Wenn Vorsicht in Schikane übergeht

Amerika baut einen provisorischen Hafen vor Gazas Küste, der über einen Damm mit dem Festland verbunden werden soll. Dort kommen dann Schiffe an, löschen ihre Ladung, die per Lastwagen aufs Festland gebracht werden. Die Konstruktion der Seebrücke dürfte zwei Monate dauern.

Bis es soweit ist, gibt es eine Zwischenlösung. Schiffe mit Hilfsgütern sollen in Zypern losfahren. Momentan wartet dort ein Schiff mit 200 Tonnen an Reis, Mehl und Proteinen auf Genehmigung für das Ablegen. Da der einzige Hafen in Gaza nicht genug Tiefgang besitzt, muss die Fracht auf kleinere Boote umgeladen werden. Dieses Vorhaben unterstützen die Vereinten Arabischen Emirate und Großbritannien, Deutschland will sich daran beteiligen.

Allzu lange haben etliche Regierungschefs und auch die Uno darauf hingewiesen, dass Menschen im Gaza an Hunger leiden, dass ihnen das Nötigste fehlt, dass die Krankenhäuser dringend Medikamente und Apparate brauchen. Es stimmt ja auch, nach Maßgabe des Völkerrechts ist die Besatzungsmacht dazu verpflichtet, die Versorgung der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Die Besatzungsmacht ist in diesem Fall Israel. Zuerst riegelte sie den Streifen an der Küste vollkommen ab. Seither lässt sie über zwei Grenzübergänge bedingt Hilfe passieren.

Die israelische Armee kontrolliert die Lastwagen peinlich genau. Die Vorsicht ist nach dem Massaker vom 7. Oktober verständlich, es könnten ja auch Waffen geschmuggelt werden. Weshalb aber die Soldaten zum Beispiel Schlafsäcke und Zeltstangen zurückweisen, bleibt ein Rätsel. Genauso wenig dürfen Beatmungsgeräten und Wasserfilter durch. Die Vorsicht geht, wie es scheint, in Schikane über.

Besonders der amerikanische Präsident Joe Biden wird nicht müde, begütigend auf Premierminister Benjamin Netanjahu einzureden. Nun fordert er ihn dazu auf, auch den Grenzübergang Erez im Norden Gazas zu öffnen. Momentan fahren wenig mehr als 100 Lastwagen mit Hilfsgütern hinein. Das ist viel zu wenig für die zwei Millionen Einwohner. Viele von ihnen hungern, etliche Kinder sind schon an Unterernährung gestorben.

Im Netz kursiert das erschütternde Foto, auf dem Yazan Kafarneh, ein zehnjähriger Junge, in einem Bett liegt, angeschlossen an ein Infusionsgerät. Sein Kopf ähnelt einem Totenschädel, weil die bleiche Haut sich kaum noch über Wangen, Nase und Stirn wölbt. „Sein Fleisch ist eingefallen und geschrumpft, das Leben beschränkt sich auf wenig mehr als eine dünne Maske vor dem nahenden Tod,“ schrieb die „New York Times“, die sein Sterben mit Einverständnis der Eltern begleitete. „Die Bilder, die Yazan zeigen, zirkulieren in den sozialen Medien und machen ihn zum Gesicht des Hungertods in Gaza,“ schreibt das Blatt.

Ich habe schon am vorigen Montag über Leiden und Sterben im Gaza geschrieben und angemerkt, dass Kriege sich wandeln. Dass Israel nach dem Massaker am 7. Oktober gegen die Hamas mit aller Härte vorging, war verständlich. Mittlerweile ist jedoch die Zivilbevölkerung die Hauptleidtragende in diesem Krieg. Mehr noch ist die Hungerblockade ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ein Leser schrieb mir daraufhin eine lange Mail mit kritischen Bemerkungen. Er bezweifelte, dass 30 000 Zivilisten gestorben sind und monierte vor allem eine bestimmte Haltung: „Was mich aber bei all diesen Artikeln stört, die immer wieder das Leid der Palästinenser in Gaza uns näherbringen wollen, ist die Unterschlagung der zumindest theoretischen Möglichkeit, dass die Hamas mit weißen Fahnen aufgibt, ihre Waffen niederstreckt und sich den Israelis  ausliefert.“

Es stimmt, das wäre am besten. Dann wäre der Hunger, der Schrecken und das Leid vorbei. Vielleicht gibt es sogar Versuche, Ismail Haniyya, den Anführer der Hamas im Gaza, zur Aufgabe zu bewegen. Aber ernsthaft glaubt niemand daran, dass Haniyya und die anderen militärischen Anführer klein beigeben. Der Krieg ist ihr Leben, die Vernichtung Israels ihr Ziel. Dafür opfern sie eben auch Zehntausende Männer, Frauen und Kinder im Gaza. Und Bilder wie die vom sterbenden Yazan sind ihr zynisch willkommen, weil sie dort draußen in der Welt Mitleid bewirken.

Der Nahe Osten ist eine Region getränkt mit Hass, mit Tod, mit Leid. So wie du mir, so ich dir und zwar noch schlimmer, das ist die bittere Logik, die sich in wirklichkeitsgesättigten Serien wie „Fauda“ widerspiegelt. Fauda heißt auf Deutsch übrigens Chaos. Chaos ist der Leitfaden für diese Weltgegend.

Zur Wahrheit gehört, dass die Palästinenser im Nahen Osten nur eine politisch dienende Rolle spielen – für den Iran. Denn an der Besserung der herrschenden Verhältnisse für die Menschen gibt es weder für die Hamas noch für die Hisbollah im Libanon noch anderswo in dieser Region großes Interesse.

1947, als Israel gegründet wurde und der Krieg mit der Vertreibung Hunderttausender Palästinenser endete, standen Saudi-Arabien und die Emirate am Golf oder Jordanien noch nicht einmal am Anfang ihrer erstaunlichen Entwicklung. Seither aber sind Saudi-Arabien oder Abu Dhabi oder Dubai oder Katar zu gewaltigem Reichtum gelangt und kaufen verschwenderisch ein, was es anderswo gibt, Taylor Swift und die Fußballweltmeisterschaft inklusive.

Die Palästinenser aber leben zu Zehntausenden immer noch in Flüchtlingscamps und sind der Hamas und der Hisbollah ausgeliefert, die sich nicht um Wohlfahrt scheren, sondern auf ihren militärischen Kampf zur Vernichtung Israels fixiert sind. 

Und Israel? Benjamin Netanjahu macht sich wenig aus den Mahnungen aus Washington oder New York, aus Paris, London und Berlin. Irgendwann mag er den Krieg im Gaza zum durchschlagenden Erfolg erklären, was aber mit Vorsicht zu genießen sein wird. Denn in Israel erwartet man, dass Netanjahu dann gegen die Hisbollah im Libanon vorzugehen gedenkt. Denn solange Krieg herrscht, bleibt er unantastbar.

Der Nahe Osten ist harthörig, resistent gegen Aufrufe zu Frieden und Besinnung. Mit Menschlichkeit dringt man hier nur schwerlich durch. Gerade deshalb ist es ein Segen, dass Amerika unter Joe Biden eine Seebrücke gegen den Hunger bauen lässt. Und wir können nur hoffen, dass ihn dieser Akt der Humanität nicht um die Wiederwahl bringt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.