Man muss schon ziemlich alt sein, um die Rote Armee Fraktion miterlebt zu haben, um zu wissen, wen sie ermordet hat und was sie einmal wollte. Das liegt auch daran, dass sie sich schon vor 26 Jahren aufgelöst hat, ordentlich mit Sendschreiben samt dem Logo aus rotem Stern und einer Maschinenpistole, die die Umstürzler für eine Kalaschnikow hielten, jener mythischen Waffe aller echten und falschen Revolutionäre, die in Wirklichkeit aber eine MP5 des deutschen Herstellers Heckler&Koch ist. Die Waffe des Klassenfeindes.
Deutsche Terroristen waren stur bis zuletzt. Sie schwiegen vor Gericht: Omertà! Vermutlich amüsierte es sie, dass wir gerne genau wüssten, wer zum Beispiel für die Morde an Bankier Alfred Herrhausen (getötet im Auto durch eine Sprengfalle 1989) oder dem Treuhand-Chef Detlev Rohwedder (1991 durch das Fenster in seinem Arbeitszimmer erschossen) verantwortlich war.
Ob Daniela Klette zur Wahrheitsfindung beitragen kann oder will, wird sich bei den Verhören der nächsten Woche herausstellen. Mit einem gewissen Freimut kann sie die Haftstrafe reduzieren, soviel ist klar.
Sie ist ohnehin nur ein kleines Licht. Eine Epigonin, eine spät berufene Mitläuferin, die bei zwei Sprengstoffanschlägen auf die Deutsche Bank in Frankfurt und auf das Gefängnis in Weiterstadt Anfang der 1990er-Jahre beteiligt war; keine Toten diesmal. Vor allem aber ist sie ein absurdes Beispiel dafür, dass deutsche Terroristen nicht aufhören wollten, obwohl sich ihre Organisation längst aufgelöst hatte.
In Nordirland lieferte sich die katholische IRA knapp 30 Jahre lang einen Bürgerkrieg mit der britischen Armee. Im Jahr 1998 schloss die Regierung Blair mit der IRA ein offizielles Friedensabkommen. Einige Terroristen von einst regierten fortan in Nordirland mit.
In Italien brachten die „Roten Brigaden“ sogar den Ministerpräsidenten Aldo Moro im Jahr 1978 um. Nachdem einige Jahre später ihr Anführer Mario Moretti gefasst worden war, gaben sie auf. Moretti gestand ein, der Mörder Moros zu sein und auch, dass der Krieg gegen den Staat verhängnisvoll gewesen war. Nach 13 Jahren kam er – zu sechsmal lebenslänglich verurteilt – wieder frei.
Deutsche Terroristen sind offenbar erheblich sturer und unnachgiebiger als ihre Gesinnungsgenossen im Norden und Süden. Die Wirklichkeit mag sich ändern, die Geschichte mag sich weiter drehen, der Kampf gegen das System mag verloren sein: egal, ihr Kampf geht weiter und sei es auch nur in ihrem Kopf.
Daniela Klette, ihr zeitweiliger oder dauerhafter Freund Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg machten weiter, als es kein Weiter mehr gab. Sie hörten nicht auf, um nicht ins Gefängnis gesteckt zu werden. Sie überfielen Supermärkte, Banken und Geldtransporter, damit sie Geld zum Leben hatten. Dabei versuchten sie nicht einmal, ihre Raubzüge politisch zu bemänteln.
Staub ist 68, Klette 65, Garweg ist mit bald 56 Jahren der Youngster. Seit mehr als 30 Jahren tummeln sie sich im Untergrund, wie die RAF ihre anonyme Existenz in Betonsiedlungen heroisierend nannte. In der Autobiografie des deutschen Terrorismus zählen sie zur dritten Generation der RAF.
Die erste Generation entstammte der 68er-Studentenbewegung und wollte nicht den Marsch durch die Institutionen antreten, sondern dem demokratischen Nachkriegsstaat die faschistische Maske herunterreißen. Dafür unternahmen sie 34 Morde, etliche Sprengstoffanschläge und einige Entführungen. Ihre Ikonen Andreas Baader, Jan-Carl Raspe und Gudrun Ensslin begingen 1977 im Gefängnis Stammheim Selbstmord. Der Versuch, sie durch die Entführung einer Lufthansa-Maschine nach Mogadischu freizupressen, war im Herbst 1977 gescheitert.
Dann kam die Wiedervereinigung, und sogar die zweite Generation um Christian Klar und Brigitte Hogefeld erkannte, dass sich die Verhältnisse verändert hatten und neue Konfliktlinien entstanden waren, die nichts mehr mit ihnen zu tun hatten. Aus gutem Grund ließ die RAF 1993 erst wissen, dass sie nun das Morden einstellen würde, um dann fünf Jahre später die Selbstauflösung zu verkünden.
Die drei Nebenfiguren Klette/Staub/Garweg, die dritte Generation, unternahmen ihren letzten Überfall auf einen Geldtransport in Cremlingen, mit Panzerfaust und Sturmgewehr, vor acht Jahren. Seither lebten sie irgendwo unauffällig, so vermuteten es die Experten.
Im November soll ein Hinweis eingegangen sein, jemand hatte Daniela Klette erkannt. Im Berliner Stadtteil Kreuzberg wurde sie gestern Abend verhaftet. Sie nannte sich Claudia, gab Nachhilfe in Mathe, lebte in einem größeren Mietshaus und galt den Nachbarn als freundliche Person. Staub und Garweg, die beiden anderen Weitermacher, dürften nicht weit sein.
Das allerletzte Kapitel in der trostlosen Geschichte der „Roten Armee Fraktion“ wird gerade geschrieben.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.