Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 20. März 2020

Was immer die Bundesregierung und die Länderregierungen, die Regierungspräsidenten und Landräte, die Oberbürgermeister und Bürgermeister uns an Verboten auferlegen, wird zu Regel und Gesetz nach langen Erörterungen. Jede Maßnahme ist beispiellos, egal ob die Bundesliga den Spielbetrieb einstellt, Kinderspielplätze schließen oder Milliarden Euro für Kleinunternehmen zur Verfügung gestellt werden.

Unfassbar beispiellos ist aber vor allem dies: Die Grundlage für politische Entscheidungen dieser enormen Reichweite ist schmal. Sie beruht auf vorläufigem Wissen, dass wenig mehr ist als eine Ahnung über die Beschaffenheit des Virus. Zuerst hieß es, wir müssten es einigermaßen glimpflich in die Wärme schaffen, dann werde sich die Krankheitskurve abflachen. Jetzt heißt es, stimmt nicht, Covid-19 ist wärmeresistent.

Willkürlich sind die Daten, die herumschwirren. Die nächste Etappe erreichen wir nach den verlängerten Osterferien, heißt es zunächst. Können die Kinder danach in die Schule gehen und die Studenten an die Unis zurückkehren? Und wie lange steht die Volkswirtschaft den systematischen Stillstand durch? Weder Politiker noch Virologen stellen Prognosen über die Dauer des Ausnahmezustandes. Können sie nach eigener Auskunft ja auch nicht. Also kann die Rückkehr zur Normalität irgendwann nur ebenso willkürlich gesetzt werden wie die Abkehr davon.

Was ist das Kriterium? Wenn der Staat alles Geld in Groß- und Kleinunternehmen gepumpt hat, die Finanzämter auf Steuerzahlungen bis zum Anschlag verzichtet haben und Industrie, Wirtschaft und Mittelstand der Bundesregierung bedeuten: Von jetzt an wird der Schaden unermesslich, hört auf damit, Bedenken hin oder her, die Rezession ist schon da und die Aktienkurse sind sowieso im Keller?

Solche Entscheidungen trifft niemand freiwillig, geschweige denn gerne, wahrscheinlich nicht einmal Markus Söder. Wie gut, dass die Kanzlerin noch Angela Merkel heißt. Ihr traut man am ehesten die richtige Entscheidung im richtigen Moment zu. Ihr traut man. Noch.

Wie skeptisch man auch immer sein mag, so dürften doch nur hochgradig Anfällige für wilde Verschwörungstheorien Merkel und den anderen niedrige Beweggründe für ihre radikalen Unterbrechungen der liberalen Demokratie  unterstellen. Sie wollen Gutes tun oder wenigstens das Richtige und wandeln auf einem schmalen Grat. Sie folgen den Virologen, von denen ein Prachtexemplar wie Christian Drosten zum Ratgeber der Regierung aufgestiegen ist, ein sympathischer Wuschelkopf, der in verständlichem Deutsch komplexe Prozesse erläutern kann. Er arbeitet auf der Basis von Studien, die im Corona-Ursprungsland China und im europäischen Menetekel Italien entstanden sind und entstehen. Das Wissen wächst und Drosten lässt uns an der Vermehrung der Kenntnisse teilhaben. Sein Podcast „Coronavirus Update“, in dem ihn eine NDR-Redakteurin interviewt, sind zum Kult geworden.

Italien übertrifft mit 3 405 Toten China mit 3133 Toten, lernen wir, gefolgt von Iran (1 284). 35 000 Italiener haben sich bislang infiziert. Woran sie starben, untersuchte das italienisch Institut für Gesundheit an 2000 Opfern. Die Mehrheit von ihnen litten unter hohem Blutdruck oder an Diabetes, an Herz-Kreislau-Schwäche oder Nierenproblemen. Die Hälfte der Toten hatten eine Vorgeschichte mit sogar drei schwerwiegenden körperlichen Beeinträchtigungen. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt bei 79,5 Jahren. Bis heute sind nur 17 Menschen unter 50 an der Krankheit gestorben. Nur 3 von allen 2000 waren vor Corona beschwerdefrei gewesen, das sind 0,8 Prozent. Oder wussten sie nur nichts von organischen Schwierigkeiten?

In Deutschland haben sich bis heute 15 320 Menschen infiziert, 44 sind gestorben und 113 sind schon wieder genesen. Lothar Wieler vom Robert- Koch-Institut unterbreitet uns täglich die neuen Zahlen, schränkt sie aber immer wieder ein, weil es offizielle Zahlen sind. Salvatorische Klauseln sind also angebracht, die mit „angeblich“ oder „vermutlich“ oder „wahrscheinlich“ beginnen, und somit sind Informationen immer nur relativ sicher. Südkorea und Japan testen angeblich eifrig und flachen angeblich so den Kurvenverlauf ab. Amerika fängt jetzt erst richtig mit dem Testen an, wobei Kalifornien schnell Ausgangsbeschränkungen auferlegt. Stand heute, offiziell, gibt es weltweit 200 000 Infizierte, Tendenz steigend, was sonst.

Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wir bekommen irgendwann italienische Verhältnisse, sagt Herr Wieler mit seiner sonoren Stimme möglichst unaufgeregt. Muss ich mich jetzt sorgen? Ich bin gerade 70 geworden, fühle mich bestens, spiel Tennis und gehe ins Fitness-Training, habe einen Bandscheibenvorfall hinter mir und nahm meine Grippe im November. War das in Wirklichkeit Covid-19? Woher soll ich das wissen. Meine Frau ließ sich sicherheitshalber testen, negativ, sie ist Intendantin des rbb und eine Infektion würde die gesamte Leitungsebene des Senders zu häuslicher Quarantäne verdammen. Meinen Geburtstag habe ich mit wenigen Freunden und Familie gefeiert, wir waren 11, und uns war klar, dass wir so zahlreich (11!) nicht so schnell wieder zusammen kommen würden.

Zahlen jagen uns. Ihnen sind wir hörig. Wir vergleichen uns mit Italien und sagen: Ist doch klar, Anarchie und Korruption, kann ja nichts werden, kaum eine Chance gegen Corona. Andererseits drohen uns mit unserem besseren Gesundheitssystem und unserem Organisationstalent italienische Verhältnisse, wie Herr Wieler trocken sagt? Uns?

In resignativer Stimmung sage ich mir: Zahlen, die ohnehin nicht stimmen, kann ich genau so gut ignorieren. Statistiken sagen alles und auch nichts. Wenn nur 0,8 Prozent der Toten keine Krankeitsvorgeschichte hatten, ist das schön für alle anderen, aber was nützt es mir, wenn ich zu den 0,8 gehöre? Und sind 200 000 Infizierte weltweit eigentlich nicht ungeheuer wenig? 10 031 Tote: Was bedeutet diese Zahl – viel oder wenig? Sterben nicht so viele Menschen jedes Mal auf Gottes Erdboden, wenn die Tage schlimm sind, in heißen Sommern und in trüben November?  Oder in Syrien? Und sage ich nicht sonst immer: Ich glaube nur an die Statistik, die ich selber aufstelle – oder auch, die ich selber gefälscht habe?

Ich verwandele mich im Schnellverfahren aus einem Ignoranten in einen Halbinformierten aus zweiter Hand. Mir geht Covid-19 flüssig von den Lippen. Ich weiß, das erzählt mir Herr Wieler gerade aufs Neue, dass trockener Husten ein starkes Symptom ist, und dass rund 40 Prozent der Erkrankten Fieber bekommen. Ich schaue mir die interaktive Online-Karte an, die auf Daten der Weltgesundheitsbehörde WHO, der nationalen Behörden zur Seuchenprävention und Gesundheitsämtern beruht, die in Echtzeit aktualisiert wird. Das alles trägt die Johns Hopkins Universität in Baltimore zusammen. Ich schaue auf die Charts, wie ich sonst morgens 

nachschaue, wie die Dallas Mavericks in der Nacht gespielt haben. 

Ich weiß über Corona mehr, als ich je wissen wollte. Ich nerve mich selber damit, dass ich wie ein Schwamm Halbwissen aufsauge, das für die wenigen Gespräche mit den wenigen Menschen ausreicht, die ich noch treffe. Abend für Abend sitze ich auf meinem Sofa und schaue Sendungen, die ich sonst nicht gucke. Bei Anne Will imponiert mir eine Infektologin namens Susanne Herold, weil sie klug und schön ist. Bei Sandra Maischberger höre ich sogar Karl Lauterbach zu, dessen näselnden Welterklärungssingsang ich an normalen Tagen kaum ertrage. Und wieder schaue ich wohlgefällig auf Susanne Herold, die ein Klinikchef aus Eschweiler sinnvoll ergänzt. Markus Lanz rückt Finanzminister Scholz mit seinen frettchenhaften Fragen auf die Pelle, die der ruhig und souverän beantwortet.

Talk Shows werden zu Informationsshows. Die Geladenen labern nicht. Sie reden zur Sache. Eitelkeiten halten sie im Zaum. Der Moderator oder die Moderatorin stellt eine verständliche Frage und die Gäste antworten verständlich. Wer redet, redet so lange, bis die Frage beantwortet ist. Kein Moderator muss sich gegen lärmendes Stimmengewirr lauthals durchsetzen. Jeder Moderator ist erstaunlich gut vorbereitet. Das Setting ist Corona angemessen. Weniger Gäste als sonst sitzen sehr viel weiter auseinander als sonst. Mehr Wissenschaftler als Politiker sitzen im Studio und die Politiker sitzen in ihrer Eigenschaft als Handelnde da und nicht als Kandidaten für den CDU-Vorsitz (wie Armin Laschet) oder als eingefleischter Sozialdemokrat (wie Karl Lauterbach). Das Virus verwandelt Politik-Maschinen in kundige Minister und besorgte Ministerpräsidenten, wie angenehm.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk, über den sich viele Menschen aus vielen Gründen blendend aufregen können, erlebt Sternstunden in dieser Krise. Es ist eben ein enormer Vorteil, wenn ein Land ein Fernseh- und Radiosystem besitzt, auf das sich die Menschen in Krisen verlassen können, egal ob an 9/11, beim Tsunami in Japan oder der Weltfinanzkrise und nun eben Corona. Die neue Sachlichkeit beginnt mit den Nachrichten und den darauf folgenden Sondersendungen, die in den dritten Programmen regional fortgesetzt werden. Die Kanzleriden-Ansprache sahen ZDF im 19.30 Uhr fast 9 Millionen Zuschauer, genauso viel wie später in der ARD. Tagesschau/Tagesthemen und heute-Sendungen haben viel höhere Quoten als üblicherweise.

Ich kann jetzt Sport in meiner Wohnung mit RadioEins um 9.30 treiben. Ich bekomme nach Belieben Corona-Updates im Netz. Die Fernsehsender streamen online Konzerte mit Igor Levitt oder Lang Lang, sie übertragen Carmen, sie lassen sich was einfallen, ja wirklich, sie entfalten ihre Stärke und sind glücklich darüber, dass es kein Staatssekretär für sinnvoll hält, von den Intendanten Gehaltskürzung zu verlangen.

Wenn in der Demokratie die Öffentlichkeit eingeschränkt ist, werden öffentliche Rundfunksender umso wichtiger. Sie sind schneller, natürlich. Mir blutet das Herz als Printmensch, wenn ich sehe, wie alt die Zeitungen sind, wenn sie im Briefkasten stecken. Ja, ich lese Hintergründiges, aber meistens weiß ich schon mehr am Morgen, als am Abend in den Druck ging. Schlimmer noch ergeht es meinem Blatt, dem „Spiegel“, der sich redlich müht, seine Titelgeschichten in die kommende Woche zu projizieren, aber von der gewaltigen Dynamik der Ereignisse überrollt wird. Ich bin froh, dass ich an diesem Rad nicht drehen muss.

Gerade waren es noch Mitterteich und Wunsiedel. Jetzt schränkt Freiburg als erste deutsche Großstadt die Bewegungsfreiheit seiner Bürger ein. Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Markus Söder rügen aufs Schärfste die Corona-Partys, die offenbar überall statt finden. Gleich darauf  geht Bayern vom Androhen zum Verwirklichen über und verhängt eine Ausgangssperre mit genau definierten Ausnahmen: Wer Sport betreibt oder mit seiner Familie spazieren geht, darf das. Wer arbeiten oder zur Apotheke oder zum Arzt gehen muss, darf das. Eine halbe Stunde später folgt das Saarland, das in einer Sonderlage ist mit der offenen Grenze zu Frankreich, über die Menschen wegen ihres Jobs pendeln. 

Übermorgen, am Sonntag kommen alle 16 Regierungschefs mit der Kanzlerin zusammen. Wenn es ein Land tut, dann müssen es alle Länder tun, das ist die bayerische Logik. Ich muss noch ein paar Bücher kaufen. Frischobst wäre gut. Darf ich in Berlin dann noch joggen, wo doch Hundebesitzer Gassi gehen können?

Ich werde sentimental. Im Radio läuft „You’ll never walk alone“ von Gerry and the Pacemakers“, der zurecht vergessenen britischen Band aus den Sechzigern. Ich singe es normalerweise im Stadion von Borussia Dortmund mit 80 000 Zuschauern vor Spielbeginn und liebe das Lied wie jeder Fußballanhänger. Um 8.45 Uhr spielen 180 Radiosender in 30 europäischen Ländern die Hymne, die ursprünglich 1945 für ein kitschiges Musical geschrieben worden war. Ich drehe das Radio auf und singe aus vollem Hals mit und mir kommen die Tränen. Corona spielt mit meinen Gefühlen.

Ich überlege mir, ob ich um 21 Uhr auf den Balkon zum Klatschen gehen. Ist das neue Ritual. Wir klatschen für die Ärzte, Pfleger und Schwester, für Polizisten und Altenpflegern. Für alle, die wir sonst übersehen und jetzt das Ganze am Laufen halten. Machen sie überall in Europa. Ist eigentlich schön. Oder handelt es sich um Corona-Kitsch? Oder ist es schön und kitschig zugleich? Wie werden wir über uns denken, wenn alles vorbei ist? Und wann ist es vorbei? Mein Held Christian Drosten, sagt: vielleicht in einem Jahr. Echt jetzt?

Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 19. März 2020

Markus Söder spricht das Wort aus. Gut möglich, dass es zu einer Ausgangssperre kommt, sagt er in einer Regierungserklärung. Nimmt er dasWort, das die Kanzlerin nicht in den Mund, in seinen Mund in einer Arbeitsteilung: Du sagst es nicht, das nehme ich dir ab, dann bleibt dir Spielraum. Oder macht er, was bayerische Ministerpräsidenten immer gemacht haben: Plustert sich auf, tut sich hervor, traut sich, was sich die Kanzlerin nicht traut und lässt es Bayern und die Welt wissen, dass er sich vor nichts fürchtet, nicht vor der Kanzlerin, nicht vor der Wahrheit, nicht vor dem Virus. Zuzutrauen ist ihm beides: der Dienst an der Sache und die Angeberei.

Markus Söder ist der Wandelbare, aus Gummi. Er kann sich von heute auf morgen verändern. Ihm muss man einiges zutrauen und genau das will er so. Momentan trauen ihm einige Beobachter den Kanzler zu, eine Ambition, die er weit von sich weist, wie man es eben so macht, wenn man dafür sorgt, dass andere darüber reden, was einem schmeichelt. Stand heute ist der Söder Markus ein entschlossen Handelnder, ein Muster an Regierungschef. Die oberpfälzische Kleinstadt Mitterteich erhält das Privileg, die erste deutsche Gemeinde mit Ausgangssperre zu sein. Verhängt hat sie der Landrat, der den Freien Wählern angehört. 

Die Entscheidung fiel im Krisenstab aus Vertretern der Bundeswehr, Ärzten, und Polizisten. Die Zahl der Infizierten war seit Tagen gestiegen. Inzwischen sind es 61, davon 27 in Mitterteich, einer Stadt mit rund 6500 Einwohnern. 15 Infizierte sind im Krankenhaus, fünf müssen beatmet werden. Umgelegt auf die Einwohnerzahl bedeutet das: 3,8 von 1000 sind an Corona erkrankt. Im Landkreis Heinsberg waren 1,8 Krankheitsfälle auf 1000 Einwohner der Grund zur Panik gewesen.

Nach der Entscheidung rückt die Feuerwehr aus und sorgt dafür, dass die Verfügung in sämtlichen Briefkästen landet. Zusätzlich fahren Autos mit Megaphonen durch die Straßen und verkünden die unfrohe Botschaft. Die Polizei kontrolliert jetzt Autos, die unterwegs sind, ob sie unterwegs sein dürfen. Wer behauptet, er sei auf dem Weg zur Arbeit, muss eine Bescheinigung des Arbeitgebers vorweisen. Man darf noch einkaufen, zur Apotheke oder zum Arzt gehen, man kann tanken, zum Geldautomaten stiefeln, Fressen für seinen Hund oder seine Katze besorgen.

Grundlage für die Verfügung in Mitterteich ist Paragraf 28 des Infektionsschutzgesetzes, wonach Behörden Personen verpflichten können, „den Ort, an dem sie sich befinden, nicht zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte nicht zu betreten“. Verstöße können laut Paragraf 75 mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe geahndet werden.

Warum Mitterteich? Am 7. März fand dort das 41. Starkbierfest statt, das ist eine traditionsreiche Trink- und Fressveranstaltung, zu der Menschen aus der ganzen Region strömen, interessanterweise in der Mehrzahl Junge in Dirndl und Lederhose, dazu Ältere, während soziologisch gesehen die Mittelalten fehlen. Womöglich, sagt Landrat Wolfgang Lippert, sei da ein Infizierter herumgelaufen. Die Epidemiologen sollen nun Aufschluss geben, wie das Virus grassiert.

Markus Söder kündigt in seiner Regierungserklärung an, dass auch der oberfränkische Landkreis Wunsiedel vor einer Ausgangssperre steht, wobei aus der Ankündigung rasch Wirklichkeit wird. Söder wirkt wachsam und konzentriert, was ihm gut steht, was er selbstverständlich weiß. Kein Bild ist in diesen Tagen ein Zufall. Keine Geste. Es geht um Kontrolle des Unkontrollierbaren. Es geht um Beruhigung. Es geht um Führung, um Autorität. Selbstverständlich auch um Karrieren, die durch die Seuche beschleunigt oder ruiniert werden kann, wer weiß das schon.

Söder ist ein durchsichtiger Mensch. Ihm merkt man an, wie er sich fühlt. Diese unruhigen Augen. Das Kantige. Die Ungeduld, wenn ein Journalist ihn langweilt. Die Arroganz in Sandra-Maischbergers-Talkshow gegenüber Gerhart Baum, den alten, wachen, klugen Liberalen. Söder, der Franke, redet schnell. Er entscheidet schnell, weil er schnell entscheiden will, weil das die Leute erwarten. Darüber kann man sich lustig machen nach dem Motto: Schau her, der Söder Markus, der Sauhund, spielt Staatsmann. Aber was soll er sonst spielen und spielt er wirklich nur? Er ist, was er spielt, soviel steht fest. Und man kann es auch so sehen: Der Söder Markus erweist sich der Herausforderung gewachsen und denkt schon weiter, das bestimmt.

Ohnehin lernen wir bekannte Gesichter mit neuen Augen kennen. Die umfassende Nüchternheit der Kanzlerin ist plötzlich von Pathos durchwirkt. Stärken werden wieder als Stärken sichtbar und nicht als Schwächen. An Olaf Scholz fällt die ruhige Kompetenz und das Hanseatische wohltuend auf. An Heiko Maas schätzen wir plötzlich den lässigen Umgang mit der Bürokratie, als er deutsche Urlauber von überall her nach Hause holt und dazu sagt, die Frage der Bezahlung hätte er jetzt mal zurückgestellt. Armin Laschet ist allgegenwärtig in Print und Fernsehen und strahlt gelassene Konzentration aus. Er lässt sich nicht anmerken, dass er in Kürze CDU-Vorsitzender und Kanzlerkandidat werden möchte, er ist nicht durchsichtig wie Söder. Er verlässt sich auf die Wirkung, die eintritt, wenn er jetzt vieles richtig macht.

Es ist ernst, sagt die Kanzlerin. Der Ernst richtet die üblichen Verdächtigen neu aus. Politik ist in einem anderen Modus, im Ernst-Modus. Das Selbstreferentielle fällt weg, die lästigen Versuche, sich selber oder seine Partei herauszustellen, das Protzige, das Ideologische, ja, das fällt besonders angenehm weg. Die ganze Demokratie ist im Ernst-Modus. Robert Habeck lobt Angela Merkel über den grünen Klee.

Das Echo auf die Fernsehansprache ist fast unisonongut. Nur Journalisten wie der Morning-Briefing-Guru Gabor Steingart gehen einen Sonderweg, indem sie in alter Manier pompös rechthabern: Angela Merkel hat in der Pose der zürnenden Mutti geredet, meint Steingart, das hat er exklusiv. Er führt auch 7 Fehler der Regierung im Umgang mit Corona auf (natürlich in Anspielung auf die 7 Todsünden). Wo ziemlich viele ziemlich einer Meinung sind, nämlich dass die Mutti das richtig gut gemacht hat und den Ton trifft, findet sich immer jemand, der durch abweichende Meinungen auffallen will.

Ja, irgendwann werden wir ein Resümee ziehen, bei dem es darum gehen wird, was die Kanzlerin versäumt hat oder die Regierungen in Bund und Land früher hätten einleiten sollen. Auch Journalisten sind im Ernst-Modus und halten sich mit Kritikastern zurück. Ist Corona vorbei, ist auch die Zurückhaltung vorbei. Wir werden rekonstruieren, was los war. Wir werden aus dem Inneren der Macht erzählen, wer was wann irrig gemacht und falsch gesagt hat. Diejenigen in der CDU, CSU und der SPD, die momentan zu kurz kommen, werden uns erzählen, was für ein Fehler es war, dass sie zu kurz kamen. Mit Kritik erhöhen wir uns. Das ist manchmal angebracht, aber nicht immer und schon gar nicht aus Prinzip. Wäre ja nicht schlecht, wenn Corona nicht nur unsere Regierenden mit Demut überziehen würde, sondern auch uns. Bescheidenheit ziert und macht Menschen angenehm, oder?

In Wahrheit wissen wir heute nicht, was wir übermorgen denken werden. Wir lernen täglich hinzu, jeder von uns. Das einzige, das wir heute schon wissen, ist dies: Die Bundeskanzlerin wird in den Geschichtsbüchern daran gemessen werden, wie sie das Land durch die Seuche gelotst hat. Es geht um ihr Vermächtnis. Ich bin mir sicher, dass sie sich momentan darum aber wenig schert. Wichtig nimmt sie sich persönlich nicht, aber den nationalen Notstand, wie man den Zustand nennen muss, wenn das öffentliche Leben aussetzt und der Kapitalismus ins künstliche Koma sinkt.

Blick zurück nach vorne: Tagebuch aus den Corona-Anfängen, 18. März 2020

Die Bundeskanzlerin macht das, was sie sonst Auf-Teufel-komm-raus vermeidet. Sie geht ins Fernsehen, hält eine Ansprache, pragmatisch und passioniert, beschwört uns alle, wir mögen uns an die Regeln halten, sie ist die Angela Merkel, von der wir Journalisten immer gesagt haben, dass es gegen ihr Wesen sei, eine Blut-Schweiß-Tränen-Rede zu halten, ja, wir hatten jahrelang Recht und weil sie es diesmal tut, wissen wir spätestens jetzt, wie ernst sie das Virus einschätzt, wie ernst die Lage ist.

Vor zwei Wochen habe ich in meiner Montags-Kolumne auf t-online geschrieben, dass sie ein Vakuum im Kanzleramt darstellt. Das Virus hatte sich heimisch in Deutschland eingerichtet, griff langsam um sich, tückisch und unaufhaltsam, und die Kanzlerin überließ Jens Spahn die Einstimmung der Öffentlichkeit auf das Drama, während der türkische Präsident es sich einfallen ließ, mal ein paar Flüchtlinge über die Grenze ziehen zu lassen, damit sie Europa mit Elendsbildern schocken, was er zynisch erreichte. Auch dazu sagte Angela Merkel nichts. Meine goldenen Worten lasen sich so: „In schwierigen Zeiten braucht das Land Führung, wann denn sonst. Wer sie nicht ausübt, verliert an Autorität. Wer übermäßig schweigt, macht sich verzichtbar. Wer abwesend ist, verkürzt seine Verweildauer im Amt. Wer Unmut auf sich zieht, und der Unmut in Berlin wächst über die Kanzlerin, der beschwört Rücktrittswünsche herauf.“

Das Bestürzende an unserer Zeit mit Corona ist die rasende Geschwindigkeit mit der morgen hinfällig ist, was wir heute sagen und wissen und für richtig halten. Und morgen sind wir wieder weiter und klüger, aber alles was wir sagen und denken und die Regierung sagt und macht steht unter Vorbehalt.

Die gute Nachricht ist: Die Kanzlerin schweigt nicht mehr. Sie führt.

Krisen kann sie. Dafür hat sie das angemessene Gemüt und das passende Temperament. In Krisen ist sie schnell. Als sich die Weltfinanzkrise im Frühherbst 2007 abzeichnete, sagte sie das Richtige und beruhigte Menschen wie Märkte. Auch nutzt sie Krisen. Als der Tsunami über Japan herfiel, zog sie schlagartig die Konsequenz und zerstörte das Geschäftsmodell Kernkraft in Deutschland. Als sich die Flüchtlinge Im Elendstross über die Balkanroute quälten, sagte sie, wir schaffen das, berücksichtigte aber leider die Vorzüge einer Doppelstrategie, die das eine sagt und das andere nicht vergisst. Dialektik ist Absicherung nach allen Seiten, eigentlich ihre Stärke.

Das Virus ist wie der Tsunami und genauso unheimlich. Irgendwo in der Provinz Hubei auf einem Markt mit lebenden Tieren ist Covid-19 von einem dieser Tiere auf den Menschen übergesprungen und rafft seither die Alten dahin und verschont die Jungen, es sei denn sie haben ein Herzleiden oder ein Nierenleiden oder ihr Immunsystem ist aus anderen Gründen derart geschwächt, dass sich das Virus im Körper austobt, bis der heimgesuchte Mensch tot ist.

Die Weltfinanzkrise war ein Hütchenspiel der Banken. Die Flüchtlingskrise war eine Folge der Kriege in Syrien und dem Irak und ausbeuterischer und unfähiger Regierungen in Afrika, so dass viele Menschen sich auf den Weg nach Europa machen. Für diese Krisen gib es  Ursachen und Folgen. Täter und Opfer.

Die Seuche ist der singuläre Täter. Sie kennt nur Opfer und aberwitzige Folgen. Sie stellt zwei Fragen: Wie viele von euch kann ich infizieren und wie viele kann ich töten? Daraus entwickeln sich zwei Fragen für die Regierungen und Bürger in Demokratien: Wie viele Infizierte und Tote halten wir aus? Wie viel Freiheit und Grundrechte lassen wir uns im Kampf gegen Corona nehmen?

Das sind ungeheure Fragen im Frieden. Menschheitsfragen. Autokraten und Diktaturen und liberale Demokratien auf allen Kontinenten haben keine Chance, ihnen auszuweichen. Jedes Land handelt für sich, aber alle ergreifen die gleichen Vorkehrungen und Massnahmen. Jedes Land schottet sich ab, als sei die Wiederkehr des Nationalstaates eine Lösung. Jedes Land leidet unter den gleichen Problemen, die der Mangel an Schutzkleidung und Gesichtsmasken, Krankenhausbetten und Intensivstationen, die zu geringe Zahl an Ärzten und Krankenhauspersonal aufwerfen.

Politik in diesen Tagen stürzt sich auf das Virus und die Virologen werden zu Ratgebern, so dass ihnen ein unerhörter Einfluss zukommt. Was sie wissen und jeden Tag Neues über die Seuche erfahren, fließt in Regierungshandeln und Sachstandsinformationen auf Pressekonferenzen ein. Ohne dass Angela Merkel den kontaminierten Ausdruck in den Mund nimmt, steckt er in jeder Maßnahme, die sie in diesen Tag trifft: Es gibt keine Alternative. 

In ihrer Rede nimmt die Kanzlerin das Wort Ausgangssperre nicht in den Mund. Wie es ihrer Art entspricht, behält sie sich Steigerungsformen vor, falls die Bürgerinnen und Bürger, die sie anspricht, sich wider Erwarten und wider die Vernunft nicht an die neuen gesetzlichen Regeln halten und sich weiterhin in größeren Gruppen treffen und das Ernste nicht ernst nehmen, sondern als Spiel betrachten, weil sie Parteien und Regierungen und besonders die Kanzlerin aus Gewohnheit verachten. 

Sie saß da in meinem Fernseher, formte die Raute mit ihren Händen, die sie im Rhythmus des Redens auseinander zog und wieder zusammen führte. Der Körper, der aus seiner Form quillt, ein Produkt von 15 Jahren extremer Dauerbelastung, der Disziplin nicht mehr gewachsen ist, wirkte plötzlich straff, die ganze Person war gestrafft, dafür sorgt Corona, das Virus, das alles verändert, auch sie, die Unveränderbare. Unwandelbare. Den Eichenschrank, der sich nicht verrücken lässt.

Sie ist wieder voll da. Die Krise holt sie zurück. Die Krise holt das Beste aus ihr heraus. Sie ist sie selbst, aber anders. Menschlicher. Gefühliger. Ohne eine einzige Bewegung verändert sie die Rangfolge. Armin Laschet ist nur noch Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. Friedrich Merz steht außerhalb der Regierung und damit im Abseits und zieht sich alsbald Corona zu.