Vor einigen Tagen starb jemand, den ich in meinem früheren Leben in Hamburg gekannt hatte. Er gehörte zu einer Freundes-Clique, in die wir am Rande integriert waren. Die anderen kannten sich schon seit dem Studium, wenn nicht aus der Schule; außerdem gehörten sie alle demselben Club an der Alster (Hockey/Tennis) an. Mir schien darin das Hamburg-Syndrom zu liegen: Kindergarten, Grundschule, Gymnasium, Studium möglichst in Hamburg. Im Studium allenfalls ein Auswärts-Semester, meinetwegen in Freiburg oder irgendwo sonst, dann aber zurück in die Stadt und in die Kanzlei einsteigen, die dem Vater, dem Schwager oder dem Freund der Familie gehört oder auch in die Holding, in der das Vermögen der Ehefrau steckt.
Die Freunde in der Clique waren samt und sonders Juristen, auch so ein Phänomen. In meinem Studium (Germanistik/Geschichte/Philosophie) in Heidelberg und Mainz hatte ich einen exotischen Freund, der Theoretische Mathematik als Assistenzprofessor lehrte, ein Mann von nüchternstem Pragmatismus. Alle anderen Freunde studierten Geisteswissenschaften. Juristen sind ein eigener Menschenschlag habe ich damals in Hamburg gelernt. Genauer gesagt: Juristen aus Hamburger Bürgerfamilien bilden ein eigenes Milieu, sozial wie kulturell.
Um das Bild abzurunden, muss man auch deren Frauen erwähnen. Auch sie stammten zumeist aus wohlhabenden Familien, behielten jedoch ihre Privilegien für sich – ich dachte mir, aus Scham, verstand es aber überhaupt nicht, dass sie ihre Herkunft geschwiegen, während sie über das Verschweigen der deutschen Schuld mit Zitaten aus Mitscherlich und Adorno räsonnierten. Ihr typischer Beruf war Lehrerin. Sie wohnten in schönen Altbauwohnungen, führten lange Grundsatzdiskussionen, wie oft eine Putzfrau in der Woche kommen sollte, und gingen regelmäßig in die Therapie, wahlweise Analyse. Will sagen: Sie waren weitgehend mit sich selber beschäftigt und der Therapeut/Analytiker wurde zum Freund, der sich wie selbstverständlich als Ratgeber in die Ehe einmischte. So war das in den 1980er Jahren.
Die Frau des Mannes, der gerade verstorben ist, hatte vier Kinder und studierte Medizin. Die anderen Frauen mokierten sich über sie. Ihnen war sie wie ein lebender Vorwurf; so ging es also auch. Nicht nur Männer wollten Karriere machen, sondern auch einzelne Frauen aus dem Hamburger Milieu der Bürgertöchter. Ich mochte sie gerade wegen ihres Ehrgeizes, mit dem sie aus der Rolle fiel. Ihr Alltag war eine große Anstrengung, das konnte man sehen. Was sollte falsch daran sein? Sie hätte es nicht nötig gehabt, denn Ihr Mann hatte von Haus aus viel Geld und dazu ein goldenes Händchen bei seinen beruflichen Projekten. Seine Freunde nannten ihn, den Ältesten unter ihnen, einen herausragenden Juristen. Ich fand ihn hochfahrend und staunte über das Urteil seiner Freunde. Wir spielten Skat, zusammen mit seinen Eltern, die ich mochte.
Wir kamen uns nicht nahe. Wir verloren uns aus den Augen, als wir aus Hamburg 13 etwas weiter aus dem Zentrum gezogen waren. Für die Juristen, die rund um die Alster wohnten, war es undenkbar, zu uns nach Schnelsen zu fahren. So viel Dünkel musste sein.
Der Grund, weshalb der Verstorbene in meinem Leben eine entscheidende Rolle spielte, ist kompliziert und soll hier der Diskretion anheimfallen. Jedenfalls trug er in einer dramatischen Lebensphase dazu bei, dass mein Leben genau die Wendung nehmen konnte, die ich anstrebte. Dafür schulde ich ihm beileibe nicht Dank; er hatte keine Ahnung von meinen Überlegungen. Aber die frühe Hamburger Zeit in einer Clique, in die ich nicht passte, mit einer merkwürdigen Langzeitwirkung über die Freundschaft hinaus, tauchte in meinem Gemüt wieder auf, als ich von diesem Tod erfuhr.