Dass Israel in seiner Existenz bedroht ist, gerät dank des Kriegs im Gaza gelegentlich in Vergessenheit. Der Angriff am Wochenende in einem drusische Dorf auf den Golan-Höhen erinnerte daran. Kinder und Jugendliche spielten Fußball, als die Raketen einschlugen. Gibt es Unschuldigeres als zwölf Kinder, die hinter einem Ball herjagen, aus dem Leben zu reißen? Gibt es Grausameres, als Kinder zu töten, egal ob im Norden Israels oder im Gaza?
Die Hisbollah brüstet sich gerne damit, dass sie Raketen schickt, um ihre Hamas-Brüder zu unterstützen. Diesmal schwieg sie lärmend, denn Drusen vertreten, religiös betrachtet, eine spezielle Form des Islam. Die Hisbollah will Juden töten, auch wenn sie nur Fußball spielen oder ein Konzert besuchen. Darauf kommt es ihr an.
Wenn es eine Steigerung von Brutalität geben sollte, sorgt der Nahe Osten gerade wieder dafür. Wenn es eine Steigerung von Rache geben sollte, erleben wir sie seit fast zehn Monaten. Wenn sich das biblische Auge-um-Auge-Zahn-um-Zahn steigern lässt, dann liefern Hamas, Hisbollah, Houthi-Rebellen und Iran den Beweis dafür und Israel auch.
Seit geraumer Zeit laufen Verhandlungen, die dem Wahnsinn ein Ende bereiten sollen. Zu den nahezu konzilianten Bemerkungen Benjamin Netanjahus bei seinem Auftreten in Washington gehörte der Hinweis, dass es diplomatische Fortschritte gebe und eine Einigung womöglich bevorstünde. Darauf wartet die Welt schon seit vielen Wochen. Steht etwa ein Durchbruch bevor?
Die Verhandlungspartner sind Katar, Ägypten und die USA. Sie informieren jeweils die Hamas und die israelische Regierung. In einer ersten Phase sollen die Waffen für sechs Wochen schweigen. Dann dürfen verwundete oder tote Geiseln an Israel übergeben werden. Wie es dann weitergehen kann, ist nach wie vor ungeklärt, auch nach vielen Runden.
Überraschenderweise klinkte sich jetzt China ein. Die Weltmacht im Wartestand scheint zur Überzeugung gelangt zu sein, dass sich diplomatische Intervention in Nahost vorteilhaft auswirken könnte. Staatliche Medien in Peking berichteten, dass sich insgesamt 14 palästinensische Gruppierungen darauf geeinigt hätten, ihre Gegnerschaft zu überwinden. Dabei ist entscheidend, ob die Fatah, welche die Autonomiebehörde in Ramallah stellt, und die Hamas, die Gaza beherrscht, wirklich demnächst als Einheit auftreten.
Natürlich wüsste man gerne, ob China und die USA in Abstimmung oder Konkurrenz für den Frieden im Nahen Osten eintreten. Ich vermute mal: in Konkurrenz. Aber dass China seinen Ehrgeiz als Friedensstifter entdeckt, lässt sich nicht übersehen. Seine Diplomaten hatten sich ja schon vor dem 7. Oktober 2023 darauf kapriziert, eine Annäherung zwischen den Feinden Saudi-Arabien und Iran zu vermitteln.
Glaubt man das? Machen Fatah und Hamas ernst? Oder wird daraus ebenso wenig wie aus der Versöhnung zwischen Iran und Saudi-Arabien? Schließlich dreht es sich um Todfeindschaft in einer Weltgegend, in der Todfeindschaft der Normall ist. In der das Gesetz, wonach es in der Geschichte nie nur abwärts geht, aufgehoben zu sein scheint.
Paradoxerweise könnten sich die Verhandlungen in Katar mit dem chinesischen Vorstoß ergänzen. Denn pragmatisch gesehen, kann Israel die Hamas nun einmal nicht auslöschen, auch wenn Netanjahu in Amerika dieses Kriegsziel wiederholt hat. Deshalb wäre es auf mittlere Sicht zweckmäßig, wenn die beiden palästinensischen Großgruppen gemeinsam Gaza regierten. Im Gegenzug könnte Israel seine Streitkräfte zurückziehen und ein neuer Anfang wäre gemacht.
Glaubt man daran? Man möchte es glauben. Es ist menschlich, diese Illusion zu hegen. Es ist aber realistisch anzunehmen, dass Iran im Hintergrund und die Hisbollah im Vordergrund diese Entwicklung torpedieren würden, ginge ihnen doch die Hamas als permanenter Störfaktor verloren. Und die Bereitschaft Israels, vom Krieg zu lassen, ist ja auch gering.
Selbst wenn der Gaza befriedet würde, wäre für den Frieden im Nahen Osten noch nichts Entscheidendes gewonnen. Immerhin würde sich die Konstellation womöglich verändern. Denn am Ende des Prozesses soll die diplomatische Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien stehen. Damit würde sich die Zahl der arabischen Staaten mehren, die sich mit Israels Existenz abfinden.
Auf seiner Reise nach Washington wies Premier Netanjahu die Verantwortung für das Leid im Gaza wieder weit von sich. Das stimmt insofern, als am Anfang der Mord an 2000 Israelis und die Entführung von mehr als 200 steht. Das stimmt aber nicht, wenn man die Trümmerlandschaft Gaza als Ergebnis der Invasion in Betracht zieht. Der Wiederaufbau wird irgendwann zu einem gewaltigen Akt werden, der Jahre andauern dürfte.
Nach Schätzungen der Uno sind 70 Prozent aller Wohnungen zerstört. Ungefähr 40 Millionen Meter Schütt wollen weggeräumt werden. Nicht explodierte Bomben und Raketen müssten entschärft werden. Für den Übergang müssten Zeltstädte mit sanitären Anlagen und sauberem Wasser entstehen. Obst und Gemüse können auf längere Zeit nicht angebaut werden. Gaza wird auf Konvois mit Lastwagen, die das Nötigste herbeifahren, angewiesen bleiben.
Krankenhäuser haben israelische Streitkräfte gezielt zerstört, weil die Hamas darunter Waffenlager und Stützpunkte hielt. Daher sind wohl 20 Hospitäler nicht mehr funktionstüchtig. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 80 Prozent. Dass sich Verzweiflung und Apathie breitmachen, ist mehr als verständlich. Knapp zehn Monate können eine Unendlichkeit sein.
Ohne Waffenstillstand als Vorstufe zur Beendigung des Krieges ist an Wiederaufbau gar nicht zu denken. Keine der verhandelnden Mächte, weder die USA noch China, können die Kriegsparteien zum Nachgeben zwingen. So lange bleibt Gaza eine Mondlandschaft. So lange hält das Leid dort an.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.