Ampelfußball

Normalerweise freue ich mich bei einem Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft über gelungene Szenen und fluche über misslungene. Gestern Abend aber war ich still. Fassungslos. Apathisch. 

Grausam schlecht der Sturm, das Mittelfeld und die Abwehr. Keine einzige Torchance in fast 100 Minuten. Die Österreicher schienen überrascht von der armseligen Vorstellung zu sein, sonst hätten sie leichthin 4:0 oder 5:0 gewonnen. Auch hinterher zeigten sie Mitleid mit uns, das ist die Höchststrafe. Wir sind im freien Fall in die Bedeutungslosigkeit.

Nun lässt sich der Sport immer auch als Spiegelbild des Landes verstehen, das er repräsentiert. Der Vergleich trifft mal  mehr, mal weniger ins Schwarze, aber selten traf er dermaßen ins Schwarze wie in diesen Tagen.

Eigentlich gibt es ja keine einzige Sphäre der Gesellschaft, die frei von Krisenerscheinungen wäre. Deutschland ist das einzige Land in Europa in der Rezession. Konzerne kommen nur dann ins Land, wenn Milliarden Euro an Subventionen winken. In der Digitalisierung sind viele Länder viel weiter als Deutschland. Am Krieg in der Ukraine werden die üblichen Talk-Show-Gäste allmählich müde, ohne die Folgen zu bedenken. Der Krieg im Gaza treibt Künstler und  Schriftsteller in verschiedene Lager, als ließe sich dagegen nichts tun. Die antikoloniale Grundstimmung an den Universitäten richtet sich eher gegen Israel als gegen die Hamas. Dazu der grassierende Antisemitismus in der arabischen Community, aber auch unter deutschen Linken, während die Rechte es aus Islam-Feindseligkeit mit Israel hält: Ziemlich viel auf einmal, ziemlich peinlich, verkehrte Welt.

Deutschland war ehedem berühmt für seine verlässliche Fähigkeit zum Konsens, der auch schon mal biedermeierlich ausfiel. Die Deutschland AG war eine Symbiose aus Wirtschaft und Politik; dazu waren die Gewerkschaften notorisch kompromissbereit. Verfassungspatriotismus war die philosophisch begründete Übereinkunft nach dem Zweiten Weltkrieg.

Deutschland, ein langweiliges, gefestigtes Land? Vorbei, verweht.

Dissens ist heute der Normalfall. Rechthaberei und Verweigerung von Diskussionen, vor allem an Universitären. Minderheiten beharren auf ihrem Recht, was ja in Ordnung ist, aber wo bitte geht es zum Konsens, der ja keinesfalls ein Luxusprodukt ist? Jeder macht seins und stellt Ansprüche an Staat und Regierung, die ansonsten gering geschätzt sind.

Deutschland ist weder ein langweiliges, noch ein gefestigtes Land. Es gibt nur einen Nutznießer am Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Sphären, das ist die Rechte, die AfD.

Nun zur  Bundesregierung: Wie lange hält sie durch? Genauso ratlos wie Julian Nagelsmann antworten Christian Lindner, Robert Habeck und Olaf Scholz auf berechtigte Fragen nach dem Wie-kommen-Sie-jetzt-aus-dieser-Falle-heraus.

Auch an weniger bitteren Tagen haben sich die drei Parteien zuverlässig in ihre Einzelteile zerlegt. An etwaiger Einigkeit, ausgelöst durch die Angst vor dem Machtverlust und die Folgen fürs politische System, glauben nur fröhliche Optimisten. In der FDP rufen sie nach dem Austritt aus der Regierung. Machtversessen und machtvergessen, als käme es auf sie an, ist diese schrumpfende Partei.

Die verschärften Schwierigkeiten für die Regierung und damit fürs ganze Land rühren vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Interessant wäre es herauszufinden, ob die Richter über die Konsequenzen ihres Urteils genau Bescheid wussten oder davon unangenehm überrascht wurden.

Die vielen Milliarden aus dem verworfenen Klima- und Technologiefonds sollten ja in die Modernisierung Deutschlands fließen: ökologische Gebäudesanierung, Elektromobilität und neue Wasserstoff-Technologien, Investitionen in Mikroelektronik und Chipindustrie. Da folglich auch der zweite Buchhaltungstrick, der Wirtschaftsstabiliserungsfonds, nicht verfassungskonform sein kann, fällt das ganze Gebäude, das sich die Dreier-Koalition gegönnt hat, geräuschvoll in sich zusammen. Und somit ist die  Transformation des Landes und seine Zukunftsfähigkeit ernsthaft bedroht.

Was für ein Drama, an dem wir Zeugen sind. Wie endet es? Wir müssen an uns arbeiten, sagt Julian Nagelsmann, der unglückliche Bundestrainer. Was aber sagt der unglückliche Bundeskanzler, wie er den Ausgang des Dramas beeinflussen will? Wird höchste Zeit, dass er sich dazu äußert.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.