Der Mund ist wahr

Corona

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der 
                                                                Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Paul Celans Gedichte haben mich immer beschäftigt und blieben mir immer rätselhaft. Es ist fast unmöglich, mit Intuition oder lyrischer Vorkenntnis in sie einzudringen. Sie sind hermetisch, dem Verständnis entzogen, sofern es nicht Zusatzinformationen gibt, die einen Erkenntnisstrahl in diese Gedichte werfen. „Corona“ ist in der Zeit seiner Affäre mit Ingeborg Bachmann entstanden. Celan hatte sie 1948 kennengelernt. Vielleicht geht es um das Bekenntnis der Geliebten zu ihm oder den Mangel an Bekenntnis zu ihr oder beider schmerzhaftes Verfehlen der Liebe : Es ist Zeit, dass man weiß.

Corona meint natürlich nicht den Virus, sondern das Sternbild: Der Gott Dionysos verliebte sich in Ariadne und versetzte sie nach ihrem Tod in den Nachthimmel, ins Sternbild Corona. Wenn Celan Brigitte Eisenreich, eine andere Geliebte in Paris, nicht zu Hause antraf, malte er mit Kreide einen Stern auf die Tür, wohl in Anspielung auf das Sternbild oder auch auf Stern, den Juden im Dritten Reich tragen mussten oder an beide.

Ich hatte dieses Gedicht, das im Band „Mohn und Gedächtnis“ aus dem Jahr 1952 aufgenommen ist, schon früher einmal gelernt, aber es blieb nicht haften, blieb mir also fremd, weil es mir keine Geschichte erzählte, die sich mir eingeprägt hätte. Am vorigen Montag saß ich im Bus auf dem Weg, meinen Enkel Theo abzuholen, als mir aus unerfindlichen Gründen „Corona“ einfiel. Ich machte mich daran, es zu lernen. Das ging wie üblich schnell, aber ich sage es mir seitdem Tag für Tag auf, damit ich es jetzt im Gedächtnis behalte.