Wenn ich ihn in seinem New Yorker Büro aufsuchte, redeten wir immer erst einmal über Fußball. Mit Fußball war Henry Kissinger aufgewachsen, Fußball wurde zu seiner Leidenschaft, zum Ärger seiner orthodoxen Eltern. Die Spvgg Fürth, die Mannschaft seiner Geburtsstadt, die dreimal Deutscher Meister geworden war, blieb lebenslang sein Lieblingsverein. Er selber war auf dem Bolzplatz ein Allrounder gewesen: mal Torwart, mal Verteidiger, mal Mittelfeld.
Im Alter besaß er eine tiefe, vibrierende Stimme, die ihr eigenes Echo im Leib zu erzeugen schien. Er formulierte bestechend, er war klar im Kopf bis zu seinem Tod. So lange es ging, flog er um den Erdkreis, denn viele Staats- und Regierungschefs wollten mit ihm reden, seinen geschichtlichen Ableitungen lauschen, seine Einschätzungen hören.
Er saß dann unbewegt in tiefen Sesseln, ziselierte seine Gedanken, seine Augen huschten hin und her, mal ernst, mal belustigt, mal genervt. Denken und Reden ermüdeten ihn nicht. Er war das ultimative Beispiel dafür, dass der Geist noch sprühen kann, selbst wenn der Körper verfällt. Und immer blieb sein Englisch vom Fränkischen seiner Heimat gefärbt.
Henry Kissinger war einer klügsten Menschen, die je politische Ämter innehatten. Er war ein Gelehrter, den es zum Handeln drängte. Ein Professor, der über Macht und Ordnung kluge Bücher geschrieben hatte und als Politiker 1973 den Friedensnobelpreis erhielt, weil er den Vietnam-Krieg beenden half.
Er wurde geliebt und gehasst. Für die Presse, die er großzügig bediente, war er das seltsame Phänomen, das sie ausdauernd umkreisten. „Time“ und „Newsweek“ widmeten ihm zahllose Titelgeschichten. Die bunten Blätter Interessierten sich brennend dafür, mit welcher Frau, welchem Model, welchem Filmstar er in welchem Restaurant gesehen worden war. Er war der Rockstar der Regierung Nixon – ausgerechnet er, der Gelehrte mit der goßen Brille und dem starken Akzent, der bestimmt nicht nach Hollywood aussah.
Auch für Verschwörungstheoretiker war Kissinger ein gefundenes Fressen: Sie erklärten ihn wahlweise zu einem Sowjetspion oder zu einem britischen Agenten, gerne aber auch zum Protagonisten einer jüdischen Weltverschwörung. Joseph Heller verewigte ihn in seinem Roman „Good as Gold“, Woody Allen drehte einen Kurzfilm, in dem er ihn Harvey Wallinger taufte und ins Lächerliche zog. Einige Biographen fanden es angemessen, ihn einen „Hofjuden“ zu nennen.
Antisemitismus schwang nur zu oft bei den Kissinger-Verächtern mit. Das muss seltsam gewesen sein für einen Juden, der als Kind Deutschland verlassen musste und später erfuhr, dass die Nazis 23 Verwandte umgebracht hatten.
Mit den Eltern und seinem kleinem Bruder Walter kam Kissinger 1938 in New York an. Ein ausgewanderter Cousin seiner Mutter bürgte für die Familie. Der ältere Sohn war 15, hieß eigentlich Heinz-Alfred, und amerikanisierte sich zu Henry.
Er studierte in Harvard, er war brillant, wusste es und ließ es spüren. Er liebte Kant, der ihn mit seiner Denkungsart stark beeinflusste. Geschichte verstand er politisch und interessierte sich vorrangig dafür, wie sich Macht bildet und wie sie Ordnung in das Chaos bringt: nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach den Napoleonischen Kriegen, nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert. Seine erste große Arbeit als Student trug in schönster Unbescheidenheit den Titel: „The Meaning of History“ – „Der Sinn der Geschichte“.
Geschichte wollte er jedoch nicht nur analysieren, sondern auch gestalten. Er war noch keine 40, da beriet er schon John F. Kennedy und danach Lyndon B. Johnson. Aber ausgerechnet Richard Nixon, über den er abfällige Bemerkungen gemacht hatte, holte ihn als Nationalen Sicherheitsberater ins Weiße Haus und lieh ihm sein Ohr. Das war im Januar 1969 und Amerika führte einen schrecklichen Krieg in Vietnam.
Vietnam war nicht Nixons Krieg. Er erbte ihn. Henry Kissinger hatte ihn schon Jahre zuvor falsch und verhängnisvoll für Amerikas Stellung in der Welt genannt. Zu gewinnen war dieser Krieg 1969 nicht mehr, weder militärisch noch moralisch. Die Verbündeten in Saigon waren korrupt und schwach. In Amerika gingen Studenten in Massen auf die Straßen, verbrannten amerikanische Flaggen und zerrissen Einberufungsbescheide. Joan Baez und Bob Dylan sangen die Antikriegslieder der Gegenkultur.
Vietnam war der Sündenfall der Supermacht Amerika. Dieser Krieg, der nur aus der Paranoia der bipolaren Welt zu verstehen war, spaltete Amerika und schwächte die westliche Supermacht ungemein. Die Folgen reichen bis in die Gegenwart.
Nixon wie Kissinger wollten den Krieg beenden, aber auch Amerikas Niederlage begrenzen. Daraus entstand eine Doppelstrategie, die nur in der Theorie schlüssig war, aber in der Praxis scheitern musste. Sie weiteten den Krieg auf Kambodscha aus und betrieben gleichzeitig Geheimdiplomatie, um Friedensgespräche einzuleiten. Sie eskalierten den Krieg mit Napalm und B-52-Bombern, um ihn zu beenden. Diese Paradoxie verlängerte das Leid und Amerika wurde irre an sich selber.
Der Urheber der Strategie, Henry Kissinger, wurde verteufelt. Wahlweise nannten sie ihn Dr. Evil oder Mephisto oder die Reinkarnation von Machiavelli. Für das linke Amerika war er eine höchst verachtenswerte Person, die für das Böse in der Welt verantwortlich war, sei es Vietnam, sei es die Ermordung Salvador Allendes, seien es die Morde der Militär-Junta in Argentinien.
Sechs Jahre lang regierte das seltsame Duo Kissinger/Nixon die Supermacht Amerika. Dann war es vorbei. Nixon stürzte 1975 nicht über Vietnam, sondern über Watergate, den Einbruch in das Hauptquartier der Demokraten. Wie sich Präsident und Sicherheitsberater voneinander verabschiedeten, war bezeichnend für ihr Verhältnis.
Der Präsident wird am nächsten Tag zurücktreten, das Land fiebert danach. Das Weiße Haus ist wie ausgestorben, Henry Kissinger räumt seinen Schreibtisch auf. Nixon ruft ihn zu sich. Die beiden unterhalten sich darüber, was gewesen ist und was bleiben wird. Kissinger tröstet Nixon damit, dass ihn die Geschichte freundlicher beurteilen werde als die Gegenwart. Er steht auf, will sich verabschieden, da bittet ihn Nixon, noch kurz zu bleiben und mit ihm zu beten. Sie beten zusammen, der paranoide Präsident und der erste Einwanderer, der je in ein so hohes Regierungsamt berufen wurde.
Henry Kissinger ist alt genug geworden, um zu erleben, dass ihn die Geschichte besser behandelt als die Gegenwart. Dafür sorgte er natürlich auch selber: mit seinen zahlreichen Büchern über die Regierungsjahre, in vielen Interviews, die auf YouTube erhalten sind, und mit seinen Memoiren. Er war sein eigener Geschichtsschreiber, sein eigener Homer.
Die Jahre im Weißen Haus liegen nun schon ewig lange zurück, 44 Jahre. Die alten Kämpfe sind verblichen und neuen gewichen. Viele Feinde, viele Verächter von ehedem sind tot und vergessen. Henry Kissinger überlebte sie alle und meißelte beharrlich an seinem Standbild in der Geschichte. Jeder Präsident suchte seinen Rat, jede bedeutende Konferenz schmückte sich mit ihm. Er verstand es im Gespräch zu bleiben, er blieb eine überragende Figur der Zeitgeschichte, denn er trug immer Substantielles zu den großen Zeitfragen bei.
China und Amerika? Ein Konflikt sei unvermeidlich und die Katastrophe, die daraus entstehen könne, „schlimmer als die beiden Weltkriege“ – es sei denn, die beiden Weltmächte brächten es fertig, ihre Konflikte einzudämmen. Ordnung in der Welt, doziert er immer wieder, entsteht nur durch die Selbstbeschränkung der Großmächte, woraus ein Gleichgewicht hervorgeht, das kleine, begrenzte Kriege nicht zu großen Vernichtungskriegen werden lässt – wenn es hoch kommt für 50 Jahre, vielleicht sogar für 100 Jahre. Denn Geschichte, das war für Henry Kissinger der immerwährende Rhythmus aus Anarchie und Ordnung, aus Krieg und Befriedung, aus Aufstieg und Niedergang der Kulturen.
Wer so alt wird, dem sieht man vieles nach. Am Ende seines Lebens war Henry Kissinger wie ein antikes Orakel, das seine Kenntnisse aus einer Tiefe schöpft, die anderen Zeitgenossen verschlossen bleibt. Nun ist das Orakel verstummt.
Veröffentlicht auf t-onöone.de, heute.