Anwohner in Beirut und anderen libanesischen Städten erhielten heute morgen Textbotschaften auf ihren Handys, in denen sie aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen. Im Büro des libanesischen Informationsministers ging ein Anruf ein, das Gebäude solle sofort geräumt werden. Auf diese Weise warnte die israelische Luftwaffe vor neuen massiven Angriffe, die sie seit Tagen auf ausgesuchte Ziele fliegt.
Die Regierung Netanyahu weitet den Krieg auf eine zweite Front aus. Denn die Einsätze im Gaza und auch im Westjordanland gegen die Hamas gehen ja weiter. Was seit dem 7. Oktober 2023 zu befürchten war, tritt jetzt ein – die Ausweitung eines Konfliktes, der die ganze Region ins Chaos stürzen kann.
Allerdings entwickelt sich die Ausdehnung des Krieges anders, als die Experten in Europa und Amerika angenommen hatten. Die Initiative liegt nicht bei der schiitischen Hisbollah, sondern bei Israel. Netanyahu geht damit ein enormes Risiko ein. Denn Zweifrontenkriege gehen selten gut aus. Die Überdehnung der Armee mit entsprechenden Rückschlägen ist fast immer die zwangsläufige Folge. Israel besitzt zwar eine starke Armee, ist aber dennoch ein kleines Land.
Die Hisbollah, geschwächt durch das Eliminieren fast ihrer gesamten Führung, verfügt schätzungsweise über 100 000 Raketen unterschiedlicher Reichweite. Mehrere davon schlugen gestern in Haifa ein, der Hafenstadt, die nur 50 Kilometer hinter der Grenze zum Libanon liegt. Fliegen zu viele Raketen zur selben Zeit über die Grenze, ist auch der viel gepriesenen Iron Dome machtlos.
Die große Frage ist nun, wie sich Iran verhalten wird. Es sind schon einige Wochen vergangen, seit mitten in Teheran Ismail Haniyeh, der politische Führer der Hamas, getötet wurde. Niemand bezweifelte, dass der israelische Geheimdienst für den Mordanschlag verantwortlich war. Die Führung um den greisen Ali Chamenei kündigte sofort martialisch wie immer härteste Vergeltung an, die jedoch bislang ausgeblieben ist. Um Mäßigung könnte der amerikanische Präsident Joe Biden angehalten haben.
Und nun? Wer könnte noch mäßigen? Wer will es überhaupt?
Eine Ordnungsmacht entfällt, seitdem Netanyahu es gefiel, den amerikanischen Präsidenten hinzuhalten, um ihn schließlich ganz zu ignorieren. Xi Jinping versuchte anfangs sehr vorsichtig, als Vermittler ins Spiel zu kommen. Unter den neuen Umständen wird sich China aber fürs Erste zurückziehen. Und europäische Länder wie Deutschland oder Frankreich bemühen sich redlich um Einfluss, der jedoch keinem von beiden Ländern zugestanden wird, weder in Israel noch in Iran.
Wenn es kommt, wie es im Nahen Osten immer kommt, dann wird die Hisbollah mit neuer Führung in nächster Zeit Stärke demonstrieren. Hochgerüstet ist sie. Iran kann sie unschwer mit noch weiter reichenden Waffen versorgen, die nicht nur im Norden Israels einschlagen, sondern in Haifa oder sogar in Tel Aviv.
Iran sah bisher davon ab, aus dem Hintergrund in den Vordergrund zu treten. Die Hamas gaben die Mullahs dran, jedenfalls schien ihnen der Gaza eher ein unvermeidliches Opfer zu sein. Anders liegt der Fall bei der Hisbollah, die ein verlängerter Arm der Revolutionsgarden ist und auch im Bürgerkrieg in Syrien eine wichtige Rolle einnahm. Die Enthauptung der Hisbollah und der Verlust Libanons könnte die rote Linie sein, die Iran zur Verteidigung seiner regionalen Hegemonie in den Krieg hineinzieht.
Die Logik im Nahen Osten lautet ja: Hass gebiert noch mehr Hass. Rache ruft noch mehr Rache hervor. Massaker folgt auf noch größere Massaker. Tod folgt auf Tod.
Zwei große traurige Verlierer gibt es jetzt schon kraft der Ausweitung des Krieges. So gut wie verloren sind die israelischen Geiseln in den Labyrinthen des Gaza. An ihnen, es sind wohl noch 120, kann sich die Hamas rächen und damit Israel demütigen. Dass sie zum Töten der Geiseln ohne weiteres imstande ist, hat sie schon unter Beweis gestellt.
Der zweite Verlierer ist Amerika. Joe Biden scheiterte mit seiner Doppelstrategie, einerseits Israels Existenz zu garantieren und andererseits enormen Druck auf Netanyahu aufzubauen. Sein Plan sah einen Waffenstillstand vor, dem die Freilassung der Geiseln folgen sollte, woraufhin der Krieg geendet hätte, damit der Wiederaufbau beginnen konnte. Das ausgefeilte Vorhaben starb mit der Explosion der Pager.
Interessant wird sein, wie Benjamin Netanyahu in die Geschichte Eingang findet. Als unerschrockener, eigensinniger Held, der zwei Feinde Israels entscheidend schwächte und deren Mentor in die Schranken wies? Oder als Mann mit größtmöglicher Hybris, der aus Eigennutz Kriege ausweitete, die Israel an den Abgrund führten?
Momentan steht Israel wieder als der Tausendsassa dar, der vieles vermag, was Araber wie Palästinenser wie auch der Rest der Welt ihm nicht zugetraut hätte. Die Explosion von Pager und Walkie Talkies ist die eigentliche Rache für das Massaker am 7. Oktober. Die Führung der Hisbollah steht nun so dilettantisch da, wie Armee und Geheimdienst Israel damals. Dazu kommt dann noch ein zerstörtes Gebäude in Beirut, in dessen Trümmern mehrere Kommandeure der Hisbollah umkamen.
Heute erscheint Israel stark und entschlossen. Und morgen? Frieden ist so fern wie der Mond. Der Ausweitung des Krieges könnte die neuerliche Ausweitung des Krieges folgen. Es geht weiter, immer weiter. Wer kein Herz aus Stein hat, möchte daran verzweifeln.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.