da Israel den Gaza abschnürt. Indessen sind 134 Geiseln seit 150 Tagen im Würgegriff der Hamas und hungern vermutlich auch. Wie lange dauert ihre Qual noch an?

In Doha verhandeln sie wieder über eine Feuerpause im Gaza und die Befreiung der Geiseln. Wie es heißt, haben sie ein Ergebnis erzielt. Von den Israelis hört man, dass sie im Prinzip zugestimmt haben. Im Prinzip meint in dieser Weltgegend: unverbindlich, vielleicht oder auch nicht, mal schauen. Die Hamas stellt wie immer maximale Forderungen und deshalb steht das Ergebnis der Bemühungen so lange in den Sternen, bis es entweder angenommen wird oder nicht.

Mittlerweile regnet es Hilfsgüter auf den Gaza. Jordanien wirft schon länger Nahrungsmittel und Medikamente ab, die USA haben sich gestern angeschlossen. Natürlich lassen sich Transportflugzeuge weitaus weniger voll laden als Lastwagen, aber man muss sich schon darüber freuen, dass humanitäre Hilfe wenigstens aus der Luft kommt und vielleicht ein bisschen Linderung verschafft.

Die Lastwagen, die am vorigen Donnerstag in den Norden einfuhren, waren in Absprache der Israelis mit einheimischen Gaza-Geschäftsleuten organisiert worden. Was dann zu mehr als Hundert Toten führte, wer schuld an Anarchie und Chaos war, ist wie alles in dieser Region abhängig von der Perspektive. Die deutsche Außenministerin verlangt von der israelischen Armee Aufklärung darüber, wann und warum deren Soldaten geschossen haben. Klingt nach Parteinahme, etwas voreilig, oder?

An Hunger verzweifeln Menschen. Hunger kann sie rasend machen. Hunger kann Panik auslösen, wenn endlich mal ein paar Lastwagen mit Lebensmitteln ankommen. Gut möglich, dass sich die Menschen gegenseitig niedergetrampelt haben, dass die Fahrer, ebenfalls panisch, hin und her rangierten und Menschen überrollten. Gut möglich auch, dass israelische Soldaten, vielleicht genauso panisch, ungezielt in die Menge schossen. Wahrscheinlich werden wir über den genauen Ablauf erst spät erfahren, wenn sich überhaupt der schreckliche Vorfall noch rekonstruieren lässt.

Die Uno sagt, dass die Menschen im Gaza an jedem normalen Tag 500 voll beladene Lastwagen brauchen, um ein normales Leben führen zu können. Warum eigentlich? Die Hamas wird mit Geld aus Europa und vom Golf zugeschüttet, verwendet es aber offenbar nicht allein für die zwei Millionen Menschen hier, sondern vorzugsweise für ihren Vernichtungskampf gegen Israel, genauer gesagt: gegen die Juden. Deshalb ist die Hamas verantwortlich für die herrschende Dauernot im Alltag. Nicht erst seit dem 7.Oktober 2023 hat sie das Recht verwirkt, im Gaza nach Gutdünken herrschen zu dürfen.

Für die verschärfte Hungersnot dieser Tage ist allerdings Israel verantwortlich. Es wäre kein unlösbares Problem, wenigstens den ärgsten Bedarf an Lebensmittel, Wasser, Benzin und Medizin zu decken. Die Lastwagen müssten in den Norden einfahren dürfen und auch aus Ägypten über Rafah. Dass Israel Gaza abschneidet und abwürgt, ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Kriege verändern sich. Der Krieg im Gaza begann als verständliche Vergeltung für das Massaker an 1 200 Israelis am 7. Oktober. An Jungen, die gerade noch getanzt hatten. An schlafenden Babys. Frauen und Mädchen haben sie vergewaltigt. Hunderte haben sie entführt, auch betagte Menschen, wahllos.

Natürlich weckt das Urängste, wenn nicht einmal das Leben in Israel mit seiner hochgelobten Armee und seinem hochgelobten Geheimdienst Sicherheit garantiert. All das verdient Verständnis, mehr Verständnis auch von der Öffentlichkeit Europas und Amerikas. Doch Kriege ändern ihre Richtung, ihren Charakter, vor allem dann, wenn die Regierung nur noch militärisch denkt und harthörig für Mahnungen und Aufrufe zur Besonnenheit von den Freunden bleibt.

Rund 30 000 Menschen sind im Gaza getötet worden. Unicef, der Parteinahme unverdächtig, schätzt, dass 17 000 Kinder umherirren, weil ihre Eltern entweder tot sind oder von ihnen getrennt wurden. Womöglich 1 000 Kindern musste entweder ein Bein oder beide Beine amputiert werden. Wer für sie kein Mitgefühl empfindet, muss ein Herz aus Stein haben.

In Israel finden wieder Demonstrationen gegen die nationalkonservative Regierung Netanjahu statt. Die einen Demonstranten machen den Premierminister persönlich dafür verantwortlich, dass der 7. Oktober möglich war und verlangen seinen Rücktritt. Die anderen Demonstranten verlangen seit Wochen, dass die Geiseln freikommen. 

123 von ihnen sind zurück in Israel. 134 sind noch irgendwo in Gaza, in irgendeinem Tunnel, in irgendeinem Haus, obwohl ja nicht mehr viele stehen. Heute ist der 150 Tag des Krieges. Seit 150 Tagen sind sie also im Gewahrsam ihrer Entführer. Etliche sind älter und krank. Um sie insbesondere und um Frauen und Kinder geht es in den Verhandlungen in Doha.

Auf der Online-Seite der Zeitung „Haaretz“ werden Fotos gezeigt und  Namen genannt: Dorin Steinbrecher lacht genauso wie Eitan Mor und Ron Binyamin in die Kamera – das sind Schnappschüsse aus dem richtigen Leben eben, aus dem diese Menschen auf die denkbar schlimmste Weise herausgerissen wurden. Sie müssen sich vergessen fühlen, jedenfalls vernachlässigt von ihrer Regierung, die immer weiter Krieg führt und nur noch Krieg denkt. Und vermutlich hungern auch die Geiseln.

Wie aber gehen sie aus diesem grauenhaften Krieg hervor, die Israelis und die Palästinenser? „Nicht nur die Grausamkeiten, die wir uns gegenseitig angetan haben, werden für viele Jahre zwischen uns stehen,“ schreibt der israelische Schriftsteller David Grossmann, ein freundlicher, milder, besonnener Mann. „Wie aber können wir mit so einem Feind einen Friedensvertrag schließen?“, fragt er und gibt diese Antwort: „Und doch wiederum welche Wahl haben wir denn?“

Solche Gedanken versuchen Joe Biden und Emmanuel Macron, Unicef und Uno dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu nahe zu bringen. Ein Endes des Krieges ist mit ihm nur schwer vorstellbar.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Bismarck und die Manichäer

Momentan beschäftige ich mich antiker Philosophie und deren Fortleben im Christentum. Philosophie habe ich nicht studiert, aber damals nebenbei Platon und Aristoteles und die Stoa und Augustinus gelesen. Diesmal ist mir an Augustinus etwas aufgefallen, was mich länger schon beschäftigt.

Augustinus war bis in seine dreißiger Jahre irdischem Leben zugetan. Mit 18 Vater. Viel gereist, viel studiert. Die Bibel langweilte ihn. Er war den Manichäern zugetan, die in Gegensätzen dachten: hell-dunkel, Tag-Nacht, Gut-Böse, Geist-Fleisch usw. Harte Schnitte, starke Entgegensetzungen gehörten bei den Anhängern Manis, der seine Lehre im persischen Reich mit Genehmigung des Sassanidenkönigs verbreiten durfte, zu den Eigenheiten. Erlösung stand den Gläubigen in der Erkenntnis des Dualismus offen. Natürlich besaß die geistige Existenz den Primat. Askese diente der Reinheit, die Voraussetzung für die Erlösung war.

Augustinus hatte dann sein Erweckungserlebnis, änderte sein Leben und wurde fortan zum demütig gläubigen Christenmenschen, der mit seinen Schriften prägend wirkte. Geblieben ist ihm jedoch das Denken in Gegensätzen, das nur zu oft polemisch ausfällt. Der Manichäismus fand Eingang in sein Verständnis von Gott und Mensch, von Irdischem und Jenseitigen, von Menschenstaat und Gottesstaat.

Das ist auch kein Wunder, denn wie wir nun einmal gelernt haben zu denken, so denken wir eben weiterhin, wenn sich auch die Überzeugungen wandeln. Die Gegenstände mögen sich ändern, aber unsere intellektuelle Annäherung bleibt gleich.

Alexander Gauland hat früher kluge Bücher über den britischen Konservatismus geschrieben und dessen Anpassungsfähigkeit an geschichtlichen Wandel bewundert. Die Grenze hat ihn interessiert, der Punkt, an dem Adaption in Überzeugungslosigkeit umschlägt, die rote Linie, die nicht überschritten werden sollte. Wahrscheinlich hätte er nie gedacht, dass er jemals in die Lage versetzt werden würde, die Grenzüberschreitung an der Merkel-CDU tiefenscharf zu kritisieren und selber eine Partei zu gründen, die jenseits des herkömmlichen Konservatismus angesiedelt ist. Auch die Vorliebe für Bismarcks sicherem Spiel mit vielen Bällen hat sich nicht erschöpft.

Er ist kein Nazi, er ist eher ein Nationalliberaler, ein Bewunderer der Machtpolitik, der Realpolitik, wie sie eben Bismarck im 19. Jahrhundert praktizierte. Übertragen auf die Gegenwart bedeutet diese Haltung Rücksicht auf Russland, Distanz zu Amerika und Fortleben der Nationalstaaten auf Kosten transnationaler Bündnisse wie die Europäische Union oder auch die Nato. Konsequenz daraus sind Atomwaffen für Deutschland. Ginge es nach ihm, wäre die AfD das Korrektiv zur CDU und deren natürlicher Koalitionspartner.

Das Denken hat sich im Falle Gauland nicht verändert. Er wendet es auf die veränderte Lage an. Darin liegt die innere Logik.

Das zweite Paradebeispiel für mich ist der Grüne Anton Hofreiter. In seiner Partei gehört er zu den Linken. Wenn er kritisiert, dann kritisiert er scharf. Wenn er etwas durchsetzen möchte, dann mit Verboten. Er gehört zu den Manichäern der Gegenwart.

Biologie hat er studiert. Er kennt sich mit der Landwirtschaft aus und wäre nur zu gerne Landwirtschaftsminister geworden. Er kennt sich in der Verkehrspolitik aus, aber dieses Ministerium fiel der FDP zu. So wurde aus ihm der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Deutschen Bundestag. Keine freie Wahl, ein Trostpflaster. Aber der Krieg Russlands gegen die Ukraine verwandelte ihn unversehens in einen Rüstungsspezialisten. Seitdem können für ihn gar nicht schnell genug so viele Panzer und anderes schweres Gerät wie irgend möglich an die Ukraine geliefert werden. Hofreiter sieht nur noch Zauderer und Zögerer in der Regierung, die das Nötige nicht rasch genug liefern. Niemand, nicht einmal Marie-Agnes Strack-Zimmermann, hat den Bundeskanzler derart maßlos kritisiert wie der Biologe Anton Hofreiter. So ist das, wenn man den Clausewitz in sich entdeckt und grün interpretiert.

Im Denken bleiben sich die Menschen treu. Das Denken lässt sich nicht auf Knopfdruck neu ausrichten. Die Inbrunst, mit der Hofreiter eine Wende in der Agrar-/Verkehrspolitik gefordert hatte, veranlasst ihn jetzt dazu, Taurus-Flugkörper für die Ukraine einzufordern. Er selber sieht darin kein Problem, möchte ich wetten. Wo er ist, ist die Wende nahe, immer. Über die Konsequenzen aus seiner Hitzigkeit macht er sich keinen Kopf. Hofreiter ist auch ein Beispiel für Opposition in der Regierung.

Und ich? Ich war und bin ein Skeptiker. Skeptiker sind skeptisch in alle Richtungen, nach Rechts wie nach Links. Fundamentalismus ist uns ein Greuel. Skeptiker wie ich relativieren und differenzieren, stellen in den Zusammenhang und ordnen gerne ein. Wir sind Empiriker, weil wir genau hinschauen möchten. Ideologien nehmen wir gerne auseinander. Verstehen ist uns wichtiger als verändern. An Häutungen, an tiefgreifendes Verändern im Denken glauben wir nicht. Darin liegt unsere Stärke wie auch unsere Schwäche. Das st ein typischer Satz aus der Feder eines Skeptikers und deshalb höre ich jetzt auf.

Sie nannte sich Claudia und gab Nachhilfe

Man muss schon ziemlich alt sein, um die Rote Armee Fraktion miterlebt zu haben, um zu wissen, wen sie ermordet hat und was sie einmal wollte. Das liegt auch daran, dass sie sich schon vor 26 Jahren aufgelöst hat, ordentlich mit Sendschreiben samt dem Logo aus rotem Stern und einer Maschinenpistole, die die Umstürzler für eine Kalaschnikow hielten, jener mythischen Waffe aller echten und falschen Revolutionäre, die in Wirklichkeit aber eine MP5 des deutschen Herstellers Heckler&Koch ist. Die Waffe des Klassenfeindes.

Deutsche Terroristen waren stur bis zuletzt. Sie schwiegen vor Gericht: Omertà! Vermutlich amüsierte es sie, dass wir gerne genau wüssten, wer zum Beispiel für die Morde an Bankier Alfred Herrhausen (getötet im Auto durch eine Sprengfalle 1989) oder dem Treuhand-Chef Detlev Rohwedder (1991 durch das Fenster in seinem Arbeitszimmer erschossen) verantwortlich war.

Ob Daniela Klette zur Wahrheitsfindung beitragen kann oder will, wird sich bei den Verhören der nächsten Woche herausstellen. Mit einem gewissen Freimut kann sie die Haftstrafe reduzieren, soviel ist klar.

Sie ist ohnehin nur ein kleines Licht. Eine Epigonin, eine spät berufene Mitläuferin, die bei zwei Sprengstoffanschlägen auf die Deutsche Bank in Frankfurt und auf das Gefängnis in Weiterstadt Anfang der 1990er-Jahre beteiligt war; keine Toten diesmal. Vor allem aber ist sie ein absurdes Beispiel dafür, dass deutsche Terroristen nicht aufhören wollten, obwohl sich ihre Organisation längst aufgelöst hatte.

In Nordirland lieferte sich die katholische IRA knapp 30 Jahre lang einen Bürgerkrieg mit der britischen Armee. Im Jahr 1998 schloss die Regierung Blair mit der IRA ein offizielles Friedensabkommen. Einige Terroristen von einst regierten fortan in Nordirland mit.

In Italien brachten die „Roten Brigaden“ sogar den Ministerpräsidenten Aldo Moro im Jahr 1978 um. Nachdem einige Jahre später ihr Anführer Mario Moretti gefasst worden war, gaben sie auf. Moretti gestand ein, der Mörder Moros zu sein und auch, dass der Krieg gegen den Staat verhängnisvoll gewesen war. Nach 13 Jahren kam er – zu sechsmal lebenslänglich verurteilt – wieder frei.

Deutsche Terroristen sind offenbar erheblich sturer und unnachgiebiger als ihre Gesinnungsgenossen im Norden und Süden. Die Wirklichkeit mag sich ändern, die Geschichte mag sich weiter drehen, der Kampf gegen das System mag verloren sein: egal, ihr Kampf geht weiter und sei es auch nur in ihrem Kopf.

Daniela Klette, ihr zeitweiliger oder dauerhafter Freund Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg machten weiter, als es kein Weiter mehr gab. Sie hörten nicht auf, um nicht ins Gefängnis gesteckt zu werden. Sie überfielen Supermärkte, Banken und Geldtransporter, damit sie Geld zum Leben hatten. Dabei versuchten sie nicht einmal, ihre Raubzüge politisch zu bemänteln.

Staub ist 68, Klette 65, Garweg ist mit bald 56 Jahren der Youngster. Seit mehr als 30 Jahren tummeln sie sich im Untergrund, wie die RAF ihre anonyme Existenz in Betonsiedlungen heroisierend nannte. In der Autobiografie des deutschen Terrorismus zählen sie zur dritten Generation der RAF.

Die erste Generation entstammte der 68er-Studentenbewegung und wollte nicht den Marsch durch die Institutionen antreten, sondern dem demokratischen Nachkriegsstaat die faschistische Maske herunterreißen. Dafür unternahmen sie 34 Morde, etliche Sprengstoffanschläge und einige Entführungen. Ihre Ikonen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin begingen 1977 im Gefängnis Stammheim Selbstmord. Der Versuch, sie durch die Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu freizupressen, war im Herbst 1977 gescheitert.

Dann kam die Wiedervereinigung, und sogar die zweite Generation um Christian Klar und Brigitte Hogefeld erkannte, dass sich die Verhältnisse verändert hatten und neue Konfliktlinien entstanden waren, die nichts mehr mit ihnen zu tun hatten. Aus gutem Grund ließ die RAF 1993 erst wissen, dass sie nun das Morden einstellen würde, um dann fünf Jahre später die Selbstauflösung zu verkünden.

Die drei Nebenfiguren Klette/Staub/Garweg, die dritte Generation, unternahmen ihren letzten Überfall auf einen Geldtransport in Cremlingen, mit Panzerfaust und Sturmgewehr, vor acht Jahren. Seither lebten sie irgendwo unauffällig, so vermuteten es die Experten.

Im November soll ein Hinweis eingegangen sein, jemand hatte Daniela Klette erkannt. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg wurde sie gestern Abend verhaftet. Sie nannte sich Claudia, gab Nachhilfe in Mathe, lebte in einem größeren Mietshaus und galt den Nachbarn als freundliche Person. Staub und Garweg, die beiden anderen Weitermacher, dürften nicht weit sein.

Das allerletzte Kapitel in der trostlosen Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ wird gerade geschrieben.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Ein einziger Weckruf

In der Ukraine ist Frieden momentan keine Option. Im Nahen Osten bemüht man sich zwar um Feuerpausen, die aber an der Hamas wie an Israel abprallen. Wie lange noch?

In Amerika haben sie Berechnungen darüber angestellt, wie viele Zivilisten im Gaza innerhalb des nächsten halben Jahres sterben werden, wenn der Krieg in dem Maße weitergehen sollte wie heute. Die Schätzungen belaufen sich auf eine Zahl zwischen 58 260 und 66 720. Nimmt der Krieg an Intensität wieder zu, sterben zwischen 74 290 und 83 750 Menschen.

Natürlich können Zahlen gar nicht ermessen, was der Tod bedeutet.  Aber Zahlen kennzeichnen inzwischen diesen Krieg. Anfangs sollte die Hamas eliminiert werden, was politisch bedeutet, dass sie den Gaza nicht mehr „regieren“ darf – dass sie Waffen unterirdisch hortet, um sie dann wie am 7.Oktober und seither einzusetzen. Daraus ist jedoch ein Krieg gegen Zivilisten geworden und alle Appelle aus den Regierungszentralen und der Uno, doch bitteschön Rücksicht zu nehmen, verhallen ungehört.

Die israelischen Streitkräfte haben die Menschen im Gaza wie eine Viehherde erst dahin und dann dorthin gescheucht. Sie hungern sie aus. Sie schalten Strom und Wasser nach Belieben aus. Den Krankenhäusern fehlt es längst an allem. Auch dieser Krieg ist ein schreckliches Beispiel für den Verlust an Humanität. 

Wie viele Soldaten im Krieg Russlands gegen die Ukraine ums Leben gekommen sind, wird wie ein Geheimnis gehütet. Einigermaßen verlässlich scheinen diese Zahlen zu sein: 120 000  russische und 75 000 ukrainische Soldaten sind in den vergangenen zwei Jahren gestorben. Die Zahl der Verletzten summiert sich angeblich hier auf 400 000 , dort auf 200 000. Dazu kommen 10 000 Zivilisten, gestorben bei Luftangriffen und gemordet in Bachmut oder Cherson.

Zwei Kriege, zweimal Tod, zweimal Leid und egal, wie lange sie andauern, nimmt der Hass nur zu. Die Gebiete liegen weit auseinander, schon wahr, und jeder Krieg hat seine eigene Logik. Aber auch die Gemeinsamkeiten stechen ins Auge: keine Aussicht auf Frieden; Zivilisten als Opfer von Tod, Entführung, Folter, Vergewaltigung; Zerstörung der Infrastruktur; ideologisch ein Krieg gegen den Westen; und Europa ist jeweils mittendrin.

Der renommierte britische Historiker Timothy Garton Ash, ein wahrhaft überzeugter Europäer, führte auf der Münchner Sicherheitskonferenz ein Experiment durch. Er fragte nach den Kriegsparteien in der Ukraine. Verblüffung erntete er, wenn er seine Meinung kundtat, dass Europa mitten drin steckt.

Stimmt ja auch. Deutschland ist der zweitgrößte Unterstützer militärisch und für den Wiederaufbau. Dänemark liefert, was es an Munition und Kriegsgerät besitzt. Holland und Großbritannien sind alles andere als zurückhaltend, Frankreich, auch wahr, redet mehr als es liefert. Amerikas nächstes milliardenschweres Hilfspaket ist aus innenpolitischen Gründen blockiert. Ohne Amerika mangelt es aber gewaltig an Nachschub, weil die europäische Rüstungsindustrie eher auf dem Papier existiert.

Europa hat jeden Grund, der Ukraine zu helfen, auch aus Eigeninteresse. Welches Land kommt als nächstes dran? Putin spielt auf Zeit. Der Ukraine fehlt es an Munition, schweren Waffen, an Soldaten und mittlerweile auch an der Hoffnung auf den Sieg, nachdem die letzte große Offensive keinen Durchbruch erbracht hatte.

In der Ukraine wie im Nahen Osten steht die Reputation des Westens auf dem Spiel. Putin rechtfertigt den Krieg als Gegenwehr gegen den dekadenten Westen, der Russland angeblich nach 1989 betrogen hat. Der Iran, der wahre Gegenspieler Israels, rechtfertigt den Krieg als Befreiung von der Hegemonialmacht USA, der die Existenz Israels garantiert.

Europa fällt im Nahen Osten eine andere Rolle zu als in der Ukraine. Europa arbeitet sich wie die USA daran ab, Ideen für einen Frieden  zu entwickeln, der dieser Region nach dem Gaza-Krieg mehr Stabilität gewähren kann. Dort ist Europa Kriegspartei, hier Friedenspartei.

Europa ist keine Macht aus eigenem Recht. Amerika ist zwar nicht alles, aber ohne Amerika ist so gut wie alles nichts, sowohl in der Ukraine als auch im Nahen Osten. Dass die Abhängigkeit ein unguter Zustand ist, lässt sich nicht länger leugnen, zumal sich Amerika schon seit Barack Obama dem Fernen Osten zuwenden will – der Rivalität mit China, militärisch, politisch und kulturell.

So lassen sich beide Kriege als ein einziger großer Weckruf verstehen, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Je länger sie anhalten, desto mehr Zeit bleibt, endlich die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. 

Zu Beginn des Fastenmonats Ramadan will Israel die länger schon angekündigte Offensive gegen Rafah starten. Die Menschen dort leben in Zeltstädten, da ihre Häuser entweder nur noch Ruinen sind oder sie ihre zerstörten Behausungen im Norden aufgaben, als sie gezwungen waren, in den Süden zu fliehen. Dass eine humanitäre Katastrophe droht, ist fast schon ein müder Allgemeinplatz. Sie droht nicht, sie ist längst da.

In Paris verhandeln die Chefs der Geheimdienste aus der Region ziemlich lange schon über eine Feuerpause für einen Gefangenenaustausch. Benjamin Netanjahu lehnt die Zwei-Staaten-Lösung, die ohnehin nur auf lange Sicht möglich wäre, mit aller Entschiedenheit ab. Man muss ihm zutrauen, dass er nach Gaza militärisch gegen die Hisbollah im Libanon vorgeht. Der Premierminister erweist sich als Problem, weil ihm, wäre der Krieg vorbei, Amtsenthebung bevorstünde.

Auch in der Ukraine ist keine Aussicht auf Frieden. Nach zwei Jahren der Selbstbehauptung unter hohen Opfern käme ein Status-Quo-Friede aus ukrainischer Sicht einer Niederlage gleich. Wladimir Putin hat nicht nur die stärkeren Bataillone, er schert sich auch nicht um die Legionen an Toten. Seine Armee erscheint jetzt besser sortiert und sogar in der Lage, unter hohen Verlusten verlorenes Gebiet zurückzuerobern. Und natürlich hofft Putin auf die Wiederkehr Donald Trumps, dem weder die Ukraine noch die Nato noch Europa einen Pfifferling wert sind.

So geht das große Sterben, das erbarmungswürdige Leiden in der Ukraine und im Gaza weiter. Keine Aussicht nirgends, dass dem Irrsinn Einhalt geboten werden kann.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Zwei Brüder im Geiste

Was Putin schon ist, will Trump bald werden: ein Autokrat, der sein Land nach seinem Willen umformt und seine Macht mit dem Militär absichert.

Welches Land ist für die Welt am gefährlichsten? Auf lange Sicht ist es China. Der neue Mao Xi Jinping erhebt Machtanspruch auf Taiwan und auf Inseln im südchinesischen Meer – auf die Beherrschung des Erdballs in ein paar Jahrzehnten, militärisch und politisch.

Auf kurze Sicht aber gibt es zwei andere Brandstifter, die Unheil über die Welt bringen können und wollen. Amerika und Russland, genauer gesagt Donald Trump und Wladimir Putin. Sie sind wie zwei Brüder im Geiste.

Wozu Putin fähig ist, wissen wir inzwischen, nachdem wir es lange nicht hatten glauben wollen. Wie ein Mafia-Boss erteilte er Auftragsmorde auf fremden Schauplätzen, in London wie Berlin. Auf heimischem Boden ließ er Journalisten umbringen, Oppositionelle weg sperren. Ein erschreckendes Beispiel ist Alexej Nawalny, der unter Umständen gestorben ist, die nicht ans Tageslicht kommen sollen; sonst würde der Leichnam den Angehörigen übergeben. 

In der alten Zeit beschrieb Alexander Solschenizyn den „Archipel Gulag“. Gemeint war das Lagersystem als eine über die ganze Sowjetunion verteilte Inselwelt der Unterdrückung und Entmenschlichung. Die heute herrschenden Verhältnisse sind nicht weit davon entfernt.

Das Echo draußen in der Welt interessierte die Herrscher damals genauso wenig wie Putin heute. Er radikalisiert sich von Jahr zu Jahr. Im Oktober wird er 72. Ihm bleibt nicht viel Zeit für die Ordnung der Dinge, wie er sie für geboten hält. Er ist in Eile. Die Welt muss ihn mehr denn je fürchten.

Den Krieg in der Ukraine wird Putin wohl nicht verlieren, so sieht es jetzt aus. Vielleicht gewinnt er ihn auch nicht, aber illusionslos betrachtet, wachsen seine Chancen auf Grund des beliebig großen Nachschubs an Soldaten und wegen der Blockade der Waffenhilfe im Kongress der USA. Die zweite Präsidentschaft Donald Trumps wäre eine Katastrophe für die Ukraine, so viel ist klar.

Putin denkt offensichtlich nicht daran, sich mit der Ukraine zu begnügen. Dass er eine Premierministerin für vogelfrei erklärt, ist seit Hitlers Zeiten in Europa nicht mehr vorgekommen. Putin ließ Kaja Kallas, die estnische Regierungschefin, zur Fahndung ausschreiben, weil sie sowjetische Ehrenmale zerstört habe. Gibt es noch eine Steigerung?

Putin ist ein Revisionist, ein Revanchist. Er will das sowjetische Imperium wiederherstellen; die Gebietsverluste nach 1989 nannte er die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Tschetschenien, das sich absentieren wollte, blieb kraft ungeheurer Brutalität innerhalb der Einflußsphäre des Kreml. Georgien hinderte Putin per Krieg am Weg in den Westen. Und in den baltischen Staaten gibt es russischsprachige Minderheiten, die Putin als Opfer der Nato hinstellen kann, sobald er intervenieren möchte.

Kein Wunder, dass sich Historiker an die 1930er Jahre erinnert fühlen. Damals trieb Deutschland ohne Rücksicht auf die Weltmeinung Revanchismus. Hitler zum Beispiel stellte die Sudetendeutschen als Opfer der Tschechoslowakei dar, ehe er die Wehrmacht einmarschieren ließ und auch Österreich „heim ins Reich“ holte. Beides war das Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg. Ist es übertrieben, Putin als Hitler unserer Zeit zu verstehen?

Donald Trump ist der andere Brandstifter. Ihm ist es eine Genugtuung, Konflikte zu schüren und Menschen wie Länder aufeinander zu hetzen. Die Nato? Ein Haufen von Parasiten, welche die USA ausbeuten. Die Konsequenz? Putin soll sich nehmen, was er verdammt noch mal haben will.

Inzwischen haben wir gequält gelernt, Gesagtes und Geschriebenes ernst zu nehmen. Für den Fall seiner Wiederwahl ließ Trump „Project 2025“ ausarbeiten, einen Plan zur Transformation der USA nach seiner Amtseinführung am 20. Januar 2025.

Zehntausende Trump-Getreuer sollen schon rekrutiert worden sein. Sie könnten an die Stelle der Bundesbeamten in den Ministerien oder Geheimdiensten treten. Der „tiefe Staat“, von dem Rechte aller Nationen fabulieren, soll durch einen Trump-Staat ersetzt werden. Die Übernahme werde gleich nach dem Einzug ins Weiße Haus stattfinden, steht im Logbuch der Machtergreifung.

Autokraten wie Putin und Trump meinen, was sie sagen. Deshalb sollten wir auch das „Project 2025“ als Planspiel einer konservativen Revolution ernst nehmen. Es geht darum, das traditionelle System der Gewaltenteilung zu eliminieren und dem Präsidenten absolute Macht über die Exekutive zu verschaffen.

Um die Gewichte zu verschieben, soll zum Beispiel das Justizministerium minimiert werden. Es führt als Hüterin des Rechtsstaates ein gewisses Eigenleben, weshalb es dem Präsidenten in den Arm fallen kann. Außerdem untersteht diesem Ministerium der einheimische Geheimdienst FBI, der aus dem gleichen Grund zur Bedeutungslosigkeit verurteilt wird.

Natürlich will Trump sämtliche Umweltgesetze aufheben und statt dessen fossile Ressourcen ausbeuten lassen. Dazu steht dem Heimatministerium, nach 9/11 ausgebaut, Minimierung und damit Einflusslosigkeit bevor. Nicht anders soll es den Ministerien für Bildung und Handel ergehen. Überhaupt soll die Rolle der Bundesbehörden und ihrer nachgeordneten Institutionen verdampfen.

Institutionell gibt es, kommt es soweit, wie Trump es will,  nur noch den Präsidenten und den Kongress in Washington. Die Befugnisse der entkernten Ministerien gehen auf die Bundesstaaten über. Die Zwischenebene wird ausradiert. 

Alle Macht dem Präsidenten, dem Donald: Die Krönung dieser Transformation der Demokratie zur Autokratie ist die Berufung auf den „Insurrection Act“ aus dem Jahr 1807. Er erteilt dem Präsidenten ausnahmsweise die Vollmacht, die Nationalgarde und Heeresgruppen oder Marineverbände innerhalb der USA zur Bekämpfung von Aufständen einzusetzen.

Warum der Rückgriff auf ein Gesetz vor fast 270 Jahren? Weil Trumps Machtergreifung Widerstand auslösen könnte, keine Frage. Ihn zu ersticken, trifft das „Project 2025“ Vorsorge. Brechen Unruhen im ganzen Land aus, will Trump alle Register ziehen. Wie man ihn kennt, hält er selbst einen Bürgerkrieg für möglich und wappnet sich dafür. Alles oder nichts, das ist seine Maxime.

Wladimir Putin hat Russland nach seinem Bild geformt. Donald Trump möchte Amerika nach seinem Bild formen. Der Unterschied zwischen beiden ist nicht gewaltig groß. Putin ist schon ein Gewaltherrscher. Trump möchte einer werden.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.