Der alles persönlich nimmt

Man kann sich natürlich fragen, was sie eigentlich sollte, diese Scheinwahl, die offensichtlich nur einer ernst nahm, nämlich Wladimir Putin, so ernst, dass er seinen ärgsten Widersacher Alexej Nawalny aus dem Weg räumen ließ, zuerst in den Permafrost und dann in den Tod.

Man muss sich auch fragen, was in Putins Gemüt vor sich geht, dass er zu solchen Mitteln greift, um zu gewährleisten, dass dieser Akt der Scheindemokratie keine Störung erfährt. Anscheinend nimmt er alles persönlich. Widerworte führen ins Gefängnis, Opposition ins Straflager. Infragestellung ist tödlich. Rache erstreckt sich bis London oder in den Berliner Tiergarten. Vor Nawalny bezahlte Anna Politkowskaja ihre journalistische Arbeit mit dem Leben. Auch sie sollten wir nicht vergessen.

Wladimir Putin zieht eine Blutspur nach sich, wo immer ihn seine Paranoia hin treibt. Darin liegt die Gemeinsamkeit seiner bislang vier Amtszeiten und auch in den nächsten Jahren dürfte sich daran nichts ändern. Tschetschenien, zehn Jahre lang Krieg. Georgien im Sommer 2008. Die Ukraine, Kriegsschauplatz seit mehr als zwei Jahren. Aus dem Mann, der im Herbst 2001 im Bundestag eine Rede hielt, in der er den Kalten Krieg für unabänderlich beendet erklärte, ist ein Mann geworden, der auf einen Rachefeldzug gegen den Westen zieht, der vermutlich so lange anhalten wird, wie er die Macht inne hat. 

Man sollte sich auch fragen, ob sich ein Land Russland demokratisch regieren läßt, zumal Demokratie hier keine Tradition besitzt. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums gab es unter Boris Jelzin ein flüchtiges Experiment mit Reformen nach kapitalistischem Muster mit Liberalisierung, Privatisierung und Marktwirtschaft. Der Preis waren politische Instabilität und Inflation.

Der junge Mann, dem Jelzin im Jahr 1999 Russland zur Stabilisierung der Verhältnisse anvertraute, hieß Wladimir Putin. Den Auftrag nahm er so ernst, dass er nach und nach eine Diktatur über Russland verhängte. Diktaturen haben hier seit den Zaren Tradition.

Boris Jelzin ist heute genauso wie Michail Gorbatschow vergessen, wenn nicht verfemt. Aus Sicht Putins tragen sie die Schuld am Untergang der ruhmreichen Sowjetunion. Die größtmögliche Demütigung widerfuhr Putin im Jahr 2014 durch Barack Obama, der Russland als Regionalmacht abtat.

Demütigungen können anspornen. Der Gedemütigte kann sich dazu berufen fühlen, es der Welt zu zeigen, vor allem dem Demütiger. Putin, der in einer Dokumentation freimütig davon erzählte, wie er als Kind gemobbt wurde, und wie beengt die Familie in der Einzimmerwohnung zurecht kommen musste, ist ein Kenner von Demütigungen, die er heimzahlt, wo er nur kann. Die Besetzung der Krim und des Donbas im Jahr 2014 waren als Anfang der Reconquista gedacht.

Obama hatte Recht und Unrecht zugleich. Russland ist mehr als eine Regionalmacht, aber auch keine Weltmacht wie im Kalten Krieg, denn diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei, auch wenn Putin diese Tatsache nicht akzeptiert. Russland ist ein Zwischending in der Weltpolitik, die im Umbruch steht, ein Hybrid.

Putin nutzt jedes Vakuum, das sich irgendwo auf dem Erdball eröffnet, sei es in Syrien oder im Sudan, in Libyen oder Mali. Irans Atompolitik hängt von Russland ab und auch Nordkorea braucht dessen Unterstützung. Russland sucht Einfluss dort, wo Amerika sich zurückzieht, freiwillig oder unfreiwillig, genauso wie dort, wo Frankreich seinen Einfluss verliert, zum Beispiel in Afrika.

Konsequent ist diese Außenpolitik, das schon, aber ist sie auch konsistent genug für Putins übergroße Ambitionen? Im Hintergrund steht immer und überall eine weitaus größere Macht, ein anderer Diktator mit imperialem Anspruch, den er militärisch, politisch und ideologisch untermauert: China unter Xi Jinping.

Für China ist Russland nützlich. Russland schmäht den Westen und droht mit weiteren Kriegen zur Beruhigung der Phantomschmerzen. So lange die USA sich in der Ukraine – und im Nahen Osten – engagieren müssen, so lange können sie sich nicht auf Asien konzentrieren, wovon sie schon seit zehn Jahren reden.

Nur aus diesem Grund behandelt China das real existierende Russland mit Vorzug. Denn in Wahrheit ist Russland für China das abschreckende Beispiel dafür, welche Konsequenzen ideologische Lethargie und ökonomische Schwäche nach sich ziehen – den Zusammenbruch eines Imperiums. Von der untergegangenen Sowjetunion lernen, heißt Stärke unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bewahren, egal was der Rest der Welt darüber denkt. Und Russland ist, mit chinesischen Augen betrachtet, eine Resterampe mit bemerkenswerten Illusionen.

Nach erfolgreich manipulierter Wahl geht Wladimir Putin nunmehr in seine fünfte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation. Nicht anders als zuvor wird er handeln und sich verhalten, darauf ist Verlass.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.