Die Dampframme der Geschichte

Donald Trump, ob uns das gefällt oder nicht, schreibt Weltgeschichte. Darin liegt sein Ehrgeiz, darauf will er hinaus. Die Frage ist nur, wie ihn die Historiker beurteilen werden – als Helden oder Schurken. Die Chancen stehen gut, dass sie ihn unbarmherzig behandeln. Dafür könnte der Umgang mit Wolodymyr Selenskji und die Ukraine sorgen

Eigentlich wollte Amerika immer der Standartenführer der freien Welt sein und erlebte auf diese Weise den Aufschwung zur Weltmacht ohnegleichen. Das Missionarische, das in diesem Riesenland von Anfang an steckte, rettete Europa zweimal vor sich selber. Nach 1945 machte Amerika aus zwei Kriegsverbrecherländern wie Japan und Deutschland Demokratien. Und ohne die USA wäre die Sowjetunion nicht implodiert.

Donald Trump will aber die Dampframme der Geschichte sein. Die Europäische Union, sagt er allen Ernstes, sei ins Leben gerufen worden, um Amerika übers Ohr zu hauen. Aus diesem Grund will er Zölle auf Waren aus Europa erheben. Die Nato wiederum besteht aus seiner Sicht aus Schmarotzern, die weniger für das Bündnis ausgeben als versprochen (was stimmt), weshalb er sich aus Europa zurückzieht und auch den Artikel 5 nicht anwenden will, der zur Solidarität verpflichtet, wenn Russland zum Beispiel die baltischen Staaten angreifen sollte. Und Wladimir Putin ist für Trump ein kluger Mann, für den man Verständnis haben sollte.

Die rationale Seite des Bulldozertums ist die Konzentration auf die Auseinandersetzung mit China. Diesen Schwenk nach Asien wollte schon jeder Präsident seit Barack Obama vollziehen, wurde aber davon abgehalten – wegen Syrien, wegen Libyen, wegen Gaza/Libanon/Iran, wegen der Ukraine.

Deshalb will Trump, koste es, was es wolle, diese Kriege in unserer Weltgegend beenden, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – die Konkurrenz mit der anderen Supermacht und Russland im Schlepptau. Die Konsequenzen kannten wir schon länger, wollten sie aber nicht wahrhaben. Seit dem Rauswurf des ukrainischen Präsidenten aus dem Weißen Haus wissen wir endgültig, was uns blühen kann.

Keir Starmer und Emmanuel Macron übernehmen die Führung Europas, und das ist gut so. Großbritannien und Frankreich sind Atommächte, was ihnen großes Gewicht verleiht. Macron unterbreitete schon mehrmals weitreichende Vorschläge für den Ausbau Europas. Der erste Ansprechpartner war jeweils Deutschland, aber dort saßen zuerst Angela Merkel und dann Olaf Scholz. Beiden ist gemeinsam, dass ihnen der Mangel an Phantasie als pragmatische Tugend erscheint, während ihnen der französische Präsident als Tausendsassa-Visionär stets verdächtig war.

Nach London reiste gestern Olaf Scholz, als wäre es selbstverständlich. Die Staatsraison hätte es geboten, Friedrich Merz mitzunehmen, der ja schließlich demnächst die Beschlüsse umsetzen muss, die in diesen Tagen gefasst werden. Konsequenterweise blieb Scholz gestern eine Randfigur. Eine wichtige Rolle nahm statt dessen Polen ein.

Europa hegt die Absicht, einen Plan zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine zu entwerfen. Das Ergebnis soll, so trug es der britische Premier vor, Amerika unterbreitet werden. Bis es soweit ist, will die Europäische Union soviel Rüstungsgut wie möglich liefern, damit die Ukraine weiterkämpfen kann. Großbritannien wie Frankreich bieten Truppen an, die  dann den Frieden militärisch sichern sollen. Da es Frieden oder Waffenstillstand ohne Amerikas Absicherung allerdings noch nicht geben kann, werden Delegationen im Weißen Haus für gutes Wetter werben.

Den besten Draht zu Donald Trump hat offenbar Giorgia Meloni, die italienische Ministerpräsidentin. Starmer und Macron waren in der vorigen Woche im Weißen Haus und verstanden es, Schmeichelei mit Kritik zu verbinden: Nicht die Ukraine, so lautete die Botschaft, sondern Russland fing den Krieg an, und Wladimir Putin ist nicht zu trauen. Nachhilfe in Geschichte muss man dem US-Präsidenten ganz, ganz vorsichtig andienen.

Wie schnell Trump übel nimmt und wie kraftvoll er  sich mit Ressentiments auflädt, wissen wir jetzt. Für ihn hat alles, was gesagt wird und passiert, mit ihm persönlich zu tun. So etwas wie objektive Probleme oder traditionelle Strukturen gibt es für ihn nicht. Zum Schutz vor unliebsamer Wahrheit umgibt er sich mit Freunden und Schmeichlern wie Elon Musk, der dem Auftrag nachkommt, die herrschende Bürokratie nieder zu reißen.

Die Soziologen nennen diesen Regierungsstil Patrimonialismus. Trump belohnt Loyalität und bestraft Unbotmäßigkeit. Er baut den Staat so um, dass er ausschließlich auf ihn ausgerichtet ist. Er tut so, als seien die Institutionen sein persönliches Eigentum oder Zweige seines Konzerns. Und wer sich ihm nicht beugt, ist sein Feind.

Das Treffen in London wird in die Geschichte eingehen. Europa übernimmt Verantwortung auf seinem Kontinent. Großbritannien ist zurück, trotz Brexit. Beim Gipfeltreffen der Europäischen Union am kommenden Donnerstag müssen noch mehr wegweisende Entscheidungen fallen. Dann geht es um eine europäische Rüstungsindustrie und die Finanzierung erhöhter Rüstungsausgaben für jedes Mitgliedsland. Die Unterschiede zwischen Nato und Europäischer Union werden sich ziemlich schnell einebnen. 

Politik bekommt in diesen zukunftsbestimmenden Tagen einen neuen Akzent. Sie ist nicht mehr fern, sie ist nicht mehr abstrakt, sie ist nicht mehr nur Parteienstreit und Rivalität. Sie wird jetzt existentiell aufgeladen, weil nun Fragen von Krieg und Frieden ins Zentrum rücken.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

„Wir spielen eine untergeordnete Rolle“

Als Roland Berger in den 1960er Jahren begann, war Beratung für Unternehmen noch ein Fremdwort. Manager sollten gefälligst selber Strategien entwickeln. Im Boom dieser Zeit änderte sich aber die Arbeitsteilung und externe Berater auf Zeit entwickelten fortan gegen Honorar Marktstrategien. Bald beriet Berger den Großteil deutscher Unternehmen und Banken, eröffnete später Büros weltweit. Seine Lebensgeschichte, die der renommierte Historiker Gregor Schöllgen aufschrieb, erscheint dieser Tage. Berger, 87, berät noch immer Unternehmen und CEOs. Er sagt, so bleibe es, „solange ich in der Lage bin, um die Welt zu fliegen“.

t-online:  Herr Berger, wären Sie in der Welt von heute gerne noch mal jung?

Berger: Ja, schon, weil ich ein positiver Mensch bin. In der Krise liegen nach meiner Erfahrung immer auch große Chancen. Und wenn ich meine Chance hier nicht fände, würde ich sie irgendwo auf der Welt  suchen. In einem Zeitalter, in dem die Technologien sich rasant verändern, würde mir sicherlich etwas einfallen. 

Ihre Karriere fiel in die goldenen Jahre der Bundesrepublik. Ist diese Zeit unwiederbringlich vorbei?

Nicht unwiederbringlich, aber im Moment durchleben wir eine erhebliche Krise. Wir stecken in der Rezession, in den letzten fünf von sechs Jahren war die Industrieproduktion rückläufig. Wir haben kaum noch wachsende Netto-Investitionen, weder im öffentlichen noch im privaten Bereich. Wir sind weit weg vom Exportweltmeister Inzwischen sind wir der drittschlechteste Exporteur in der OECD. Die Arbeitslosigkeit liegt schon wieder bei 3 Millionen. 

Krisen sind gute Zeiten für strategische Berater. Wo würden Sie ansetzen?

Wir haben ein Grundsatzproblem: Unsere Industrie ist Weltspitze in Technologien, die zwischen 100 und 200 Jahre alt sind. Chemie: 100 Jahre alt. Automobilindustrie 150 Jahre alt. Maschinenbau: 200 Jahre alt. Aber wir müssen feststellen, dass zum Beispiel China bei allen drei Produktkategorien, vor allem der Automobilindustrie, schnell auf unser Niveau kommt und uns mit niedrigeren Preisen bei gleicher technologischer Leistungsfähigkeit bekämpft. Die Zukunft liegt in disruptiven Technologien wie der Digitalisierung, in künstlicher Intelligenz oder in Gen- und Biotechnologien. Und wir? Wir spielen auf diesem Feld eine untergeordnete Rolle. Wir haben SAP, ein exzellentes Weltunternehmen, aber dessen Marktkapitalisierung macht nur gut ein Zehntel von Microsoft oder Apple aus.

In Not ist die besonders die deutsche Automobilindustrie. 

Sie wird nicht aussterben. Sie produziert heute schon in den USA, in China, Südamerika, in Südostasien. Sie kann sich auch nach Afrika ausdehnen, was teilweise, zum Beispiel in Südafrika, schon geschieht. Aber sie muss eine ganze Generation Technologie bei den batteriegetriebenen E-Autos und bei Hybriden aufholen. Das Auto der Zukunft wird ein Computer auf vier Rädern sein. Die deutsche Automobilindustrie wird weltweit stark bleiben, aber mit weniger arbeitsintensiver Wertschöpfung und Beschäftigung in Deutschland. Wir werden mittelfristig weniger Autos in Deutschland produzieren, doch die hochwertigen Wertschöpfungsfunktionen wie Entwicklung, Design, Software-Entwicklung bis zu Produktionsanläufen, Logistik und der Fertigung von Premiumautos im Lande behalten können.

Die Wirtschaft macht die Politik für die Krise verantwortlich. Die Regierung wiederum sucht die Versäumnisse bei den Unternehmen. Wer von beiden hat mehr recht? 

Die Politik muss die Rahmenbedingungen setzen – von der Bildung über Forschung bis zur Technologieentwicklung. Aber bis zu 80 Prozent der Investitionen entfallen auf die Industrie. Und die Unternehmen bewähren sich mit ihren innovativen Produkten im freien Wettbewerb auf den Märkten. Dort haben sich unsere starken Industrien bisher gut geschlagen. Was uns jedoch praktisch fehlt, sind Start-ups in den disruptiven Zukunftstechnologien, aus denen dann große, weltmarktführende Unternehmen werden. Sobald sich diese als einigermaßen wettbewerbsfähig erweisen, werden sie aufgekauft – im positiven Fall von deutschen Großkonzernen wie Siemens, Bosch oder anderen, zu oft  aber von ausländischen Wettbewerbern oder Finanzinvestoren.

Vorhin haben Sie SAP als Leuchtturm erwähnt. Wie ließe sich dieser Erfolg wiederholen?

SAP wurde gegründet von einer Handvoll Partnern mit innovativen Produkten, die das Unternehmen bis zu einer kritischen Größe weltmarktfähig entwickelt haben und dann an die Börse brachten. Zuerst haben sie sich selber finanziert und dann über den Kapitalmarkt die Mittel bekommen, um international groß zu werden, vor allem in den USA. Solche Beispiele haben wir heute viel zu wenige. In China sind die Fahrdienste von Didi größer als Uber und Tencent größer als Google. In den Biowissenschaften ist ein solider deutscher Hoffnungswert die von dem Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci aufgebaute BioNTech SE, die mit ihrem mRNA basierten Impfstoff Deutschland durch die Covid-Pandemie geholfen hat. Mit Hilfe ihrer deutschen Investoren – selbst exzellente und risikobereite Unternehmer – kann daraus ein Weltunternehmen wie SAP werden.

Der nächste Bundeskanzler wird Friedrich. Wie gut kennen Sie ihn? 

Schon ziemlich lange und relativ gut. Ich bin ihm während seiner Jahre in der Wirtschaft, in Aufsichtsräten und zuletzt bei Blackrock immer wieder begegnet. 

Wo liegen seine Stärken? 

Er ist klar im Kopf, ein guter Analytiker. Er ist fähig, Strategien und Visionen für unser Land zu entwickeln und mit der richtigen Regierungsmannschaft umzusetzen. Er ist rhetorisch exzellent, wenn auch kein Mann für die Marktplätze und die Bierzelte, auch nicht für die sozialen Medien. Aber er ist führungsstark, vertrauenswürdig und hält ein, was er verspricht

Denken Sie denn auch, dass Alice Weidel unsere nächste Kanzlerin werden könnte, falls Friedrich Merz scheitert?

Ich mag mir nicht vorstellen, dass eine rechtsradikale Partei, die  ihre Wurzeln im Nationalsozialismus hat und sich durch Verständnis für Russlands Diktatur auszeichnet, eine Mehrheit gewinnen könnte. 

In diesen Tagen erscheint eine Biographie über Sie, geschrieben von dem Historiker Gregor Schöllgen. Sind Sie  glücklich damit? 

Ja, ich finde, das Buch liest sich leicht und ich bin auch ganz gut getroffen. Man muss wissen, Gregor Schöllgen ist ein seriöser deutscher Historiker, der nur schreibt, wofür er handfeste Belege hat. Deshalb kommt fast notgedrungen ein Aspekt kommt zu kurz – unsere internationalen Aktivitäten. Aber wer sich für unternehmerische Wege zum Erfolg interessiert, sollte das Buch lesen.

Sie haben in den 1960 er Jahren die Beratung als junger Mann in Mailand in einer italienisch-amerikanischen Firma gelernt. Warum sind Sie nicht dort geblieben, sondern nach München zurückgegangen? 

München war mein Zuhause. Ich habe gedacht, ich probiere hier aus, was ich in Italien und Amerika gelernt habe. Unsere Wirtschaft war damals im Umbruch, das Wachstum betrug durchschnittlich 5 Prozent, heute ein Traumwert. Ich wollte dabei sein, ich traute mir zu mitzugestalten.

Aber damals war es noch nicht üblich dass sich Konzerne extern Rat suchten. Den Markt, auf dem Sie beraten wollten, gab es noch nicht.

Das stimmt, Unternehmer oder Manager sollten selber ihre Strategie entwickeln und umsetzen, sonst war ihr Job in Gefahr. Aber im Boom dieser Zeit nahm die Arbeitsteilung und damit die Spezialisierung auch in Deutschland zu. Die Großunternehmen waren teils verbürokratisiert und schwerfällig. Deshalb schien es vorteilhaft zu sein, auf Zeit Berater von außen zu engagieren, die einen unvoreingenommen Blick auf die Dinge warfen und Vorschläge unterbreiteten. Das kostete Geld, schon wahr, aber jeder Unternehmer war die Berater nach drei, vier Monaten auch wieder los.

Sie haben sich selbst als „unruhiger Kopf“ bezeichnet. Was meinen Sie damit? 

Na ja, ich gebe mich nicht damit zufrieden, was ich gerade tue. Ich schaue mich immer um, ob es etwas noch Interessanteres gibt. Ich bin auch bereit, Risiken einzugehen.

Hat sich die Unruhe mit den Jahren gegeben?

Natürlich bin ich stolz darauf, dass ich aus einer Einmannfirma die größte weltweit tätige nichtamerikanische Strategieberatung gemacht habe. Aber genauso stolz bin ich heute auf meine Stiftung. die sich um talentierte, leistungsbereite Kinder aus sozial benachteiligten, bildungsfernen Familien kümmert und sie von der Volksschule bis zum Abitur begleitet. 

Sie haben diese Stiftung 2008 gegründet. Wie viele Kinder haben Sie seither auf den Weg gebracht? 

Insgesamt gut 1100 Kinder bundesweit. Heute konzentrieren wir uns auf 80 Partnerschulen und haben insgesamt 700 Stipendiaten. Sie bekommen kein Geld, sondern Unterrichtsleistungen. Wir finanzieren Schulausflüge und übernehmen die Kosten für Ferienakademien an der Ostsee oder auch mal in Norditalien. Dazu bekommt jeder Stipendiat einen ehrenamtlichen Mentoren, der ihm die bürgerliche Gesellschaft öffnet und mit ihm zum Beispiel ins Fußballstadion, in die Oper oder in Konzerte gehen.

Ihre Stiftung ist ein Ergebnis Ihrer Karriere, die Sie im München der 1960er Jahre begannen.  We lange hat es gedauert, bis Sie Boden unter den Füßen hatten? 

Anfangs hatte ich einen Beratungsvertrag mit einer Werbeagentur, für die ich zwei Tage die Woche arbeitete. Dadurch hatte ich ein Büro und eine Sekretärin. Den Rest der Woche arbeitete ich auf eigene Rechnung. Ungefähr nach 10 bis 12 Jahren war die Nachfrage nach Roland Berger Strategy Consultants und unseren Leistungen groß genug, so dass wir finanziell unabhängig waren. Von da an wuchs die Firma rasant. Die Voraussetzung für den Erfolg war unsere Bekanntheit und Reputation und ein wachsendes Netzwerk in der Wirtschaft und auch in der Politik. 

Dann haben Sie einen Großteil der deutschen Banken und Großunternehmen strategisch beraten. Was ist aus heutiger Sicht Ihr größter Erfolg?

Wahrscheinlich die Sanierung und Restrukturierung und Privatisierung der Lufthansa, so dass daraus ein wettbewerbs- und börsenfähiges Unternehmen entstand, das war 1992. Wir haben den gesamten Konzern in sechs fokussierte Divisionen gegliedert –   Lufthansa-Passage, Lufthansa-Fracht, Lufthansa-Technik, heute übrigens der Weltmarktführer bei Flugzeugreparaturen und -services usw.

Was war Ihr größter Misserfolg?

 Das werde ich oft gefragt. 

Na ja, liegt ja auch auf der Hand. René Benko, der österreichische Unternehmer, der gerade pleite ging? 

Das war eine Privatinvestition, hatte mit der Firma nichts zu tun. Wir haben unseren Kunden keine Luftschlösser gebaut, sondern  machbare Lösungen kreiert und uns um Innovation bemüht. Also, ich würde sagen, von unseren Projekten ist eigentlich keines schief gegangen.

Sie sind mehrmals gefragt worden, ob Sie nicht Wirtschaftsminister werden wollten, zuletzt 1998 von Gerhard Schröder. Was hielt Sie vom Seitenwechsel ab?

Einerseits hatte ich damals das Gefühl, mein Unternehmen sei noch nicht so weit, als dass ich es allein lassen könnte. Wir hatten systematisch Büros in großen Teilen der Welt aufgebaut, wir hatten uns gerade internationalisiert. Andererseits stammte das Wirtschaftsprogramm der SPD überwiegend von Herrn Lafontaine; damit konnte ich mich nicht identifizieren. Wobei ich natürlich wusste, dass Gerhard Schröder zu Veränderungen fähig war. Ich wusste aber auch, dass Quereinsteiger in der Politik nicht wirklich eine Chance haben, Einfluss auszuüben. Ihnen fehlt nun einmal der Stallgeruch.

Ihre Firma trägt weiterhin ihren Namen, aber Sie sind raus. 

Ja, ich bin raus.

Wie schwer fiel Ihnen das Loslassen? 

Ich habe meine bis heute vier Nachfolger als CEO unserer Firma noch zu meiner aktiven Zeit selber angeheuert und gefördert. Ich bin im Jahr 2003, nach meinem 65. Geburtstag, in den Aufsichtsrat gewechselt, habe aber als Berater weitergearbeitet und blieb unser Hauptverkäufer, auch international, bis zu meinem Ausscheiden aus dem Aufsichtsrat 2010. Bis zu meinem 85. Lebensjahr war ich dann Ehrenvorsitzender, doch ohne Anteile, ohne Stimmrecht – doch schon einer, der mitredet. 

War das Aufhören wirklich so einfach?

Ich bin nicht ganz im Guten aus der Firma ausgeschieden. Nach meiner Zeit geriet die Firma in schweres Wasser und ich habe 100 Millionen Euro aus meinem versteuerten Privatvermögen hinein gesteckt. Teile davon bekamen meine Stiftung und ich zurück, 30 Millionen Euro habe ich den Partnern geschenkt.

Geben Sie heute noch Rat?

Ja, das habe ich mit der Firma beim Ausscheiden vereinbart. Ich kann persönlich Unternehmen oder CEOs beraten. Und das tue ich auch, solange ich in der Lage bin, um die Welt zu fliegen.

Das letzte große Ereignis, das mit Ihrem Namen verbunden ist, entstand aus einem Artikel im „Handelsblatt“  im Jahr 2019, der sich um die Geschichte Ihres Vaters in der Nazi-Zeit drehte, aber gegen Sie gerichtet war. Wie hart hat Sie das getroffen?

Sehr hart. Die Journalisten kamen auf meinem Vater durch ein Buch über die Hitler-Jugend. Mein Vater war als Fachbeamter  Reichskassenverwalter der HJ und machte dort Karriere. 1939, noch vor Kriegsbeginn, kündigte er und schied aus. Er hat mir erzählt, die Reichspogromnacht 1938 habe ihn nicht in Ruhe gelassen, aber er war auch ein gläubiger Mensch, ein Christ, der seine Religion leben wollte.

Das „Handelsblatt“ warf Ihnen vor, Sie hätten Ihren Vater als Opfer der Nazis dargestellt.

Ich habe gesagt, mein Vater sei 1932 oder 1933 in die NSDAP eingetreten – es war aber 1931. Und ich habe gedacht, er sei mit seiner Kündigung bei der HJ 1939 auch aus der Partei ausgetreten, was nicht stimmte. Ich habe dann den Historiker Michael Wolffsohn um ein Gutachten gebeten, das die Geschichte meines Vaters detailliert rekonstruiert und die gegen mich gerichteten Vorwürfe richtig stellt. Mein Vater wurde 1940 in Wien Chef der Ankerbrotfabrik. Baldur von Schirach, der Gauleiter von Wien und ein alter Feind meines Vaters aus HJ-Zeiten, sorgte dafür, dass er seine Stellung verlor und Arbeitsverbot erhielt. Am Ende des Krieges war mein Vater finanziell ruiniert und gesundheitlich schwer gezeichnet.

Ihre Eltern ließen sich 1952 scheiden. Ihre Mutter hat bis ins hohe Alter in Ihrer Firma gearbeitet. Wie kam das?

Als ich mich selbständig machte, hat sie abends die Buchhaltung gemacht. Tagsüber ging sie ihrem eigenen Job nach. Dann war irgendwann die Firma groß genug, so dass sie unsere Finanzchefin wurde. Als wir später einen professionellen Steuerberater und Wirtschaftsprüfer als Finanzchef gewonnen haben, kümmerte sie sich um die Reiseabrechnungen der Berater, einem wesentlichen Kostenfaktor. So blieb sie mit jungen Leuten in Kontakt.und vereinsamte nicht.

Herr Berger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

Schafft das Friedrich Merz?

Eigentlich konnte man sich immer darauf verlassen, dass die Deutschen  darauf bedacht sind, eine stabile Regierung zu wählen. Dazu gehörte, dass jemand Bundeskanzler werden konnte, den die Leute achteten. Auch deshalb hatte das Land zumeist Glück mit den Herren und der Dame, die sie regierten, und deshalb durften sie zumeist lange im Amt bleiben.

Manchmal schon ging es verdammt knapp zu. Konrad Adenauer wurde im Jahr 1949 mit einer einzigen Stimme Mehrheit zum Gründungskanzler gewählt – seiner eigenen. 20 Jahre später, 1969, beschlossen SPD und FDP gemeinsam zu regieren – „Machtwechsel“ hieß der Vorgang damals, weil die CDU/CSU, die das Recht, den Kanzler zu stellen, seit Adenauer für gottgegeben erachtete, plötzlich in der Opposition landete. Willy Brandt führte das Land und baute drei Jahre später seine Mehrheit erheblich aus. Er wurde von den Deutschen für seinen Mut belohnt, Entspannungspolitik zu betreiben.

Ihn hätte sich Olaf Scholz besser zum Vorbild genommen – besser für ihn, besser für uns. Halbherzigkeit anstatt Mut: Zeitenwende für die Bundeswehr, aber keine Wehrpflicht. Rüstungsgüter für die Ukraine, aber keinen Taurus. Die Deutschen belehren, aber nicht führen.

Für Olaf Scholz tanzten die Deutschen im Jahr 2020 zum ersten Mal aus der Reihe. Sie machten ihn zum Zufallskanzler. Armin Laschet lachte im falschen Moment am falschen Ort und machte im übrigen auch nicht den Eindruck, er wäre ein starker Kanzler, dem man das Land anvertrauen darf.

Olaf Scholz war schon viele Jahre in der gehobenen Politik gewesen, als Bundesminister, als Bürgermeister. Er war kompetent, er sagte das Richtige im richtigen Moment. Ihm trauten die Deutschen zu, dass er Kanzler konnte. Für ihren Irrtum haben sie ihn jetzt bitter bestraft.

Was sich jetzt ereignet, ist kein Machtwechsel, sondern ein Machtwechselchen. Die SPD bleibt, wo sie ist – geschrumpft  in der Regierung. Friedrich Merz zieht ohne Glanz und Gloria ins Kanzleramt ein. Immerhin bewahren uns die Wähler vor einem erneuten Dreierbündnis. Aber die nächste Koalition bringt nur 44,9 Prozent auf die Waage. Relativer war noch nie eine Mehrheit im Bundestag.

Die Deutschen erteilen zum zweiten Mal einem Mann die Chance, Kanzler zu werden, von dem sie nicht besonders viel halten. Friedrich Merz macht ja eigentlich was her: groß gewachsen, schlank, selbstsicher. Hat einiges hinter sich auch, auch die grandiose Niederlage gegen Angela Merkel. War in der Wirtschaft, ist finanziell unabhängig. Kämpfte sich in der CDU im dritten Anlauf durch.

Neigt aber auch zu Übersprungshandlungen. So überstürzt ging er bei dem Versuch vor, ein scharfes Gesetz gegen Immigration mit freundlicher Unterstützung der AfD durch den Bundestag zu jagen. Er begründete die Notwendigkeit mit den Attentaten in Aschaffenburg und München. Nach durchdachtem Vorgehen unter besonderen Umständen hörte sich das nicht an. Er setzte viel aufs Spiel, unter anderem seine Glaubwürdigkeit.

Einem zukünftigem Kanzler, der dem Voluntarismus nicht abhold ist, geben die Deutschen keinen Vertrauensvorschuss. Sie bauen im Gegenteil einen Vorbehalt ein, indem sie die Union weit weniger als die erhofften 30 Prozent plus gewähren. Die Auseinandersetzung über die Schuldfrage am mageren Ergebnis ist nur aufgeschoben.

Ironischerweise liegt über Friedrich Merz der lange Schatten von Angela Merkel. In ihre Amtszeit fällt das Jahr 2015, als die die Grenzen für Geflüchtete öffnete und den legendär humanen Satz formulierte: Wir schaffen das. Sie hat es nicht geschafft, wir haben es nicht geschafft. Aber die AfD schaffte es, binnen kurzem aus einer Professorenpartei zu einer Anti-Immigrations-Partei zu werden; in Ostdeutschland ist sie sogar, was einmal Volkspartei hieß.

Die Wähler tragen der Union 2015 noch nach. Vielleicht wäre Merz belohnt worden, hätte er das Gesetz durch den Bundestag geboxt. So aber sagten sich die Wähler: Netter Versuch, aber ihr schafft es nicht.

Jetzt wird die Union zum vierten Mal mit der SPD regieren. Wird die SPD, ramponiert wie sie ist, wieder in den Brauch verfallen, zugleich zu opponieren? Oder folgt sie ab jetzt dem dänischen Modell – strikte Flüchtlingspolitik plus Aufrüstung? Schafft diese Koalition, was sie unbedingt schaffen muss?

Immigration ist nicht das allerwichtigste Thema, aber darin bündelt sich die grassierende Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen, mit der Demokratie. Jens Spahn sprach am Wahlabend ein paar dramatische Sätze aus, die einfach zutreffen: Schafft es diese nächste Regierung nicht, drängende Probleme zu lösen, dann vollzieht Deutschland bald nach, was in Holland und Österreich schon passiert ist und Frankreich nach Emmanuel Macron blühen kann – dann überholt die AfD die Union.

Ja, Friedrich Merz weiß, worauf es jetzt ankommt. Er hat es auch gestern Abend wiederholt. Der Westen, wie wir ihn kennen, ist zerschellt. Die europäische Nachkriegsordnung unter dem Primat der USA löst sich auf. Die Schutzmacht Amerika, auf die sich Deutschland verlassen konnte, will nicht mehr Schutzmacht sein.

In Europa muss Deutschland wieder die Initiative ergreifen. Auch darauf hat Merz vehement hingewiesen. Eine supranationale Rüstungsindustrie aufzubauen ist überfällig. Die Bundeswehr braucht Geld, viel Geld für viele Rüstungsgüter. Deutschland muss für den Fall der Fälle, der Krieg heißt, gerüstet sein. Und wie nebenbei muss die Wirtschaft aus der Krise kommen und der Reformstau im Inneren aufgelöst werden.

Auf diesen Kanzler kommt es an. Große Entscheidungen in Serie werden ihm abverlangt. Man kann nur hoffen, dass er, wie so mancher Vorgänger, über sich hinauswächst.

Vorbei, verweht. Friedrich Merz ist weder besonders beliebt noch besonders geachtet, sonst wäre die Union nicht unter 30 Prozent hängen geblieben. Nebenbei gesagt, ist es erstaunlich, dass auch Markus Söder daraus einen „klaren“ Führungsanspruch ableitet. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

„Ein regelrechter Elektroschock“

Überschrift: „Ein regelrechter Elektroschock“

t-online: Herr Ischinger, Sie können für sich in Anspruch nehmen, dass auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine neue Weltordnung angebrochen ist. Wie überrascht sind Sie?

Ischinger: Die Tatsache, dass Donald Trump eine neue Ordnung ausruft, ist eigentlich wenig überraschend. Verblüffend ist allerdings die Geschwindigkeit und die Methode, die er an den Tag legt. Das tut ganz schön weh.

Im Zentrum der nicht mehr regelbasierten Ordnung stehen Autokraten wie Xi Jinping, Wladimir Putin und Donald Trump. Ist das 19. Jahrhundert im 21. zurück?

Ja, die Welt verändert sich mit atemberaubenderGeschwindigkeit, aber nicht nach rückwärts, sondernnach vorwärts. Dafür sorgen die modernen Technologien, insbesondere die künstliche Intelligenz, die in eine neue, zum Teil noch gar nicht überschaubare Richtung zielen. Unter diesen Bedingungen rivalisieren heute die Großmächte. Aber ich gebe den Glauben noch nicht auf, dass Demokratien mit den Chancen und Risiken der künstlichen Intelligenz besser umgehen können als Diktaturen oder Autokratien.

Was sehen Sie jetzt in Amerika – einen unsicheren Bündnispartner auf Zeit?

Der Kitt des transatlantischen Bündnisses ist  gegenseitiges Vertrauen. Über viele Jahrzehnte war es manchmal getrübt, stand aber nie in Frage. Durch die Ereignisse der jüngsten Zeit ist das Vertrauen leider erheblich gestört. Darüber bin ich zutiefst besorgt. Vertrauen ist ja auch die Währung der Diplomatie, deren Aufgabe es ist, Gegensätze zu überbrücken.

Die Großen regeln untereinander, was ihnen wichtig erscheint, und die Kleinen sind Zaungäste. Schon in der nächsten Woche treffen sich Putins- und Trumps Abgesandte in Riad, um über die Beendigung des Krieges zu reden. 

Für sich genommen, ist das Treffen nicht zu kritisieren. Unter Fachleuten bestand Einigkeit darüber, dass der erste Schritt zur Beendigung des Krieges in der Ukraineeine gewisse Grundverständigung zwischen den USAund Russland sein müsste.

Schon jetzt wissen wir, dass die Ukraine nicht in die Nato aufgenommen wird, nicht die annektierten Gebiete zurück bekommt und der Nato-Artikel 5, der die Mitglieder zur Verteidigung eines angegriffenen Mitgliedslandes verpflichtet, für die USA nicht verpflichtend ist. Waren die Opfer dann umsonst?

So pessimistisch bin ich nicht. Man kann umgekehrt die Frage stellen, wie groß die Chance denn sein wird, dass Wladimir Putin seine maximalen Ziele erreicht, nämlich den Zustand in Europa vor Beginn der Nato-Erweiterung 1997 um Ungarn, Polen und Tschechien wiederherzustellen. Es ist ja gut möglich, dass er hinter einer unerreichbaren Utopie her ist.

Eine Garantie auf Unabhängigkeit und Sicherheit vor Russland wollte auch Joe Biden nicht geben.

Richtig. Die USA waren und sind aber nicht der einzige Bündnispartner, der das Risiko für zu groß hält, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, solange dort nicht tatsächlich wieder Frieden herrscht. Sonst wären die Nato-Mitglieder wegen des berühmten Art. 5  gezwungen, ihre kollektive Verpflichtung auf Beistand zu erfüllen und sich am Krieg unmittelbar zu beteiligen. Ich kann gut verstehen, dass diese Aussicht weder in Washington noch in Berlin noch in etlichen anderen Hauptstädten auf viel Wohlgefallen stößt.

Präsident Trump hat Interesse an Rohstoffen in der Ukraine wie Lithium, Titan, Kobalt und seltenen Erden. Um Zugriff darauf zu bekommen, sollte Stabilität im Land herrschen. Ist das ein Hoffnungsschimmer für das Land?

Das kann man in der Tat so sehen. Den Zugriff auf ukrainische Rohstoffe werden die USA jedenfalls dannnicht bekommen können, wenn Russland die Herrschaft über die ganz Ukraine ausüben könnte.

Ab jetzt kann sich Europa keinerlei Illusionen mehr hingeben. Haben Sie aus Gesprächen auf der Münchner Konferenz den Eindruck gewonnen, dass schon an Konsequenzen gearbeitet wird?

Seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 sprechen wir ihn immer neuen Anläufen von dem notwendigen Weckruf für Europa, die Konsequenzen zu bedenken.Außer viel Papier und frommen Reden ist jedoch nichts geschehen. Vielleicht braucht es in der Tat einen regelrechten Elektroschock, um Europa dazu zu bewegen, endlich selber sicherheitspolitische Verantwortung für den alten Kontinent zu übernehmen.

Können die europäischen Nato-Staaten eine europäische Armee aufbauen?

Ich fand, es bewegend, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj uns Europäer auf der Münchner Sicherheitskonferenz dazu aufgerufen hat, eine europäische Armee aufzubauen. Ich befürchte allerdings, dass die Vision, so schön sie auch ist, noch auf längere Sicht eine Vision bleibt. Was aber machbar sein könnte, wäre eine Stärkung und Konsolidierung der europäischen Verteidigungsindustrie, des europäischen Rüstungsmarkts. Das Ende der Kleinstaaterei wäre erreicht, wenn Rüstungsgut gemeinsam produziert,  gekauft und gewartet würde. Auch die Ausbildung der Soldaten sollte zur Gemeinschaftsaufgabe werden. Auf diese Weise ließen sich übrigens zig Milliarden Euro pro Jahr sparen und damit anders verwenden.

Wie lange kann der Aufbau dauern?

Wenn der politische Wille da wäre, könnten die notwendigen Grundsatzentscheidungen noch in diesem Jahr getroffen werden. Wenn nicht jetzt, wann denn dann? Der französische Präsident Emanuel Macron hat ja schon zu Beratungen über die bedrohliche Lage eingeladen. 

Teilen Sie die Sorge, Putin werde in absehbarer Zeit andere osteuropäische Staaten angreifen, um sich Verlorenes zurückzuholen?

Über Georgien und Moldau kann man sich schon sehrgroße Sorgen machen. Nato-Mitglieder wie zum Beispiel die baltischen Länder sind natürlich auch äußerst alarmiert, aber dort baut das Bündnis Gegenmittel auf, wie die künftige deutsche Brigade in Litauen. 

Am nächsten Sonntag wählen die Deutschen ihr Parlament. Spielt die Außenpolitik auf den letzten Metern noch eine Rolle?

Schön wär’s. Nötig wär’s! Ich finde es verblüffend, dass die sicherheitspolitische Gefahrenlage bisher im Wahlkampf weitgehend ausgeblendet blieb. Offenbar will keine Partei und kein Spitzenkandidat den Wählern die Erkenntnis zumuten, dass unser Trittbrettfahren im Vertrauen auf die Schutzmacht Amerika zu Ende geht und wir enorme Summen investieren müssen, um wieder verteidigungsfähig zu werden. 

Trauen Sie es Friedrich Merz zu, als Kanzler die Bundeswehr kriegsfähig zu rüsten?

Im Prinzip ja, denn der Amtseid setzt ja das Ziel,Schaden vom deutschen Volk abzuwenden! In welchem Maße er die Aufgabe verwirklichen kann, hängt natürlich auch von der Koalition ab, die er bildet.

Herr Ischinger, Sie haben schon als Schüler und später als Diplomat viele Jahre in Amerika verbracht. Was war dieses riesige Land für Sie?

Ein Sehnsuchtsort. Das Land der Zukunft, der Hoffnung,der Freiheit. Damals hatte freilich die tiefe Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft noch nicht eingesetzt, unter der sie heute leidet.

Trump stellt die Dinge in einem furiosen Tempo auf den Kopf. Anne Applebaum, die Trägerin des deutschen Friedenspreises, sagt dazu, der Präsident sei auf „Regime change aus“ – auf einen Systemwechsel von oben. Hat sie recht?

Ja, diese Warnung ist berechtigt. Trump ist stark beeinflusst von der Tech-Philosophie, die Elon Musk verkörpert, wonach demokratische Regeln die technologischen Entfaltungskräfte beschneiden.Dagegen geht Trump vor und dabei bleibt viel auf der Strecke.

In unserem letzten Interview sagten Sie, was Trump im Wahlkampf androht, werde nicht unbedingt genauso kommen. Ein Irrtum aus Wunschdenken?

Trump-Kenner drücken es so aus: Wir neigen dazu, Trump nicht ernst, aber wörtlich zu nehmen. Besser ist es, ihn ganz ernst, aber nicht unbedingt wörtlich zu nehmen.  

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Leidenschaftlich liberal

Gerhart Baum war ein liebenswürdiger Mensch. Ihm zu begegnen war immer eine Freude. Er war hellwach, neugierig, wollte hören, was andere dachten, wie sie die Lage einschätzten, welche Schlussfolgerungen sie zogen. Seine eigene Meinung kannte er ja. Er plusterte sie nicht im Stil der Weisheit auf, gewonnen aus einem Leben, das mit deutscher Nachkriegsgeschichte identisch war. Ich verabschiedete mich oft genug klüger und fröhlicher von ihm. Gerhart Baum war schon vor 30 Jahren eine Seltenheit, ein Politiker, der es der Politik nicht erlaubte, ihn als Mensch unsichtbar zu machen.

Er war old school, das ja. Geprägt von seiner großbürgerlichen Herkunft und der Jugend im Nationalsozialismus. Er war zwölf, als seine Heimatstadt Dresden im Feuersturm unterging. Natürlich schärften die Erfahrungen im Krieg und danach seine politische Haltung. Er machte Abitur in Köln in der neuen Demokratie, studierte Jura im Wirtschaftswunder, befürwortete die Aussöhnung mit den Kriegsgegnern in der Entspannungspolitik. Die AfD erschien aus dieser Lebenserfahrung als Wiederkehr des Bösen in neuem Gewande. Die neuen Verhältnisse, in denen die Rechte gedeihen konnten, trieben ihn zur Verzweiflung.

Gerhart Baum war seinem ganzen Wesen nach ein Liberaler. Rund 70 Jahre lang gehörte er der FDP an und machte etliche ihrer Häutungen mit. Den größeren Teil seines Lebens litt er an seiner Partei, wollte sie verändern und trug zu ihrer Reputation bei. Er verstand das Leben und die Geschichte als steten Prozess. Wer so denkt, für den ist es keine Überraschung, dass es nie nur hoch und nie nur runter geht. Das Auf und Ab lässt sich nicht verhindern, aber abfedern.

Momentan geht es mit der FDP bergab. Wahrscheinlich kommt sie bei der Wahl am 23. Februar nicht wieder in den Bundestag. Aus der Sicht eines Veteranen wie Baum lag die Ursache in der Eindimensionalität. Denn die FDP ist heute gleichbedeutend mit Christian Lindner, und der ist gleichbedeutend mit Wirtschaftsliberalismus. Engführung ist schlecht, so viel lässt sich aus der Geschichte des deutschen Liberalismus lernen.

In den 1950er-Jahren war die FDP ein Sammelbecken alter Nazis. Darauf zielte sie ab, damit ließen sich Stammwähler sichern. Sie regierte als kleine Partei mit der großen CDU/CSU, die Kanzler Konrad Adenauer zuerst als Patron und später als Patriarch führte. In diesem Schlepptau blieb die FDP bis zum Machtwechsel 1969. In die Koalition mit der SPD trat sie als doppelte FDP ein: mit der Altlast und einer neuen Generation der Sozialliberalen, zu der Gerhart Baum gehörte.

Sozialliberal hieß: moderner Rechtsstaat und Datenschutz, Betonung des Sozialen in der Marktwirtschaft, Emanzipation der Frauen (die bis 1977 nur mit Erlaubnis des Ehemannes arbeiten durften). Dazu kam der Umweltschutz – jawohl, kaum zu glauben, aber es war die FDP, die als erste deutsche Partei über Umweltschutz redete und ihn in ihr Programm schrieb. Der Bericht des „Club of Rome“ 1972 stieß im etablierten Parteiensystem allein bei den Liberalen auf Aufmerksamkeit.

In dieser Phase war die FDP die spannendste Partei, in der die entscheidenden gesellschaftlichen Diskussionen stattfanden. Dazu trugen Koryphäen wie Karl-Hermann Flach bei, damals ein intellektueller FDP-Generalsekretär, oder Ralf Dahrendorf, der polyglotte Soziologe. Es ist selten, dass in der Politik die gesellschaftlich relevanten Debatten geführt werden. Damals war es so, und die FDP war der Transmissionsriemen.

Es war auch operativ eine goldene Zeit. Es gab nur drei Parteien und wer regieren durfte, SPD oder CDU/CSU, entschied die FDP. Sie war das „Zünglein an der Waage“, so hieß das damals. Damit war es allerdings vorbei, als die Grünen, gerade gegründet, in den Bundestag einzogen. Das politische Spektrum verbreiterte sich, die FDP verlor ihr Monopol. Wie reagierte sie darauf? Sie beschränkte sich auf Wirtschaftspolitik und wechselte von der Helmut-Schmidt-SPD zur Kohl-Union. Gerhart Baum, der Innenminister in den schwierigen Jahren des linksextremen RAF-Terrorismus gewesen war, geriet wie viele Sozialliberale ins Abseits.

Bald darauf verließ Baum den Bundestag und ließ sich als Rechtsanwalt nieder. Sein zweites Leben begann, in dem er tat, was er immer hatte tun wollen: Er fiel dem Staat, der in seinen Ansprüchen zu weit ging, in den Arm. Erfolgreich legte er etliche Verfassungsbeschwerden ein und sorgte so dafür, dass zum Beispiel die Telefonüberwachung eingeschränkt wurde, wovon auch Journalisten profitierten. Zudem ging er erfolgreich gegen das Luftsicherheitsgesetz vor, das erlaubt hätte, Passagierflugzeuge abzuschießen.

Gerhart Baum war ein gefragter Anwalt. Auch Familien, die Angehörige bei Flugzeugabstürzen oder anderen Unglücken wie Lockerbie (libyscher Anschlag auf ein Flugzeug über der schottischen Stadt) oder Ramstein (Absturz bei einer Flugschau mit etlichen Opfern) verloren hatten, wandten sich an die Kanzlei, der Gerhart Baum angehörte.

Er war in seinem Element. Als Bewahrer des Rechtsstaats hatte er sich von jeher gesehen. Auf beispielhafte Weise gelang ihm der Abschied von der Politik nach rund 40 Jahren. Dass sie ihn dennoch nicht ganz losließ, versteht sich von selbst. Im hohen Alter, als die AfD sich zur Bedrohung der real existierenden Demokratie entwickelte, war er ein gefragter Gesprächspartner in den Talkshows.

Nicht zufällig luden sie ihn ein.. Er hatte etwas zu sagen, er trug seine Auffassungen leidenschaftlich, aber differenziert vor. Ein bürgerlich gesonnener Politiker eben mit langer Lebenserfahrung, für den die AfD alles verkörperte, was die Nachkriegsrepublik hinter sich gelassen hatte.

Wenn er sagte: „Es muss besser regiert werden“, so stand dahinter der Zorn über das Schlafwandlertum der Ampel. Wenn er sagte: „Auch die Gleichgültigen sind eine Gefahr“, so stand dahinter das Wissen, wie die Weimarer Republik endete. 

Jetzt ist sie verstummt, diese kraftvolle Stimme liberaler Vernunft. Wie gut für uns, dass wir sie immer wieder hören durften.

Veröffentlicht auf t-online.de

Merz muss die Linke fürchten

Friedrich Merz wird Bundeskanzler, der zehnte seit 1949. Eine geringe Zahl, ein Zeichen der Stabilität für dieses Land, das sollten wir nicht gering achten. Italien bringt es auf 31 Regierungschefs im selben Zeitraum, Großbritannien auf 15.

Der Gegenwärtige, mit dem sich der Künftige gestern Abend ein ebenso lebhaftes wie zähes TV-Duell lieferte, wird dann Vergangenheit sein. Olaf Scholz gehört mit Ludwig Erhard (1963-66) und Kurt-Georg Kiesinger (1966-69) zu den Kurzkanzlern der Nachkriegsrepublik.

Wie lange wir mit Friedrich Merz leben werden, hängt einerseits von ihm selber ab, andererseits von der Koalition, die er bilden darf. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er säumig geblieben wäre. Der Hau-Ruck-Versuch, schärfere Immigrations-Gesetze mit Hilfe der AfD durch den Bundestag zu jagen, schlug fehl, stürzte ihn aber nicht unter 30 Prozent in den Meinungsumfragen wie befürchtet. Der Zweck des Manövers bestand darin, der AfD übergelaufene CDU-Wähler abspenstig zu machen.

Jetzt möchte Merz die FDP fleddern, die ziemlich sicher unter 5 Prozent bleiben wird. Mit einer gewissen Schnödigkeit empfiehlt er den liberalen Restwählern, ihre Stimmen doch bitte gleich der CDU zu geben, damit sie nicht verloren gehen.

Das Graben an anderen Parteien ist ebenso verständlich wie auch eine Verlegenheitslösung. Denn der Bald-Kanzler erfreut sich als Persönlichkeit keiner hinreichenden Popularität. Er zieht nicht freischwebende Wähler an, die jeder Kandidat dringend benötigt. Er ist nur unwesentlich beliebter als Olaf Scholz. Darin liegt ein großes, womöglich wahlentscheidendes Problem.

Es kommt also darauf an, ob er mit einer oder zwei Parteien eine Koalition bilden kann. Einem neuen Dreier-Bündnis fehlen sowohl Charme als auch Überzeugungskraft. Nach der Ampel will das niemand mehr. Wird Merz dazu gezwungen, ist sein Radius als Kanzler gering und der Binnenkonflikt in der Regierung programmiert. In Österreich ging dieses Experiment so schief, dass die FPÖ jetzt den Kanzler stellen kann.

Merz’ Möglichkeiten hängen also letztlich davon ab, wie viele Parteien im Bundestag vertreten sein werden. Die Höchstzahl wäre 7 (Linke/BSW/FDP/Grüne/SPD/AFD/Union). Die geringste Zahl wäre 4 (Grüne/SPD/AfD/Union). Wonach sieht es derzeit aus?

Die FDP kann man getrost abschreiben. Christian Lindner scheint sich so gut wie sicher verzockt zu haben. Ihm kommt das Verdienst zu, seine Partei einst aus dem Nirwana zurück ans Licht geführt zu haben. Nun kehrt sie zurück ins Dunkle. Sie wird sich zur Rehabilitation neu erfinden müssen.

Das BSW hat seinen Höhenflug vielleicht schon hinter sich. Es wäre kein Wunder, denn Sahra Wagenknecht ist weniger eine Parteiführerin als eine Egomaschine. Sie versteht es blendend, ihre schlichten Botschaften – USA böse, Russland gut, Immigranten nicht gut – in Talkshows als Endlosschleife zu verbreiten. 

Gesetzt dem Fall, es bliebe bei 4 Parteien im Parlament, entsteht ein trickreiches Rechenexempel, unter welchen Umständen Union und SPD überhaupt eine Koalition bilden könnten. Denn dann müsste der Abstand zwischen CDU/CSU und AfD größer sein als der Abstand zwischen SPD und AfD. Nach der neuen Umfrage liegt Merz 9 Prozentpunkte vor Weidel, die SPD aber nur 7 Prozentpunkte hinter der AfD. Nur unter diesen Umständen könnten Union und SPD gemeinsam regieren.

Auf ein Ergebnis dieser Art muss Friedrich Merz hoffen. Einzig die Nach-Scholz-SPD bietet sich ja zum Bündnis an. Die Grünen fallen aus Gründen, die nur Markus Söder versteht, als Option aus.

Aber da gibt es eine Partei, die das ganze schöne Vierer-Gebilde zum Einsturz bringen kann. Mit ihr hat eigentlich niemand mehr gerechnet. Sie war abgeschrieben, gerupft durch die Renegatin Sahra Wagenknecht, als Resterampe zurückgeblieben.

Es handelt sich um die Linke, die gerade eine seltsame Wiederauferstehung feiert. Ihr laufen scharenweise neue Mitglieder zu. Sie hat in Sabine Reichinnek plötzlich eine Spitzenkandidatin, die Reden hält, die im Gedächtnis bleiben und auf TikTok viral gehen. Und da ist ja auch noch das Trio aus Silberlocken, das auf Rettungsmission ausschwärmt.

Gregor Gysi (77), Bodo Ramelow (68) und Dietmar Bartsch (66) bemühen sich um drei Direktmandate, die ihre Partei auf jeden Fall in den Bundestag hieven würden. Ihre Auftritte sind amüsant, selbstironisch und egogetrieben, was denn sonst. 

20 Tage noch bis zur Wahl. Viel kann da passieren. Ein neuer Anschlag, ein schwerer Fehler,  ein Lachen am falschen Ort, weitere Krisenbotschaften aus Wirtschaft und Industrie. Aber auch ohne neuerlichen Erregungs- und Empörungszyklus sieht es nicht danach aus, als bekäme Deutschland die starke Regierung, die es  dringend braucht.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wozu das Ganze?

Dieser Wahlkampf wird in die Geschichte eingehen, weil er eine verquere Dramatik entwickelt. Friedrich Merz hat sicherlich nicht abgesehen, dass er mit seinem Coup so viele Menschen gegen sich auf die Straße bringen würde. Und die Demonstranten müssten sich eigentlich fragen, wo sie in den letzten Monaten gewesen sind und warum sie nun gegen die CDU anrennen, anstatt gegen die AfD.

Wäre das Gesetz zur Verschärfung der Migration ein kühler Akt mit dem Hintergedanken gewesen, dass es unter den derzeitigen Umständen eher durchgehen würde als mit einem Koalitionspartner (zum Beispiel der SPD) nach der Wahl, dann stünde Friedrich Merz besser da. So aber versteht man im Grunde nicht recht, wozu das Manöver gut gewesen sein sollte.

Ja, schon wahr, da ist diese 30-Prozent-Mauer, welche die Union niederreißen muss, will sie nicht zu einem Dreier-Bündnis wie die Ampel gezwungen sein. Natürlich hat sich die CDU auch Merz erwählt, um die AfD kleiner zu machen. Und offensichtlich sind die Morde der letzten Wochen dazu geeignet zu sagen: Genug ist genug, jetzt muss was passieren. Kontrollverlust führt nun mal zu Zweifeln an der Demokratie.

Aber so richtig durchdacht wirkte der Umschwung eben nicht. Vielleicht ist Merz ja der Typus Sponti, der dem verständlichen Impuls folgt, dass etwas passieren muss, egal was, die Hauptsache, es passiert was. Jetzt lässt sich darüber spekulieren, was eigentlich schlimmer ist: Das erfolgreiche Zusammenwirken mit der AfD am einen Tag und das Scheitern mit der AfD am anderen oder dieses All-In-Gehen mit dem absehbaren Risiko, an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Beim heutigen Parteitag lässt sich absehen, ob wenigstens die CDU ihrem Kanzlerkandidaten den Rücken stärkt. Wie lassen sich Henrik Wüst und Daniel Günther ein? Erfahrung mit Querschlägen hat die CDU vor dreieinhalb Jahren gemacht. Sie führten zum Machtverlust. Und diesmal?

Viel hängt von den nächsten Meinungsumfragen ab, welche die Wirkung des Zusammenwirkens mit AfD/FDP/BSW abbildet. Gewinnt die Union hinzu, ist Merz der mutige Wer-wagt-gewinnt- Held. Rutscht die Union in die Zwanzig-Prozent-Region ab, ist er der Dumme, der willentlich ein unnötiges Wagnis einging. Führt aber das Experiment mit der AfD zu einem Nullsummenspiel und die Union bleibt bei 30 Prozent hängen, war das Mühen vergeblich. 

Zur verqueren Dramatik dieses Wahlkampfs gehört die Reaktion der Konkurrenz auf Friedrich Merz’ Aktion. Die AfD hat kurz triumphiert, was man ihr nicht verdenken kann. Der Pariah im politischen System zu sein ist kein Spaß. Deshalb ist Alice Weidel auch Elon Musk ungemein dankbar, dass er ihr Beachtung schenkt. Dass die CDU ihr dazu unverhofft die Gelegenheit bot, zweimal mit ihr zu stimmen, verschaffte Weidel & Co einen Hauch an Legitimität.

Wenig erquicklich ist auch das Verhalten der SPD. Olaf Scholz liegt auf der Lauer nach einem Thema, das ihn tragen könnte. Er hat drei Jahre lang regiert und damit reichlich Zeit gehabt, dem Land seinen Stempel aufzudrücken. In der Europäischen Union sorgte der Kanzler zuverlässig für die Entschärfung der Migrationsgesetze. Was bleibt? Das Bürgergeld. Wer ist die SPD und was will sie? „Mit Sicherheit mehr Netto“ steht auf den Plakaten. Aha.

Nach dem 23. Februar sind die empörungsbereiten Sozialdemokraten von heute ohnehin Vergangenheit. Wer dann auf Scholz/Esken/Heil etc. nachrückt, steht in den Sternen. Jedenfalls ist keineswegs ausgeschlossen, dass diese Post-Ampel-Generation eine Koalition mit der CDU/CSU eingeht. Was heute undenkbar erscheint, lässt sich morgen wieder denken.

Die FDP hat sich am Freitag in der 2. Lesung in Ja-Sager und Nein-Sager geteilt, so dass Friedrich Merz die Mehrheit auch deswegen versagt blieb. Nur Wirtschaftspartei à la Lindner zu sein, garantiert aber nicht die Existenz. „Alles lässt sich ändern“ steht auf FDP- Plakaten. Spätestens nach der Wahl wird  sich die Partei neu orientieren, aber wohin? Eher illiberal wie die österreichische FPÖ, die den Kanzler stellen kann?

Mein abschreckendes Beispiel für das Ausfransen des Parteiensystems ist das BSW, das dem Zustrombegrenzungsgesetz (was für ein Wort!) ebenfalls zustimmte. Ansonsten bietet diese Partei Antiamerikanismus plus Anbiedern an Russland und Aufruf zur Abrüstung in Deutschland – schlichter und schamloser geht’s nicht, auch wenn es Sara Wagenknecht rhetorisch geschickt intoniert.

Die Grünen haben seltsamerweise die geringsten Sorgen. Sie wissen, dass ihnen nur die Opposition bleibt. Robert Habeck leidet unter dem Mangel an Popularität, hielt aber gerade die klügste Rede über Friedrich Merz und die Folgen für die Demokratie. Darauf lässt sich aufbauen.

Drei Wochen noch bis zur Wahl. Drei Wochen, in denen die Demokratie, geht es so weiter, keinen guten Eindruck hinterlassen wird. Aber Demokratien wandern nach rechts, wenn Koalitionen sich in Krisenzeiten im Kreise drehen und die konsequente Behandlung offensichtlicher Probleme vernachlässigen.

Es wäre eine schwere Hypothek für den Kanzler Merz, wenn er geschwächt ins Amt einziehen würde. Und es wäre ein Menetekel für das Land, das dringend eine starke Regierung für das Lösen seiner Probleme braucht.

„Netanyahus Spiel geht nicht auf“

t-online: Herr Stein, der amerikanische Präsident hat den Vorschlag unterbreitet, dass die Palästinenser aus dem Gaza auf Ägypten und Jordanien verteilt werden sollen. Was halten Sie davon?

Stein: Donald Trump ist grundsätzlich unberechenbar und erratisch. Er überlegt nicht lange, wenn er etwas sagt. Auch in diesem Fall ist sein Vorschlag für eine Neuordnung im Gaza nicht durchdacht. Ich halte seine Idee, die Palästinenser in Nachbarländer umzusiedeln,  für unrealisierbar, auch wenn er auf Begeisterung bei den radikalen Rechten in Israel stößt. Bedauerlicherweise sitzen sie sogar in der Regierung  und Ministerpräsident Netanyahu ist von ihrer Unterstützung abhängig.

Wie reagieren Ägypten und Jordanien auf die Idee, die Palästinenser aufzunehmen?

Die Reaktion in der gesamten arabischen Welt ist Ablehnung. Die Frage ist natürlich, mit wie viel Energie Trump seinen Plan vorantreiben wird – ob er überhaupt dran bleibt. Will er aber wirklich das Palästinenser-Problem auf Kosten von Jordanien und Ägypten lösen, dann wird es schwierig für diese beiden Länder. Denn die ägyptische und die jordanische Straße werden die Verwirklichung des Vorschlags nicht tolerieren. Insofern handelt es sich um eine Schnapsidee. Ich muss Ihnen aber sagen, dass ich Trump als Game Changer für den gesamten Nahen Osten betrachte. Welche Folgen seine Einstellung haben wird, bleibt abzuwarten.

Sie meinen, er kann die Verhältnisse in der Region ändern?

Er ist der Mann, der gesagt hat, ich will Kriege beenden, nicht anfangen. Er hat während seiner ersten Amtszeit einen Nahost-Plan verfasst, der sogar die Gründung eines palästinensischen Staates vorsah, mit dem Ziel, ein Gegengewicht zum Iran aufzubauen. Mal sehen, wie entschlossen Trump den Plan wieder aufnimmt. Sein Sonderbotschafter Steve Witkoff ist jetzt wieder auf Pendeldiplomatie unterwegs. Er war es, der am 20. Januar Netanyahu den Wunsch Trumps nach Waffenpause und Geiselaustausch überbrachte. Und Netanyahu unterzeichnete das Abkommen, das er bis dahin entschieden abgelehnt hatte.

Hatte er eine Alternative?

Er spekuliert darauf, dass er in der Lage sein wird, an seine unrealistische Ziele anzuknüpfen, wenn der erste Teil des Abkommens hinter uns liegt und die 33 Geiseln zurück in Israel sind – 25 von ihnen sind noch am Leben, 8 sind tot. Dann hofft er darauf, dass er den Krieg fortsetzen kann, da seine Mission noch nicht erfüllt ist. Denn die Hamas gibt es noch, Hamas ist nach wie vor in Gaza präsent. Dafür trägt Netanyahu die Verantwortung, weil er nicht für eine Alternative gesorgt hat. Denn eines muss nach dem 7. Oktober klar sein: Hamas darf nicht Teil der Zukunft Gazas sein. So unmissverständlich hatte sich Joe Biden geäußert. Ich hoffe, dass auch die deutsche Regierung diese Haltung teilt.

Wenn Sie Recht damit haben, dass Trump den Krieg beenden will, könnte Netanyahu in Schwierigkeiten kommen, wenn er den Krieg wieder aufnimmt.

Er glaubt, dass er damit durchkommt, selbst wenn Trump auf Beendigung insistiert. Am Ende wird aber Netanyahus Spiel nicht aufgehen. Israel kann es sich nicht leisten, vier Jahre in Dauerkonflikt mit Trump zu leben, der ja nicht verzeihen kann, wenn man sich seinem Willen nicht beugt. Israel ist politisch und militärisch von Amerika abhängig. Und man darf nicht vergessen, dass der Präsident eben eine Vorstellung davon hat, wie der Nahe Osten aussehen sollte. 

In der ersten Amtszeit vermittelte Trump das Abraham-Abkommen mit den Emiraten am Golf und Bahrain, die Israels Existenz anerkannten. Darauf will er nach Ihrer Ansicht aufbauen? 

Das war der erste Schritt. Der zweite sollte damals schon mit der Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien folgen. Das Massaker am 7. Oktober und der Gaza-Krieg kamen jedoch dazwischen. Seitdem geht es mit der Neuaufstellung in der Region nicht weiter. Deshalb ist es aus Trumps Sicht wichtig, den Krieg zu beenden.

Aber wegen des Krieges ist es nicht leicht, an die Verhandlungen von damals anzuknüpfen.

Ja, denn die Saudis vor dem Gaza-Krieg und nach dem Gaza-Krieg sind nicht dieselben. Damals mussten sie nicht Rücksicht auf die Palästinenser nehmen. Jetzt müssen sie es aber oder zumindest den Anschein erwecken, deren Interessen nicht zu ignorieren. Wenn es zu diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien kommen soll, muss der Anfang in Gaza liegen.

Und zwar wie?

Netanyahu muss gegen seine Überzeugung zulassen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde auch im Gaza eine wichtige Rolle übernimmt. Gaza ist der erste Stein für die Anerkennung Israels durch Saudi-Arabien. Und dann bekommt Israel eine neue Aufstellung mit den Emiraten, mit Oman, mit Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien als Gegengewicht zu Iran.

Eigentlich eine erfreuliche Entwicklung, könnte man meinen. Sind Sie Optimist oder Pessimist?

Noch ist der Weg lang und steinig. Es ist durchaus möglich, dass Israel wieder in den Gaza einrückt und ihn besetzt. Das wäre dann das Modell Westjordanland, wo es eine Behörde gibt, die regiert, während Israel die militärische Hoheit ausübt.

Der große Verlierer der Veränderungen ist Iran. Halten Sie es für möglich, dass der Kriegsbeender Donald Trump Israel freie Hand für einen Angriff auf die Atomanlagen gibt?

Was Iran betrifft, sind seine Vorstellungen nicht sehr klar. Unter Umständen wäre er bereit, mit Iran in Verhandlungen einzutreten, um diesen Konflikt zu beenden. Ob es schon so weit ist, weiß ich nicht, aber es bleibt eine Möglichkeit. In der Tat ist Iran die letzte Station, auf der Amerika auf die eine oder andere Art und Weise in diesem Jahr etwas erreichen möchte – sei es durch Diplomatie oder durch eine militärische Aktion. Was die militärische Option betrifft, ist es mir bewusst, dass es für Israel schwer wird, die Nuklearanlagen ohne amerikanische Beteiligung zu zerstören.

Lassen Sie uns auf Deutschland kommen. Im Bundestag fügte es sich, dass auf eine Gedenkstunde an die Befreiung von Auschwitz eine Antrag der CDU/CSU folgte, dem die AfD zu einer Mehrheit verhalf. Wie wirkt diese Duplizität der Ereignisse auf Sie?

Die Gedenkstunde ist zu einem Ritual geworden, bei dem sich das Vokabular Jahr für Jahr wiederholt. Ich lehne Rituale keineswegs ab, sie spielen eine wichtige Rolle, nur muss man sie mit verpflichtendem Inhalt füllen. Zugleich tritt aber in der deutschen Erinnerungskultur eine Zeitenwende ein, da die Zeitzeugen, die aus persönlicher Anschauung berichten können, wie sie in Auschwitz gequält wurden und was dort geschah, allmählich von uns gehen. Nun haben sie uns zwar genügend historisches Material überlassen, aus dem wir schöpfen können, aber die persönliche Wirkung ist nun mal anders. Ich habe gerade eine Studie der Claims Conference gelesen, die mich über das deutsche Bildungssystem nachdenken lässt. Eine große Anzahl der deutschen 18 bis 29jährigen, steht dort zu lesen, hat noch nie von Auschwitz gehört.

Halten Sie das Zusammenwirken von Union und AfD für eine „katastrophale Zäsur“ wie Michel Friedmann?

Es war ja immer schon so, dass am Rande der politischen Landschaft solche extreme Parteien standen. Auch insofern gab es nach dem Zweiten Weltkrieg keine Stunde Null. Was im Laufe der Zeit bedauerlicherweise passierte, ist diese Erosion, die langsam auch die Mitte der Gesellschaft erreicht. Nicht nur Spinner machen sich heute für die AfD stark, sondern auch Menschen, die man dem Bürgertum zurechnet. Übrigens gehören auch Juden der AfD an, was ich überhaupt nicht verstehe. 

Also lehnen Sie das Vorgehen von Friedrich Merz ab?

Solche Tabu-Brüche passieren ja nicht über Nacht. Sie fangen auf der Landesebene in Ostdeutschland an, wo die AfD Bürgermeister und Landräte stellt. Ja, die AfD hat der Union im Bundestag zur Mehrheit bei diesem Antrag verholfen und, ja, für sein Gesetz bekam Merz dann nicht die Mehrheit zustande. Aber da stelle ich mir die Frage, wo die anderen demokratischen Parteien geblieben sind. In der Not hätten sie ja, nach Verhandlungen meinetwegen, zustimmen können.

Herr Stein, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-onlin.de, gestern.

Ein anständiger Mann mit Eigensinn

Horst Köhler wohnte bei uns um die Ecke, ging mit seiner Frau spazieren, unterhielt sich mit dem Besitzer des indischen Restaurants über Philosophie und besuchte privat organisierte Konzerte. Er trat nicht auf, er kam vorbei. Er verzichtete auf Leibwächter, ein bescheidener Mann mit großer Neugierde, was andere Menschen machten und dachten.

Dass er im Februar 2004 Bundespräsident werden sollte, hat ihn selber am meisten überrascht. Am Morgen seines Abflugs nach Berlin habe ich ihn in seinem riesigen Büro im Internationalen Währungsfonds abgeholt, in dem er ein bisschen verloren wirkte. Die Aktentasche am Arm verabschiedete er sich von der Garde an Sekretärinnen und sagte: „Good people.“ Das klang komisch, aber er meinte es so. Sie waren nicht nur professionell untadelig, sondern auch menschlich loyal. Beides war ihm wichtig.

Als Präsident fiel er aus dem Rahmen. Präsidenten leben von ihren Reden, die andere für sie schreiben, und wenn es gut geht, bleiben Sätze im kollektiven Gedächtnis haften. Richard von Weizsäcker bleibt der Inbegriff des Staats-Rhetorikers. Seine Bemerkungen über die Dualität von Katastrophe und Befreiung am 8. Mai 1945, als Hitler-Deutschland bedingungslos kapitulierte, gehört ins Poesiealbum der liberalen Demokratie.

Horst Köhler erinnerte die Politik daran, auf die Menschen zu hören und zu achten. Was ihnen wichtig sei und was sie bedrücke, müssten Regierungen berücksichtigen und bedenken. Damals ärgerte sich Angela Merkel, die ihn zum Präsidenten gemacht hatte, über solche Mahnungen, wie man sich denken kann. Heute versucht Friedrich Merz verzweifelt, das Versäumte nachzuholen.

Im Gedächtnis bleibt auch ein Besuch im Gefängnis bei einem der prominenten RAF-Terroristen. Christian Klar hatte im Jahr 2007 Begnadigung beantragt, wofür der Bundespräsident zuständig war. Köhler sprach mit Opfern der RAF, mit Juristen, studierte die Akten über die Morde, an denen Klar beteiligt war. Unter wüster Kritik der CSU besuchte er Klar im Gefängnis, der weder Reue noch Einsicht zeigte und deshalb auch nicht begnadigt wurde.

Horst Köhler konnte sperrig sein, ließ sich nicht reinreden und hatte seinen eigenen Kompass. Fragte man ihn nach den Gründen für den Eigensinn, der manchmal an Starrheit grenzte, erzählte er seine komplizierte Familiengeschichte.

Er war der Sohn einer Bauernfamilie aus Bessarabien, angesiedelt ursprünglich im heutigen Moldau. Gegen Kriegsende flohen die Eltern mit den Kindern zuerst in die Nähe von Leipzig und dann 1953 in den Westen. Ein verständiger Angestellter des Lagers, in dem die Köhlers bis 1957 lebten, sorgte dafür, dass der Junge aufs Gymnasium kam, ein Schritt, der den Köhlers eigentlich fremd war. Das sei ein schwerer Anfang mit einem erstaunlichen Ende gewesen, sagte Köhler im Rückblick.

Horst Köhler war kein Politiker. Er hatte keinen Sinn für Auftritte, wirkte dabei eher gehemmt. Aber er war ein stolzer Mann mit enormer Sachkenntnis, der sich nichts vormachen ließ.

In seiner besten Zeit war er Staatssekretär im Wirtschaftsministerium zur Zeit der Wiedervereinigung. Auf seine Anregung ging der Bau von Zehntausenden Wohnungen für die heimkehrende Rote Armee in Russland zurück. Dabei spielte sich eine kleine Episode ab, die Köhler privat erzählte: Als er das Vorhaben in Moskau auf einer Konferenz skizzierte, fragte ihn ein General: „Meinen Sie das ernst?“ – „Ja, ernst“, antwortete Köhler. Der General schaute ihn lange an und sagte: „Ich glaube Ihnen.“

Für Horst Köhler waren einfache Tugenden ausschlaggebend: Zuverlässigkeit, Anstand, Fairness, Rücksichtnahme, Demut, auch eine gewisse Arglosigkeit, die ihn gelegentlich schutzlos machte. So ein Charakter schlägt keine hohen Wellen, sucht nicht den Mittelpunkt, meidet rote Teppiche.

Horst Köhler war konservativ mit liberalen Zügen. Ein Ökonom, kein Philosoph. Er setzte sich als Präsident für die Schwachen ein, zum Beispiel für Afrika, das auch deshalb in Krisen versank, weil Großmächte wie Frankreich, USA, Russland oder China ihre Eigeninteressen rücksichtslos durchdrückten.

Ein Jahr nach seiner Wiederwahl trat er zurück. Auf dem Rückflug aus Afghanistan gab er dem Deutschlandfunk ein Interview, das Anstoss erregte, was man heute kaum noch versteht. Köhler machte zunächst Bemerkungen über die mangelnde Unterstützung für die Bundeswehr in der Heimat, „obwohl die Soldaten dort so eine gute Arbeit machen“. Offenkundig beeindruckt vom Erlebten fuhr er fort, „dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“. Als Beispiele nannte er freie Handelswege und regionale Instabilität.

Die Aufregung war groß. Der Bundespräsident hatte gesagt, was er dachte – was andere auch denken mochten, ohne es auszusprechen. Die Kanzlerin, unangenehm berührt von seinen Mahnungen, machte keinen Finger krumm. Vor allem Jürgen Trittin von den Grünen wählte pomadige Vergleiche („Kanonenboot-Politik“). Gregor Gysi, Fraktionschef der Linken machte zynische Bemerkungen, CDU-Vertreter warfen ihm unglückliche Formulierungen vor. 

Horst Köhler fand das Echo in Öffentlichkeit und Politik absurd. Es verstieß gegen sein Gerechtigkeitsgefühl. Er hatte gesagt, was ihm wichtig erschien, ohne Netz und doppelten Boden. Allein gelassen, trat er zurück und verschwand ohne Brimborium im Privatleben in Charlottenburg.

Kurz vor seinem 82. Geburtstag ist Horst Köhler heute gestorben. Wir sollten uns an einen anständigen Menschen mit Eigensinn erinnern. 

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

Wildern bei der AfD

Natürlich gibt es gute Gründe für Friedrich Merz, alles auf eine Karte zu setzen – „all in“ zu gehen, wie er angelsächselt. In den Umfragen steckt die Union bei 30 Prozent fest. Vier Wochen vor der Wahl liegt darin ein bedrohlicher Befund. Denn wie die Dinge liegen, müsste Merz dann mit zwei Parteien koalieren: Union plus SPD plus Grüne. Will  irgendjemand eine Variante der Ampel?

Der zweite Grund für eine Verschärfung der Migration ist der Anschlag in Magdeburg. Wenn in einer Serie von Attentaten auch noch Kinder umgebracht werden, ist es so gut wie unmöglich, zur Tagesordnung überzugehen. Übrigens liegt Aschaffenburg in Bayern, dessen Ministerpräsident immer überlebensgroß auftritt, wenn anderswo, zum Beispiel in Mannheim oder Solingen, Menschen umgebracht werden.

Der dritte Grund heißt Donald Trump. Die Machttechnik, wüste Maximalforderungen zu stellen, welche die Dinge auf den Kopf stellen, ist nicht nur für die AfD ein Vorbild. Man muss nur Jens Spahn in irgendeiner Talkshow zuhören, um zu wissen, wen er nachahmt: Steht das Recht im Wege, wird es beseitigt, basta! Disruption nennt sich der Vorgang – hau weg, was dir nicht passt.

Wenn sich der Union eine Chance bieten soll, mit nur einer Partei zu regieren, muss sie auf 35 Prozent kommen. Diese Marge zu erreichen, wäre auch anders möglich, als eine Brandmauer niederzureißen. Aber Friedrich Merz hat ein persönliches Problem mit der Wählerschaft, nämlich vorzugsweise mit der weiblichen: zu ältlich, zu flapsig, von gestern. Wegen dieses Kanzlerkandidaten bleiben viele Frauen, die eigentlich mit dem Gedanken spielen, die CDU zu wählen, auf Distanz.

Indem Merz die Union jetzt als Asyl-Paragraphen-Veränderungs-Partei definiert, korrigiert er einen Fehler. Nicht die Grünen, wie er lange meinte, sind der Hauptgegner, sondern die AfD. Bei ihr will er wildern. Von der Union enttäuschte Wähler hofft er durch sein Ausgreifen nach rechts zurück zu gewinnen. Dort liegt das Potential, ein paar entscheidende Prozentpunkt hinzu zu gewinnen.

Nach Souveränität sieht der Schwenk allerdings nicht aus, eher nach Verzweiflung. Friedrich Merz geht ein Experiment ein, an dessen Ende er entweder als der Dumme da stehen wird oder als der Gewiefte, den Mut zu hohem Risiko auszeichnet. 

Aber was wäre die Alternative gewesen? Niemand kann ja ernsthaft bestreiten, dass Migration die Deutschen stärker umtreibt als andere Probleme wie Klimaschutz oder steigende Preise oder der Ukraine-Krieg. Im Umgang mit den Geflüchteten bündelt sich nicht nur symbolisch die Unzufriedenheit der Deutschen mit ihrer Regierung und den Institutionen, die sie trägt.

Davon lebt die AfD. An diesem Tropf hängt sie. Ohne 2015 („Wir schaffen das“) keine AfD. Damit mobilisiert und polarisiert sie. Zugleich ist sie aber darauf erpicht, den Pariah-Status zu verlieren. Wäre Alice Weidel weniger darauf bedacht, in Talkshows einen guten Eindruck zu hinterlassen, um ihre Bürgerlichkeit zu beweisen, hätte sie erheblich stärker versucht, Kapital aus Aschaffenburg zu schlagen.

In diese Lücke ist Friedrich Merz gestoßen. Er hat die explosive Kraft, die von dem Mord an einem Kindergarten-Kind ausgeht, nicht besonders schnell, aber rechtzeitig erkannt. Am 23. Februar wird sich zeigen, ob er mit seiner Rechts-Drift richtig handelt oder das Original belohnt wird.

Lange Zeit war die Union groß darin, Brandmauern zu errichten. Zuerst traf es die Linke, als sie noch eine passable Partei von passabler Größe war. Der Auszug Sara Wagenknechts und ihrer Groupies schwächte sie  und schwächt sie noch. Völlig unverständlich bleibt aber, dass das BSW für die Union respektabel sein soll und die Linke nicht.

Die AfD ist aus Sicht Merz’ immer noch des Teufels, aber wenn sie den Migrations-Gesetzen, so sie überhaupt noch zustande kommen sollten, ihre Zustimmung geben sollte, ist ihm das egal. Nicht rechts, nicht links, sondern geradeaus – das ist jetzt die Botschaft. 

Damit bestimmt Merz von jetzt an den Wahlkampf. Selbstverständlich weiß er, dass weder Grüne noch die SPD dabei mitmachen werden, das Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen. Die Union macht sich zunutze, dass Deutschland mitten in Europa liegt und Geflüchtete, die an seinen Grenzen ankommen, zwangsläufig zuerst durch ein anderes Land gezogen sein müssen. Geht es nach der Union, dann genügt es ab jetzt nicht mehr, Asyl zu sagen, um ins Land kommen zu dürfen.

Damit reiht sich Deutschland in die Phalanx von Staaten wie Österreich oder Ungarn ein, die Geflüchtete unter allen Umständen fern halten wollen.

Einen Grundfehler hat der Politik-Wechsel, den Merz auslöst. Es liegt nun an der AfD, ob sie die Mehrheit beschafft, die Grüne und SPD nicht bieten. Also kann sie kühl kalkulieren, was ihr wohl mehr nutzt, das Mitmachen oder das Nichtmitmachen. Alice Weidel könnte die Union im Bundestag auflaufen lassen – mit uns nicht, wenn ihr uns diffamiert. Oder sie stimmt zu – ihr macht ja nur, was wir schon ewig fordern. Oder die AfD stellt ein paar Forderungen, welche die Union nicht erfüllen kann.

Friedrich Merz wird Kanzler, kein Zweifel. Er hat ein Hochrisikospiel gestartet, von dem abhängt, ob er am 23. Februar gestärkt oder geschwächt da stehen wird.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.