Wer über die SPD schreiben will oder muss, steht vor der Entscheidung, entweder Sarkasmus walten zu lassen über ihre ewige Zerrissenheit oder den Niedergang dieser ältesten deutschen Partei als Tragödie zu sehen, auch für die Nachkriegsdemokratie. Ich tendiere zur Tragödie.
Kennzeichen einer Volkspartei sind 40 Prozent. Die SPD drang zuletzt 1998 mit Gerhard Schröder in diese Sphäre vor; dieser Kanzler verabschiedete sich im Jahr 2005 mit 34,2 Prozent. Bald fiel die SPD in die 20er-Marke zurück. Im Jahr 2017 war sie mit 20,5 Prozent am Tiefpunkt angelangt; der Kanzlerkandidat hieß Martin Schulz.
Aber wie erleichtert wäre die SPD, wenn sie am 23. Februar 2025 mehr als 20 Prozent bekäme. Was wäre sie selig, wenn sie besser abschneiden dürfte als die AfD, denn ihr Alptraum ist es, dass sie hinter diese nationalkonservative Partei zurückfällt.
Das Argument für Boris Pistorius lautete ja, dass er populär ist und folglich mehr Stimmen auf sich ziehen kann. Das Gegenargument war aber auch nicht zu verachten, weil Pistorius als Verteidigungsminister einen Bonus hatte, der ihm als Kanzlerkandidaten rasch abhanden kommen kann. Auch Martin Schulz war anfangs als Abkömmling des Europa-Parlaments ungemein beliebt, bis er es nicht mehr war.
In Wahrheit steckte die SPD nicht nur deshalb in der Zwickmühle, da Olaf Scholz wie selbstverständlich den Anspruch erhob, als Kanzler auch der Kandidat zu sein. Pistorius hingegen wollte nicht sein, was ihm nicht kampflos zufiel. Folglich zieht die SPD mit dem unbeliebtesten Kandidaten, der sich denken lässt, in den Wahlkampf.
Daran fällt zweierlei auf: Erstens zermartert sich die SPD, wer es machen soll, als hinge alles von der Person ab – als wäre sie so etwas wie das BSW mit ihrem Personenkult. Zweitens ist nicht annähernd geklärt, wofür die SPD steht, was sie will. Sie gibt nach wie vor keinen Grund zu erkennen, weshalb mehr als die allertreuesten Wähler für sie stimmen sollten.
An einem Mangel an Klarheit litt die Ampel auch deshalb, weil die SPD am Mangel an Klarheit krankte. Anfangs wollte sie, was die Grünen wollten – ökologische Transformation der Gesellschaft. Dann wollte sie, was die FDP wollte – solide Finanzen. Und der eigene Beitrag konzentrierte sich auf Markus Heil, der immerhin eine Vorstellung davon hat, wofür die SPD in der Regierung saß. Der Mindestlohn war überfällig. Übrigens wollte schon Gerhard Schröder seine prokapitalistischen Reformen damit verbinden, scheiterte damals aber an den Gewerkschaften.
Heil ist auch das Bürgergeld zu verdanken. Dabei geht es nicht nur um viel Geld, sondern auch um ein Menschenbild. Der Empfänger von Bürgergeld aus SPD-Sicht ist ein guter Mensch, der Dankbarkeit zeigt und sich, großzügig alimentiert, um so mehr darum bemüht, einen Job zu finden. Dass der Bürgergeld-Bedachte sich fragen könnte, ob Arbeit sich lohnt, wenn doch der Staat so freundlich ist, ihm Geld zu schenken, von dem sich leben lässt, ist eigentlich in Heils Weltbild nicht vorgesehen.
Was von der SPD in der Ampel-Regierung haften bleibt, ist die Reduktion auf den Wohlfahrtsstaat. Nebenher läuft die Tradition der Entspannungspolitik, die inzwischen auf einen undefinierten Pazifismus zusammen geschnurrt ist. Dazu kommt ein schlechtes Gewissen, weil es ihr an Kraft und Willen fehlt, sich dem Rechtsdrall im politischen System zu widersetzen.
Da es der SPD an Ideen fehlt, fehlt es ihr an Anziehungskraft in das Bürgertum hinein. Ohne die Mitte der Gesellschaft sind aber 30 Prozent eine Utopie. Die alte Arbeiterpartei kann sie nicht mehr sein, Ersatz findet sich nicht leicht. Der Wohlfahrtsstaat saugt sehr viel vom Bundes-Budget ab. Was der Staat aber einmal gewährt hat, kann er nicht zurücknehmen, siehe 49-Euro-Ticket.
Die SPD-Führung ist ratlos. Und die Besserwisser von gestern kritisieren mit Vergnügen das Durcheinander von ihren Aufsichtsratposten aus, wie zum Beispiel Sigmar Gabriel, einst Vorsitzender, der jedoch die Kanzlerkandidatur scheute.
Was tun? Die Grünen sind eigentlich der natürliche Partner, weil sie im Wesentlichen aus der SPD hervorgingen. Ökologie könnte der Anker sein, ist es aber nicht mehr seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine. So sind Grüne und SPD zwei Waidwunde nach drei Jahren Ampel.
Anderen Partei fehlt es nicht an Klarheit. Die Grünen haben nach wie vor ihren festen Kern in der ökologischen Transformation. Die AfD strebt den antidemokratischen Umbau von Politik und Gesellschaft an. Der BSW ist eine pro-russische Appeasement-Partei. Die CDU/CSU wiederum liegt gut im Wind, auch wenn man noch nicht weiß, was sie anders machen will.
Der beste Grund, CDU und CSU zu wählen, ist die Ablösung der fahrigen, uneinigen Ampel. Dabei tritt die Union mit einem Kandidaten an, der keineswegs beliebt ist, was ihn auf eine Stufe mit Olaf Scholz stellt. Aber am 23. Februar kommt es weniger auf Personen an. Merz wird Kanzler, weil seine Doppelpartei von den Wählern stark gemacht werden wird – um der Stabilität im Land willen. Sein Auftrag lautet, so gut zu regieren, dass die AfD geschwächt wird, indem übergelaufene CDU/CSU-Renegaten zurückkommen.
Am 23. Februar dürfte die Tragödie der SPD ihre Fortsetzung finden. Wahrscheinlich bleibt sie diesmal unter 20 Prozent. Der Hader, wer daran schuld ist, dürfte nahtlos weitergeht. Nach aller Erfahrung muss nach einer krachenden Niederlage die Führung zurücktreten und sich eine jüngere, kreative finden. Findet sie sich?
Taugt eine Partei ohne innere Mitte zum Koalitionspartner? Ist Merz zynisch, wird er sich sagen, eine schwache SPD fügt sich mir leichter als eine starke. Ist er realistisch, macht er einen Bogen um eine Partei, die gegen das Regieren immer auch opponiert.
Unsere Demokratie ist zweifellos an einem kritischen Punkt angelangt. Ihr kommt mit der SPD eine tragende Säule allmählich abhanden. Machtwechsel hieß bisher immer, dass ein SPD-Kanzler einem Unions-Kanzler folgte oder umgekehrt. Schon wahr, es gibt nur 4 sozialdemokratische Kanzler mit Willy Brandt, Helmut Schmidt, Gerhard Schröder und Olaf Scholz, die lediglich 23 von 75 Jahren regierten. Aber die SPD blieb lange Zeit in Reichweite der Macht und in jedem Fall eine Opposition, mit der zu rechnen war. Damit ist es wohl vorbei.
Heute ist die Union die letzte Säule der Republik, wie wir sie kennen. Auf Friedrich Merz gemünzt, der gerne Brandmauern errichtet, könnte man sagen, er ist selber die Brandmauer. Versagt er, ist es gut möglich, wenn nicht wahrscheinlich, dass Deutschland den italienischen Weg geht und eine nationalkonservative Frau wählt, die einer Partei mit lockerem Verhältnis zum Nationalsozialismus angehört.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.