Shimon Stein, 76, ist ein israelischer Diplomat. Von 2001 bis 2007 war er Botschafter seines Landes in Berlin.
t-online: Herr Stein, welchen Unterschied macht Donald Trump für Israel?
Stein: Ich bin kein Psychologe, aber aus seiner ersten Amtszeit wissen wir, dass er unstet ist, unberechenbar. Aber Trump hat, wie wir auch wissen, ein enormes Ego und möchte unbedingt den Friedensnobelpreis bekommen wie Obama. In der ersten Amtszeit hatte er einen Plan für eine Zwei-Staaten-Lösung aufgestellt. Damals war er der Initiator des Abraham-Abkommens 2020, das zu diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und den Arabischen Emiraten, Bahrain, Sudan und Marokko führte. Möglich, dass er daran anknüpft. Aber wer weiß das schon?
Glauben Sie, dass Israel freie Hand bekommt und nicht mehr, wie von Joe Biden, neben aller Unterstützung gemaßregelt wird?
Für die rechten und rechtsradikalen Kräfte um Benjamin Netanyahu ist ein Präsident Trump eine Erleichterung, das ist wahr. Die Personen, denen er die Nahost-Politik anvertrauen will, sind ausgesprochen pro-israelisch eingestellt, sind selber Rechte. Zum Beispiel ist der designierte Botschafter Mike Huckabee ein starker Befürworter der Siedlungen im Westjordanland. Es ist also genauso gut möglich, dass Trump der Regierung Netanyahu freie Hand zur Annexion der Westbank gibt.
Nicht zufällig haben Vermittler wie Katar ihre Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gaza eingestellt.
Weil es auf beiden Seiten keine neue Angebote gibt. Solange sich weder Israel noch Hamas bewegt, entfällt die Grundlage für Verhandlungen. Allerdings habe ich gerade in israelischen Zeitungen gelesen, dass Leute im Sicherheitsapparat der Auffassung sind, es sei an der Zeit, ein neues Angebot auf den Tisch zu legen. Netanjahu aber lehnt dieses Ansinnen nach wie vor ab.
Aus welchen Gründen?
Vielleicht zum Teil aus Überzeugung. Für ihn ist der totale Sieg über Hamas noch immer ein Ziel, von dem er nicht abrückt. Deshalb ist er nicht bereit, sich aus dem Gaza zurückzuziehen, obwohl das Militär darin kein Problem sieht.
Welche Gründe hat Netanyahu noch?
Er hat drei weitere Gründe. Erstens will er die Wahl in Israel, die Ende 2026 ansteht, so lange wie möglich hinauszögern. Zweitens will er vermeiden, dass eine staatliche Kommission eingesetzt wird, die das Versagen am 7. Oktober 2023 untersucht. Bis heute hat er die Verantwortung dafür persönlich nicht übernommen. Und drittens kann er auf diese Weise seine Anklage wegen Korruption hinauszögern. Und schließlich bleibt seine Koalition intakt, solange Krieg herrscht. Denn für seine Koalition ist Gaza viel wichtiger als der Libanon.
Insofern ist für diese Regierung auch zweitrangig, was mit den Geiseln passiert, die seit dem 7. Oktober in den Fängen der Hamas sind?
Das stimmt, Netanyahu ist es bedauerlicherweise gelungen, die israelische Gesellschaft in dieser Sache zu spalten. Seine Anhängerschaft ist durch den Coup mit den Pagern, die die Führung der Hisbollah getötet haben, noch gewachsen. Deshalb haben die Geiseln keine Priorität mehr.
Gibt es gesicherte Erkenntnis, wie viele Geiseln die Hamas noch in Händen und wie viele davon noch leben?
Man vermutet, dass noch 51 Geiseln am Leben sind. Jetzt ist die Befürchtung, dass manche von ihnen den zweiten Winter in den Tunneln nicht überleben werden. Deshalb wären Verhandlungen über ihre Befreiung zwingend notwendig, wenn wir nicht alle Geiseln in schwarzen Leichensäcken zurück bekommen wollen. Übrigens soll Trump Netanyahu gebeten haben, das Problem mit den Geiseln bis zu seinem Amtsantritt am 20. Januar zu erledigen.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag lässt Haftbefehle für Benjamin Netanyahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Joao Galant wegen Aushungern des Gaza-Streifens ausstellen. Wie reagiert Israel darauf?
Netanyahus Büro weist die Entscheidung zurück und erklärte für absurd und sogar für antisemitisch. Sie könnte schwerwiegende Folgen für Netanyahu und Israel haben.
Sie haben vorhin gesagt, Gaza sei wichtiger als Libanon. Folgt daraus, dass Netanyahu diesen Krieg nicht bis zur völligen Vernichtung der Hisbollah führen will?
Man kann die Hisbollah nicht vernichten, man kann und soll sie schwächen, und das tun wir mit Erfolg. Es ist so, dass Trump zu erkennen gibt, dass er Libanon im Auge behält. Er hat seinen Schwiegersohn Michael Boulos, den Sproß aus reicher libanesischer Familie, zum Berater ernannt. Der Druck, für den Libanon eine Lösung zu finden, scheint nicht gering zu sein.
Wie kann eine Lösung aussehen?
Sie bezieht sich auf die Uno-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 und sieht vor, dass sich die Hisbollah vollständig in Gebiete nördlich des Flusses Litani zurückzieht. Die Durchführung soll eine Kommission überwachen, der Frankreich, die USA und ein arabisches Land angehören. Israel beharrt außerdem darauf, dass es eingreifen kann, sollte die Resolution verletzt werden. Israel ist entschlossen aus den Fehlern seit 2006 zu lernen. Erst wenn sich die Lage zum Besseren wendet, können die Bewohner, die hier gelebt haben und geflohen sind, in ihre Heimat zurückkehren.
Und der Haken an dieser Lösung?
Dass die israelische Bedingung auf Intervention von der libanesischen Regierung oder der Hisbollah abgelehnt wird. Gespräche unter amerikanischer Vermittlung finden derzeit statt. Man kann nur hoffen, dass es schnell zur Eignung kommt.
Wie schätzen Sie denn die derzeitige Rolle Deutschlands im Nahen Osten ein?
Deutschland hat keine bedeutende Rolle, genauso wenig wie die Europäische Union. Und trotzdem, die deutsche Außenministerin ist sehr unternehmungslustig. Sie hat die Region mehrmals bereist. Sie versucht den Eindruck zu erwecken, dass sie auch einen Beitrag zur Stabilisierung der Gegend leistet. Ich persönlich freue mich aber, dass Annalena Baerbock immer wieder auf den Siedlungsbau und das unverschämte Vorgehen der Siedler im Westjordanland hinweist und auch mit Sanktionen droht.
Die Hisbollah massiv geschwächt, die Hamas stark dezimiert – die Ereignisse der letzten Monate haben einen Verlierer und das ist Iran.
Dazu kommt, dass die entscheidende Figur, Ajatollah Ali Khamenei, offenbar schwer krank ist. Angeblich ist sein 45jähriger Sohn schon zum Nachfolger bestimmt worden. Dynastische Lösungen sind im Koran eigentlich nicht vorgesehen, aber wir werden sehen.
Welche Folgerungen zieht Iran nach Ihrer Einschätzung aus den jüngsten Ereignissen?
Ich glaube, dass Iran seine gesamte Sicherheitsstrategie überdenken wird. Iran versprach sich von Hamas und Hisbollah, dass sie Israel davon abhalten, Iran direkt anzugreifen. Seit den Luftangriffen im April und Oktober ist klar, dass dieser Plan nicht aufgegangen ist. Dass Iran Hamas und Hisbollah deshalb abschreibt, glaube ich aber nicht. Eine Vergeltungsaktion auf den israelischen Angriff im Oktober steht eigentlich noch aus. Beim Zögern spielt Trump eine Rolle. Vielleicht bleibt ein Gegenangriff ganz aus, weil sich Iran auf die Trump- Ära einstellen will. Übrigens hielten sowohl Joe Biden als auch Trump Netanyahu davon ab, die Öl-Anlagen oder gar die Nuklearanlagen anzugreifen. Der Bitte von beiden musste Netanjahu nachkommen.
Die Angriffe Israels galten den Raketen-Stellungen. Wie hoch schätzen Sie den Schaden ein?
Die Lang- und Mittelstreckenraketen sind offenbar stark dezimiert. Den Verlust kann Iran nicht von heute auf morgen ausgleichen. Momentan hat das Mullah-Regime keine Abschreckung gegen Israel. Es hat sich außerdem gezeigt, dass Iran für den Mossad durchsichtig ist, als es zum Beispiel den Hamas-Führer Ismail Haniyeh in seiner Teheraner Wohnung ermordete.
Iran ist, wie Sie sagen, durchsichtig für den Mossad, der auch im Libanon Zugriff auf das Führungspersonal hatte. Und dennoch ist der 7. Oktober passiert. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
Als systemisches Versagen. Es ist, wie es ist.
Aus der Schwäche Irans könnte Netanyahu den Schluss ziehen, dass die Gelegenheit günstig ist für einen Angriff auf die unterirdischen atomaren Anlagen.
Iran ist ein Schwellenland. Die politische Entscheidung, ob es Atommacht sein will, soll angeblich noch nicht gefallen sein. Aber wenn Israel bemerken sollte, dass der Iran damit beginnt, Uran von 60 auf 90 Prozent anzureichern, dann würde eine militärische Operation folgen. Sie kann Israel allerdings nicht alleine vornehmen. Ohne aktive amerikanische Unterstützung lassen sich die unterirdischen Nuklearanlagen nicht zerstören. Im übrigen kann man völlige Vernichtung ohnehin nicht erwarten. Das Wissen bleibt ja in den Köpfen der Wissenschaftler. Das Atomprogramm lässt sich nur um einige Jahre zurückwerfen.
Neben Tel Aviv leben Sie ja auch in Berlin. Wie wirkt die deutsche Debatte um Aufrüstung der Bundeswehr für den Fall, dass Putin Nato-Gebiet, zum Beispiel im Baltikum, angreifen wird, auf Sie?
Ich bin ja immer wieder überrascht, wenn sich Menschen überraschen lassen. Putin vollzieht, was er schon 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gesagt hat. Er steht auch in gewisser Hinsicht in der Tradition des zaristischen Imperialismus. Es begann in Georgien, jetzt ist die Ukraine dran, das kleine Moldau lässt Putin beständig unterminieren. Ich sehe nicht, dass die Nato dort eingreifen würde, wenn er es annektiert.
Die Nato mit weniger USA oder gar ohne ist nicht vorstellbar. Wie verhält sich Trump nach Ihrer Einschätzung zum Bündnis?
Für Putin ist die Fortsetzung seiner Wiedereroberungen im Baltikum riskant. Ich gehe davon aus, dass die USA in der Nato bleiben werden, Aber vielleicht werden sie ihre Truppen in Europa reduzieren. Ich gebe Trump übrigens recht, dass die USA nicht 60 Prozent der Nato-Lasten übernehmen müssen. Ohne Trump hätten sich die europäischen Verbündeten nicht um das 2-Prozent-Ziel bemüht.
Trump versteht die USA als Dienstleister. Er kennt nicht die Bedeutung der Allianz als Beitrag zur nationalen Sicherheit der USA.
Deutschland rüstet die Bundeswehr auf, zunächst mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden. Kanzler Olaf Scholz sprach von Zeitenwende. Hat sich auch die Stimmung gewendet?
Ich bin mir nicht sicher, dass die deutsche Bevölkerung die Bedeutung der Zeitenwende voll verstanden hat. Die Anhänger und Wähler von CDU/CSU haben sie vermutlich eher verstanden als die der SPD. Ich glaube, Deutschland ist momentan einfach überwältigt und überfordert, weil es mit so vielen Problemen und Herausforderungen gleichzeitig konfrontiert ist.
Glauben Sie, dass Friedrich Merz besser darauf reagieren wird als sein Vorgänger?
Ein großer Teil der Deutschen hält den Sozialstaat noch für wichtiger als Sicherheit. Insofern stellt sich auch für Merz die Frage nach der Grenze der Zumutungen. Kann er den Paradigmenwechsel vollziehen, vor dem Scholz zurückschreckte? Kann er der Bevölkerung zumuten, Opfer zu bringen? Der Status quo lässt sich jedenfalls nicht mehr halten.
Herr Stein, danke für das Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.