Jetzt wird das Undenkbare gedacht

 Alle anderen Parteien haben beschlossen, dass sie die AfD rechts liegen lassen. Allerdings fällt der Preis verflixt hoch aus. Um die Rechte auszugrenzen, muss das ebenfalls übel beleumdete BSW einbezogen werden. 

Man kann die AfD ignorieren. Man kann so tun, als gäbe es sie nicht. Man sollte aber nicht vergessen, wie stark sie inzwischen in ostdeutschen Landen verwurzelt ist. Ein paar Lehren aus Thüringen und Sachsen sollten gezogen werden.

Lehre Nummer 1: Eine hohe Wahlbeteiligung – jeweils 73,5 Prozent – schadet der AfD nicht, im Gegenteil. Inzwischen hat sie ein verlässliches Wählermilieu, das ihr auch erhalten bleiben dürfte, wenn ihr die Sonne mal weniger lacht. Der frische Zulauf kam von den Nichtwählern: Bei den 18- bis 30jährigen liegt sie vorne, also wählen sie nicht nur die Alten und Abgehängten.

Lehre Nummer 2: Je weiter von den Städten entfernt, desto stärker ist die AfD. Ihre Wähler sind die weniger Gebildeten. Was für die FDP der Apotheker war, ist für die AfD der Handwerker – das professionelle Leitbild. Die Protestpartei hat sie hinter sich gelassen und ist zu einer Milieupartei geworden. 

Lehre Nummer 3: Die AfD ist nicht mehr nur die Ausgründung rechts von der CDU. Ihre erst einmal auf Dauer gestellte Existenz als nationalkonservative Partei macht sie zum Impulsgeber für die anderen Parteien.

Diese anderen Parteien haben den Schuss nun endlich gehört und machen sich überstürzt daran, das Versäumte nachzuholen – eine neue Gesetzgebung für Asyl und Einwanderung. Wie man die Ampel kennt, wird die Prozedur nicht ohne Selbstzerrüttung verlaufen. Wie man CDU und CSU kennt, dient der Prozess auch dazu, über den nächsten Kanzlerkandidaten zu befinden.

Wir nicht-regierenden Nicht-Parteien-Menschen haben den entschiedenen  Vorteil, dass wir die Sache ohne Nebenabsichten bedenken können. Sie ist ja komplex genug, so dass eigentlich nur der aufgeregte Markus Söder meint, eine eindimensionale Änderung des Asylgesetzes diene zur Wiedererlangung staatlicher Kontrolle über die Immigration. Ähnlich illusionäre Vorstellungen hegt die Innenministerin, die Messer nur noch bis zu einer bestimmten Größe im öffentlichen Raum erlauben möchte. Auch mit kurzen Klingen lassen sich Gurgeln durchtrennen.

Viel muss zusammen kommen, damit weniger Geflüchtete hierher kommen. Es beginnt mit dem Eingeständnis:: Wir schaffen das nicht, weil die Stabilität der Demokratie ernsthaft bedroht ist, wenn der Rechtsruck aus Ostdeutschland auf die Bundestagswahl durchschlägt. Deshalb ist es besser, wenn sich nicht wieder 351 915 Geflüchtete nach Deutschland durchschlagen wie im vorigen Jahr. 

Diese Wir-wollen-euch-nicht-Haltung macht das dänische Modell aus, das plötzlich bei uns hoch im Kurs steht, jedenfalls in CDU und CSU. Eine nicht unbedeutende Folge besteht allerdings in der Preisgabe des liberalen Grundgedankens, auf den die Nachkriegsrepublik mit recht stolz war.

Es wäre schon angebracht, das Regierung und Opposition ein paar Prinzipien klären, bevor sie einen Paradigmenwechsel vornehmen. Der bloße Hinweis, dass jetzt sein muss, was vorher nicht sein durfte, genügt nicht. Wenn Merz/Söder/Scholz ernsthaft begründen, warum sich die Verhältnisse geändert haben und neue Regeln und Gesetze bedingen, unterscheiden sie sich eben auch von der Rabulistik der AfD und von deren schwarzen Phantasien von der Remigration der Ausländer..

In den nächsten Tagen und Wochen werden wir mit Vorschlägen bombardiert werden, woran die Asylpolitik krankt. Sinnvolles wird neben weniger Sinnvollen stehen. Grenzen zu kontrollieren, erfordert erheblich mehr Bundespolizisten. Die Abschaffung des Asyl-Paragraphen, wie Markus Söder fordert, geht nicht ohne Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag. Attentate und Amokläufe lassen sich ohne größere Befugnisse für Polizei und Geheimdienst nicht präventiv verhindern. Abkommen mit Drittstaaten wie Libyen oder Tunesien oder der Türkei sind schmutzige Deals, egal ob man sie so nennt oder verlegen darum herum redet.

Die Wirkung, dass jetzt Undenkbares gedacht wird, erzielt die AfD durch ihre bloße Existenz. Sie ist unübersehbar da, auch wenn sie von den anderen Parteien ignoriert wird. Sie treibt in Wahrheit die Ampel samt CDU/CSU vor sich her. Und fÜr die Verspätung tragen sie gemeinsam Verantwortung, denn 2015, als Angela Merkel ihren Wir-schaffen-das-Satz aussprach, regierten CDU/CSU und SPD. Und für die Ampel galten bisher andere Prioritäten, teils freiwillig, teils unfreiwillig: Pandemie, Ukraine, Energieversorgung, Klimapolitik. Spät besinnt sie sich darauf, dass Kontrollverlust zu Vertrauensverlust führt.

Als beabsichtigte Nebenwirkung stellt sich das Duell zwischen Markus Söder und Friedrich Merz ein. Geht das weiter so, kann sich 2025 durchaus wiederholen, was sich im Jahr 2021 schon mal ereignete: Die Union bleibt unter ihren Möglichkeiten, weil der Kandidat, der sich demokratisch durchsetzt, vom beleidigten Rivalen nur halbherzig unterstützt wird.

Aber bis es soweit kommt, wird erst einmal Thüringen im Zentrum des Interesses stehen. Dort konstituiert sich spätestens am 1. Oktober der Landtag. Der Altersvorsitz fällt einem AfD-Mitgied zu, auch ein Symbol. Danach wird der Landtagspräsident gewählt, der traditionell der stärksten Fraktion zusteht, also der AfD. Gilt die ungeschriebene Regel noch? Wählen die anderen Fraktionen den Höcker-Kandidaten seines Vertrauens oder lassen sie ihn durchfallen? Und bekommt später Mario Vogt, CDU, wenigstens im dritten Wahlgang eine Mehrheit – und will er als Ministerpräsident eine Minderheitsregierung führen, wie Bodo Ramelow vor ihm?  

Unruhige Tage stehen Thüringen bevor. Viel Neuland will dort betreten sein. Friedrich Merz muss viel Geschick im Umgang mit seltsamen Koalitionen und Brandmauern beweisen, damit ihm seine Partei nicht aus dem Ruder läuft. Denn in Bayern lauert Markus Söder nur auf Fehler, die er ausbeuten kann.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der AfD näher als der CDU

Zwei Länder haben gewählt und die Bühne wackelt dermaßen, dass man den Drehschwindel bekommen könnte. Wie bitte geht’s hier weiter?

Die Rasanz, mit der plötzlich der BSW in den Kreis der Ehrbaren aufgenommen wird, ist verblüffend. Die Ernüchterung dürfte auf dem Fuß folgen. Sahra Wagenknecht besitzt die destruktive Kraft einer großen Egoistin mit hochfliegenden Ideen. Nimmt man ernst, was sie gestern Abend sagte, stehen demnächst im Koalitionsvertrag mit der CDU Sätze, wonach Deutschland weder Waffen an die Ukraine liefern soll noch amerikanische Mittelstreckenraketen aufstellen darf und ansonsten die Grenzen gegen Einwanderer schließen muss. Wo bleibt Gaza, wo der Weltfrieden?

Der BSW liegt näher zur AfD als zur CDU. Er ist die rechte Partei linker Leute, die sich immer noch für links halten. Salon-Bolschewismus plus Fremdenfeindlichkeit. Im übrigen versteht sich    Sahra Wagenknecht recht gut mit Alice Weidel, die öffentlich wesentlich geschmeidiger auftritt als Björn Höcke, der gestern eine persönliche Transformation von der beleidigten Leberwurst zum Verteidiger der parlamentarischen Demokratie durchlebte. Hat ihm nicht geholfen. Im Grunde ist er eine Belastung für die AfD, weil ihn sein Nimbus als Faschist politisch isoliert.

Die deutsche Demokratie verändert sich gerade. Sie büßt ihren Richtungssinn ein. Das politische System tritt in ein neues Stadium ein, das Italien, Österreich, Frankreich und vor allem die USA schon erreicht haben. Gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft hat es das Liberale, das die deutsche Nachkriegsdemokratie auszeichnet, ziemlich schwer.

Dabei handelt es sich weniger um einen historischen Paradigmenwechsel als um die Überschichtung gravierender Probleme, die nach Lösungen verlangen. Ökologie tritt in den Hintergrund, ohne seine Dringlichkeit zu verlieren. Der Ausbau des Sozialstaats, Stichwort Bürgergeld, ist weit gediehen. Wichtiger erscheint es den Deutschen, den Kontrollverlust wettzumachen, der 2015 eintrat und durch den Vertrauensverlust der amtierenden Ampel verschärft wird.

Politisch gesehen, scheint eine Gründerzeit angebrochen zu sein. Wenn seltsame Gebilde wie das BSW aus dem Boden schießen können, sollten sich bald schon Nachahmer finden. Warum nicht aus der FDP eine rechte Partei wie die FPÖ in Österreich oder die SVP in der Schweiz zimmern? Den Versuch gab es vor langer Zeit, als Jürgen Möllemann (erinnert sich noch jemand an den?) umtriebig war.

Auf die CDU kommt es jetzt an. Wenn es einigermaßen gut läuft wie in Sachsen, liegt sie über 30 Prozent. 30 Prozent sind die neue Schallmauer. In Thüringen wird es noch schwieriger, eine Koalition zu bilden, die Stabilität wenigstens als Illusion verspricht. Hier CDU plus SPD plus BSW – dort CDU, BSW plus Linke: Darauf soll Segen liegen?

Auf Friedrich Merz kommt Kniffliges zu. Die CDU hat ja ein Faible für Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Ein Bannfluch traf zum Beispiel die Linke. Was aber tun in Thüringen? Eine Minderheitsregierung, toleriert von AfD, SPD und Linke? Oder der Not gehorchend, Abrücken vom Beschluss? Und gibt es nicht auch genügend CDU-Mitglieder in Thüringen, die – Brandmauer hin oder – mit der AfD zumindest kooperieren wollen, wenn nicht koalieren?

In Thüringen ist die AfD ohnehin eine Macht, besitzt sie doch eine Sperrminorität. Ohne sie wird kein Verfassungsrichter, kein Präsident des Rechnungshofes gewählt werden. Im Parlament fällt ihr als stärkste Fraktion eigentlich der Anspruch zu, den Präsidenten zu stellen. Wie verhält sich dann die CDU? Verwehren können die anderen Parteien ihr außerdem nicht, mehrere Ausschussvorsitzende zu benennen.

Die Geschäftsordnung in demokratischen Institutionen ist ein feiner Machthebel. Als parlamentarische Kraft lässt sich die AfD zumindest in Thüringen nicht mehr ausgrenzen. Sie dringt ins Innere des Systems vor, das sie auf Rechts drehen möchte.

Für Ostdeutschland ist die AfD in Nachfolge der Linken zur Kümmererpartei aufgestiegen. Ihre Mitglieder und Sympathisanten sind im vorpolitischen Raum verwurzelt, gehören der Freiwilligen Feuerwehr, dem Schützen- oder Kulturverein an. Die AfD-Strategen haben die Devise ausgegeben, in die Handwerkskammer einzutreten und die Chance als Laienrichter zu nutzen. Wenn sich eine Partei derart weitgehend einnisten kann, bleibt sie ihrem Bundesland auch erhalten.

Exemplarische Wahlen haben exemplarische Folgen. Ab heute dreht sich in Berlin alles um den richtigen Umgang mit Flüchtenden. Was sich die Ampel im Geschwindeschritt einfallen ließ, wird sowohl von Innen wie Außen zerredet werden. Dafür sorgt schon Markus Söder, der das individuelle Recht auf Asyl abschaffen will.

Wie immer beim bayerischen Ministerpräsidenten verknüpft er die Sache furios mit seinen Ambitionen. Findet er dabei Gefolgschaft in der CDU, kann er Friedrich Merz die Kanzlerschaft noch streitig machen, die ihm eigentlich nicht mehr zu nehmen ist. Momentan ist Söder daran gelegen, die Entscheidung, die noch vor der Brandenburg-Wahl gefällt werden soll, hinaus zu zögern.

Der Bundeskanzler nennt die beiden ostdeutschen Wahlen „bitter“. Wo er recht hat, hat er recht. Wiederhold sich die Bitterkeit in Brandenburg, wo Olaf Scholz als Wahlkämpfer unerwünscht ist, gibt es mehrere Möglichkeiten: Neuwahlen (nicht einfach) oder Kanzlerwechsel oder weiter so bis zum bitteren Ende.

Dann doch lieber Kanzlerwechsel, oder?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Erstaunter Blick auf meine Eltern

Bei einem gemütlichen Gespräch in einem beschaulichen Garten kam das Gespräch auf meine Eltern, die ich plötzlich in einem neuen Licht sah. Unsere Gastgeber, ein Schwulen-Ehepaar, hatten zu erkennen gegeben, dass sie uns dankbar waren. Der eine der beiden war Staatssekretär in einem ostdeutschen Bundesland und sein Mann blieb nach einer missglückten Knie-Operation mit ständigen Schmerzen zu Hause. Uns waren sie mehrmals auf offiziellen Anlässen begegnet und wir unterhielten uns mit beiden, was ihnen auffiel. Denn die meisten Menschen konzentrierten sich auf den Staatssekretär und ließen den tätowierten Partner links liegen.

Zur Begründung meines Verhaltens erzählte ich eine Geschichte aus meiner Kindheit. Meine Eltern hatten im Jahr 1960 ein Haus gebaut. Viel Geld hatten sie nicht, sie waren kaufmännische Angestellte. Ein kleines Erbe von der Mutter meines Vaters erleichterte den Baupreis von rund 60 000 Mark. Um sich die Bedienung des Kredits dauerhaft zu erleichtern, bauten sie eine kleine Wohnung im Souterrain ein, die ebenerdig lag und einen eigenen Eingang über den Garten besaß. Die Wohnung bestand aus einem großen Zimmer, einer kleinen Küche auf dem Flur und einer Dusche.

Der erste Mieter war Herr Gleue. Aus irgendeinem Grund kann ich mich an seinen Namen erinnern. Herr Gleue war Chefdramaturg am Städtebundtheater in Hof, ein hoch gewachsener Mann in der zweiten Hälfte der Dreißiger, vermute ich. Herr Gleue kam an jedem Sonntag hoch zu uns zum Mittagessen. Der Besuch bei fränkischen Klößen und Braten nahm rasch Tradition an. Meine Eltern waren auf selbstverständliche Weise freundlich und nett zu Herrn Gleue. Chefdramaturg machte ja auch was her. Meine Eltern hatten ein Abonnement fürs Theater. Sie waren in Maßen kunstsinnig, ohne Bohei daraus zu machen.

Alle paar Wochen bekam Herr Gleue Besuch aus Darmstadt. Herr Gleue war schwul. Sein Freund arbeitete im Hessischen ebenfalls am Theater. Und wenn er da war, luden meine Eltern eben beide zum sonntäglichen Mahl ein.

1960 gab es noch den Paragraphen 175, wonach Homosexualität ein Straftatbestand war. Rechtlich gesehen, leisteten meine Eltern Beistand zu illegalem Verhalten. Menschlich gesehen waren sie erstaunlich liberal, man kann auch sagen, sie waren aufgeklärt. Wenn wir heute aufgeklärt sind, ist das vergleichsweise wohlfeil. Anders als meine Eltern gehen wir keinerlei Risiko damit ein.

Gestern fuhr ich in der Nacht von Nizza zurück nach Sanary-sur-Mer, wo wir Urlaub machen. Dabei ging mir das Gespräch mit den schwulen Freunden durch den Kopf und ich fragte mich, woraus die Liberalität meiner Eltern eigentlich entsprang. Mein Vater war ein Bauernsohn, meine Mutter stammte aus einer verarmten bürgerlichen Familie. Aufgeklärtheit lag biographisch nicht besonders nahe. Ihre entspannte Haltung anderer Lebensform gegenüber war ihre persönliche Leistung. Darin waren sie sich überaus einig.

Als meine Gedanken schweiften – je länger der Tod meiner Eltern zurück liegt, desto näher rücken sie mir – , da fielen mir die Namen einiger Freunde aus dieser Zeit ein, mit denen sie abends in die „Silberspindel“ tranken und tanzten oder im „Strauß“ aßen. Der eine Freund war ein ehemaliger Rennfahrer und Geschäftsmann. Ursprünglich war er Pole und wie er den Krieg und die Nazis überlebt hatte, weiß ich leider nicht. Damals war ich ein Kind, später hätte ich ihn fragen können, habe es aber leider versäumt. Friedo, so hieß er, sah blendend aus und hätte schöne Freundinnen, was ich sehr wohl bemerkt habe.

Das Ehepaar Spitz kam häufig in der Hügelstraße vorbei. Er war Anwalt, ein österreichischer Jude, der in einem KZ-Außenlager Zwangsarbeit verrichten musste, wenn ich mich richtig erinnere. Seine Frau war schön und eher still. Friedo und die Spitzens waren schon länger miteinander befreundet. Wie schade, dass ich nicht mehr von ihnen weiß.

Interessant erscheint mir heute, dass meine Eltern Freunde mit einer ganz anderen Herkunft und Biographie hatten. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass weder meine Mutter noch mein Vater in Verdacht standen, Nazis gewesen zu sein. Nur deshalb vermochten Menschen wie Friedo und die Spitzens meine Eltern zu akzeptieren.

Heute sieht es für mich so aus, als hätten sie Freunde um sich versammelt, die ein fernes Leben lebten und bunter in der Gegenwart unterwegs waren als meine Eltern, die ein solides Leben führten, das ihnen Sicherheit und Auskommen garantierte, aber eben nicht besonders ereignisreich ausfiel. Privat blieben sie neugierig auf Menschen, mit denen sie jenseits der Freundschaft eigentlich wenig verband.

In diesen Kreis gehörten auch Herr Gleue und sein Freund, die beiden Theatermenschen. Herr Gleue bekam nach zwei, drei Jahren ein Engagement an einem fernen Theater und blieb noch lange in Verbindung mit meinen Eltern.

Friedo blieb eine feste Größe bis ins hohe Alter. Ich glaube, Herr Spitz starb relativ früh, seine Frau zog zurück nach Wien.

Offenbar waren sich meine Eltern gewiss, wo sie im Leben und in der Gesellschaft standen und hingehörten. Was mich im Rückblick besonders freut, ist ihre Aufgeschlossenheit, ihre Bereitschaft anzuerkennen, dass andere Menschen anders lebten, andere Erfahrungen machten und daraus andere Schlüsse zogen.

Vor der Schockstarre

Irgendwann einmal werden wir zurückblicken auf diese seltsame Koalition aus drei Parteien, die gut anfing, ins Stocken geriet und dann gar nicht mehr mit der Selbstzermürbung aufhörte. Zwischendurch nahmen sich die Lindners/Habeckes/Scholzens vor, es müsse besser werden, also werde es auch besser werden. Diese Versuche in Selbstsuggestion liegen aber hinter ihnen. Jetzt ist das Stadium erreicht, in dem sich Resignation und Apathie, gepaart mit Selbstmitleid, in Berlin verbreiten.

In besseren Zeiten haben sich auch Regierungen aus FDP und CDU/CSU oder SPD und FDP Selbstvergessenheit geleistet, doch damals gab es eben keine starke Konkurrenz auf der Rechten. Und meist verhielten sich diese Koalitionspartner einigermaßen diszipliniert, sobald wichtige Landtagswahlen anstanden, die ja jederzeit unabsehbare Rückwirkungen auf die Hauptstadt ausüben können.

Diesmal ist es jedoch so, dass die Ampel-Regierung ihre schleichende Kapitulation frühzeitig eingesteht. Die Grünen verstehen sie nunmehr als Übergangsregierung, lassen den Finanzministers ihre Verachtung spüren, spekulieren über ein Folgebündnis mit der Union und wollen einen Kanzlerkandidaten stellen, auch wenn sie bei schmählichen 12 Prozent herumkrebsen.

Wäre diese Summe der Absurditäten von Selbstironie untermalt, könnte man wenigstens sagen: Habt ihr nichts Ernsteres im Sinn – wolltet ihr nicht mal das Land auf Vordermann bringen? Dummerweise handelt es sich aber um Akte der Selbstverblendung.

Bei den beiden Landtagswahlen am kommenden Sonntag werden sowohl die Grünen als auch die SPD unter ferner liefen ins Ziel kommen, während die FDP noch nicht einmal an der 5-Prozent-Hürde kratzen kann, obwohl sie freies Parken für freie Bürger in Stadt und Land anpreist. Ihre Selbstvergessenheit führt zu kabaretthaften Übersprungshandlungen.

Dass in Ostdeutschland andere Bedingungen, ein anderer Zugang zur Politik und ein anderes Klima vorherrschen, ist schon länger bekannt. Dass aber eine Partei wie die SPD wehrlos aufgibt und die Grünen über ihre Verzwergung nur staunen, ist mir ein Rätsel. In Ländern wie Sachsen oder Thüringen genügt es eben nicht, wenn sich Olaf Scholz oder Robert Habeck an sorgsam ausgewählten Orten ohne Pöbelei und Randale kurz mal umsehen.

„Es brennt im Land, und in seinem Osten steht das Erbe der deutschen Einheit auf dem Spiel,“ schreibt die „Süddeutsche Zeitung“. Selbstvergessenheit ist ein Luxus, den sich niemand erlauben kann.

Viel Zeit ist verloren. Viele Gelegenheiten sind verpasst. Die AfD ist in Ostdeutschland zur Kümmerer-Partei aufgestiegen. Sie hat sich in der Vakanz wohlig ausgebreitet. Sie sammelt die Wut, die Verzweiflung und den Ärger über die da oben in Berlin ein und verspricht, was gut ankommt: Weiteren Abbau der Braunkohle, billige Energie aus Nord Stream 1 und 2, Remigration der messerstechenden Immigranten etc.

Aber nicht nur die Verlustängstlichen finden in der FDP eine Wärmestube. Auch das gehobene Bürgertum, also eigentlich die klassische FDP-Klientel aus Ärzten/Apothekern/Anwälten sympathisiert mit der AfD, obwohl sie, wie Umfragen herausfanden, Björn Höcke nicht als Ministerpräsidenten von Thüringen sehen wollen. Ja, wenn denn dann?

Das BSW ist keine Partei, sondern eine Platform. Sie versammelt um sich, was sich als links versteht, aber rechte Politik bevorzugt. Sahra Wagenknecht ist die idealtypische Anführerin einer kleinen, parasitären Partei mit staunenswertem Echo. Vermutlich gibt es im BSW weniger Parteimitglieder als Wahlgewinner, die in die Landtage einziehen können. Eine Absurdität mehr in diesen seltsamen Tagen.

In Ostdeutschland gibt es vor allem zwei Ministerpräsidenten, die sich gegen die AfD stemmen. Der eine ist Bodo Ramelow, seit zehn Jahren ein solider Regent Thüringens. Sein Erbe verteidigt er unermüdlich gegen Björn Höcke. Gäbe es am Sonntag eine Direktwahl des Ministerpräsidenten, wäre Ramelow der Sieg kaum zu nehmen. Trotz seiner Popularität liegt die Linke aber nur bei 15 Prozent – bei der letzten Wahl waren es doppelt so viele gewesen.

Auf einer Gratwanderung befindet sich der andere Ministerpräsident, Michael Kretschmer in Sachsen. Was das Verhältnis zu Russland und das Öl anbelangt, argumentiert er ähnlich wie die AfD. Denn seine Strategie ist Wandel der CDU durch Annäherung an die Rechte, ohne sich mit ihr gemein zu machen. Friedrich Merz kann nur hoffen, dass am Ende die CDU vor der AfD liegen wird.

Die CDU ist die einzige unter den etablierten Parteien, die in Ostdeutschland wie in Westdeutschland für 30 Prozent gut ist. Sie trägt den Verfassungsbogen in Sachsen und Thüringen allein. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Schwäche wiederum liegt in der Stärke von AfD und dem Scheinriesen BSW.  Die Koalitionsbildung nach den drei Wahlen (Brandenburg wählt am 22. September) kann gut zu einer Zerreißprobe für die CDU werden, gehetzt womöglich von der CSU.

Und wie schlagen die Wahlen in Berlin ein? Alle drei Ampel-Parteien werden aus ihrer Selbstvergessenheit erwachen und in Schockstarre übergehen. Dann werden sie in gewohnter Manier wortreich erklären, weshalb die beiden jeweils anderen größere Schuld auf sich geladen haben als man selbst.

Und daraus könnte sich durchaus eine Dynamik entwickeln, die den vorzugsweise schweigenden Kanzler, seinen beredten Vize und den pompösen Finanzminister hinwegfegt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

23/8

Am 23. August 1794 schreibt Friedrich Schiller den berühmten Geburtstagsbrief an Johann Wolfgang von Goethe. Im eigentlichen Sinne ist es kein Sendschreiben aus Anlass des Geburtstages. Schiller will Goethe für die „Horen“ gewinnen, die Cotta zu finanzieren gedenk, sofern die großen Geister des Landes daran mitwirken. Zudem hofft Schiller darauf, mit dem Bewunderten und Gefürchteten in dauerhafte Verbindung zu treten. Er schreibt: „Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schweresten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen. In der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf. Von der einfachen Organisation steigen Sie , Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen.“ Schiller unterzeichnet diesen Brief als „gehorsamster Diener“.

Goethe dankt und schreibt zurück: „Zu meinem Geburtstage hätte mir kein angenehmer Geschenk werden können als Ihr Brief, in welchem Sie, mit freundschaftlicher Hand, die Summe meiner Existenz ziehen und mich, durch Ihre Teilnahme, zu einem emsigen und lebhafteren Gebrauch meiner Kräfte aufmuntern.“

Dieser Brief am 23. August 1794 legt den Grundstein für eine beispielhafte Freundschaft zweier gegensätzlicher Menschen und Denker, die sich wechselseitig fordern und fördern. Wie schön.

Frankreich gedenkt am 23. August des Massenmordes an französischen Protestanten, der in der Nacht zum 24. August 1572 begann. Viele Führer Hugenotten wurden in dieser Bartholomäusnacht, die auch Pariser Bluthochzeit genannt wird und tatsächlich drei Tage lang anhielt, ermordet. Sie waren zur Hochzeit des Protestanten Heinrich von Navarra mit Margarete von Valois angereist. In dieser Nacht fielen Tausende Protestanten in Paris und in den Folgetagen in ganz Frankreich der Raserei zum Opfer.

Bartholomäus war ein biblischer Apostel, der Anfang des ersten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung in Kana in Galiläa gelebt haben soll. Auf Abbildungen wird er mit Messer und abgezogener Haut gezeigt. Die Katholiken richteten am 24. August seinen Gedenktag ein.

Am 23. August 2024 sticht ein 26 Jahre alter Syrer auf einem Stadtfest in Solingen auf Passanten ein. Drei von ihnen sterben, acht sind verletzt, zum Teil schwer. Der Mann, vor zwei Jahren angekommen, sollte eigentlich vor einem halben Jahr nach Bulgarien abgeschoben werden, wo er zuerst registriert worden war. Er tauchte unter und wieder auf, als die Frist abgelaufen war und erneut verhandelt werden musste, weil die Bürokratie es so will. Wer ihn beim Untertauchen half oder ihn von der Notwendigkeit informierte und wer ihm beim Wiederauftauchen half oder ihn davon informierte, dass nunmehr die Gefahr erst einmal gebannt war, ist noch nicht klar. Das Flüchtlingsheim lag 200 Meter vom Tatort entfernt. Der IS reklamierte die Tat für sich.

Natürlich fällt mir die Bedeutung dieses Tages nur deshalb auf, weil der 23. August 1968 in meinem kleinen Leben eine Rolle spielt.

Ihr bester Wahlhelfer

Die Demokraten küren Kamala Harris, von der sie eigentlich nicht viel hielten, zu ihrer Kandidatin. Die Frage ist, ob wie wirklich hinter ihr stehen – und ob Amerika eine schwarze Frau ins Weiße Haus schicken will.

Heute beginnt der Parteitag in Chicago, auf dem Kamala Harris offiziell zu der Präsidentschaftskandidatin gewählt wird, die sie seit ihrem phänomenalen Einstieg schon ist. Zugleich wird auf dieser Krönungsmesse auch die Betriebstemperatur gemessen. Stehen sie wirklich und dauerhaft hinter ihr, die Linken und die Aktivisten, die Progressiven, die Liberalen und die eher Konservativen – das gesamte bunte, disparate Geflecht, aus der die Partei besteht?

Zugleich endet damit die schönste Zeit für Kamala Harris. Der Schwung, den sie entfaltete, als Joe Biden beiseite trat, die Souveränität, mit der sie auf Donald Trump reagierte, beruhte ja darauf, dass niemand ihr so etwas zugetraut hätte. Weder war sie besonders beliebt noch fiel sie als Vizepräsidentin staunenswert auf. Aber als es soweit war, legte sie los, als hätte sie nur darauf gewartet, endlich zum Zug zu kommen. Deshalb riss sie die verblüfften Demokraten mit.

Doch jetzt ist sie die bekannte Größe. Von nun an muss sie zeigen, dass sie wirklich so gut ist, wie sie zu sein scheint. Dass sie weiterhin die richtigen Worte für den Gegenspieler findet, der alles erträgt, nur nicht den Scheinwerfer, der nicht ihn ins Blickfeld rückt. Die Gelassenheit, mit der sie Donald Trumps Beleidigungen an sich abtropfen lässt („Ach ja, das ist seine übliche Masche“) ist ihre größte Stärke.

Mehr als zwei Monate bleiben bis zum Wahltag am 5. November. Von Demokraten wird ein ausgefeiltes Programm erwartet. Die Ausübung von Macht allein genügt der Linken weder dort noch hier. Die Welt sollen sie besser machen, was denn sonst. Wie also hält es Kamala Harris mit den Steuern – welche sollen rauf, welche runter. Wie gedenkt sie die Wirtschaft zu stimulieren? Was fällt ihr zum ökonomischen Wettbewerb mit China ein? Wird sie die Ukraine weiterhin mit modernster Waffentechnik unterstützen? 

Dabei vollzieht Kamala Harris einen Akt auf dem Drahtseil, denn natürlich ist sie gebunden an Joe Biden, der im übrigen ein guter Präsident ist. In den USA liegt die Inflation bei 3 Prozent, nicht berauschend, aber auch nicht schlecht. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig bei 4,3 Prozent. Der berühmte „Inflation Reduction Act“ zielt seit 2022 darauf ab, moderne Energieversorgung mit Förderung der nationalen Industrie zu verbinden. Die Europäer sind neidisch darauf. In den USA sollen 800 000 neue Jobs entstanden sein.

Mehr noch als die Ukraine spaltet der Gaza-Krieg die Demokraten in Israel-Freunde und mehr noch Palästinenser-Freunde. Aus diesem Grund übt das Weiße Haus enormen Druck auf Benjamin Netanyahu aus, endlich das Abkommen in drei Phasen anzunehmen, dass er lange schon unterbreitet hat. Unfrieden mag in der Region herrschen, aber kein Krieg mehr, wenn Amerika zwischen Kamala Harris und Donald Trump wählt. Das wäre ein wichtiger Vorteil für sie.

Jetzt schon ist abzusehen, worum es am 5. November zuerst und zuletzt gehen wird: Ist Amerika bereit und willens, eine Frau zur Präsidentin zu wählen – eine schwarze Frau? Diese entscheidende Frage wird derzeit nur in Andeutungen erhoben. Sie überlagert die routinierten demoskopischen Untersuchungen, wer wo in den umkämpften Bundesstaaten des Südens (Georgia, North Carolina) oder des Rostgürtels (Pennsylvania, Michigan, Ohio) vorne liegt.

Ja, Kamala Harris hat gewaltig aufgeholt und führt leicht in den Umfragen. Aber das sind Momentaufnahmen und angesichts der möglichen Fehlerquote dienen sie nur zu schönen Schlagzeilen ohne jede Verbindlichkeit.

Vor Kamala Harris versuchte es Hillary Clinton, als erste Frau ins Weiße Haus zu gelangen. Ihre Chancen standen gut, sie bekam auch die Mehrheit der Stimmen, aber eben nicht die Mehrheit im Wahlmänner-Kollegium, auf die es ankommt. Donald Trump war damals verblüfft über seinen Sieg, an den er selber nicht geglaubt hatte. Clinton hatte durch ihr permanentes Taktieren und ihren laxen Umgang mit dem Recht (professionelle E-mails auf dem privaten Account) vergessen lassen, wofür sie stand.

Von ihr kann Kamala Harris nur lernen, dass sie es anders halten muss. Fehler macht jeder, aber kapitale gilt es unbedingt zu vermeiden. Wahlkämpfe in Amerika sind höllische Spektakel. Sie verlangen Menschen vieles ab. Wer die Nerven nicht verliert, wer die Selbstbeherrschung behält, besitzt die nötige Härte für die Präsidentschaft. Wer ins Jammern abgleitet, weil der Gegenspieler hundsgemeine Werbung schaltet oder die Dreckschleudern anwirft, gerät in die Defensive und womöglich auf die Verliererstraße.

Kamala Harris segelt momentan auf einer schönen Welle. Ihre Strahlkraft ist enorm. Sie verkörpert die typisch amerikanische Zuversicht, die uns gelegentlich naiv vorkommt und zugleich unsere Bewunderung erregt. Ihr Wahlkampf gleicht bisher einem Triumphzug, der Donald Trump in den Schatten stellt. 

Interessanterweise ähnelt diese Kampagne ausgerechnet Ronald Reagans „It’s Morning Again  in America“ aus dem Jahr 1984. Reagan war Republikaner wie Trump, aber seine Partei ist mit der heutigen nicht zu vergleichen. Trump hat sie nach seinen Vorstellungen als Armee der aggressiven weißen Unterschicht geformt. Dazu stoßen Billionäre wie Elon Musk oder Peter Diehl und der Großteil der Wall Street, die auf Steuerreduktion, Negation der Ökologie und Bevorteilung von Hi-Tech bauen.

So fügt es sich, dass eine Demokratin den typisch amerikanischen Zukunfts-Optimismus ausstrahlt, und gegen einen Mann steht, der die Gegenwart für verderbt und verloren ansieht und sich selber als Jesus-artigen Erlöser aus dem irdischen Jammertal imaginiert.

Wenn Donald Trump gewinnen sollte, dann deshalb, weil sich Amerika davor scheut, eine Frau zur Präsidentin zu wählen. Wenn Kamala Harris gewinnen sollte, dann deshalb, weil Donald Trump so ist, wie er ist, und damit ihr bester Wahlhelfer.

In diesen Tagen wird Trump nicht müde, seine Wut über das Übermaß an Aufmerksamkeit für Kamala Harris in Starkstrom-Vorwürfe zu kleiden: Sie sei eine Kommunistin, verrückt, werde Amerika und die Welt ruinieren, die Demokraten seien Faschisten. Ökologische Vorstellungen von alternativer Windkraft seien ein Horror, E-Lastwagen von Übel.

Seine Berater redeten auf ihn ein, er möge über Wirtschaft, Inflation und Steuern reden und das persönliche Wüten gegen Kamala Harris wenigstens vorübergehend einstellen. Auf einer Kundgebung fing er auch damit an, hielt das Sachliche jedoch nicht durch und ging auf seine Dauerbrenner ein: die Grenze zu Mexiko, Verbrechen im Land. So ließ er sich ein: 

„Also, ich rede über diese Sache, die sich Ökonomie nennt. Ich will eine Rede darüber halten. Viele Leute sind verzweifelt darüber, was mit der Inflation und anderen Sachen passiert ist. Also wollen wir eine intellektuelle Rede halten. Heutzutage sind wir ja alle Intellektuelle. Also machen wir es und es ist sehr wichtig. Angeblich ist es das allerwichtigste Thema. Ich meine, Verbrechen ist mindestens genauso wichtig. Ich persönlich glaube, die Grenze kommt gleich danach. Also, es heißt die Inflation ist sehr wichtig. Aber sie ist ja Teil der Ökonomie.“

Donald Trump sieht Schwärze, wohin er blickt, im Inland wie im Ausland. Er redet offen darüber, die Armee gegen Protest und an der Grenze einzusetzen, wobei es erlaubt sein soll, Demonstranten wie illegalen Immigranten ins Bein zu schießen. Darin eine autoritäre Wendung der Demokratie zu vermuten, ist keine Übertreibung.

Ist Trump der Heros des Gestern, so ist Kamala Harris die Heldin der modernen Gegenwart. Ob sie deshalb eine gute Präsidentin sein könnte, ist natürlich alles andere als ausgemacht. Brillante Wahlkämpfer, siehe Barack Obama, ernüchtern ihre Anhänger fast notorisch im Weißen Haus.

Und was sollten wir uns wünschen? Na ja, diese Antwort ist einfach.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Doppeltod

Gestern las ich eine Todesanzeige in der Zeitung, zwei Menschen waren am selben Tag gestorben, ein Paar, ein Ehepaar. Heute morgen um 4.30 Uhr bin ich aufgewacht, weil mir die Anzeige nicht aus dem Sinn ging.

Ich kannte den Mann, Wolfram Bickerich. Als ich ich zum „Spiegel“ kam, war er schon da. Gemeinsam leiteten wir das Ressort D 1, wie es im Kosmos des damals ungeheuer stolzen, ungeheuer arroganten Magazins hieß. Ein kleines, aber ungemein wichtiges Ressort, denn dort landeten die unfertigen Manuskripte aus der Bonner Redaktion (wir sind weit von der Wiedervereinigung entfernt) an. Geschrieben von vorzüglich verdienenden Kollegen, die intern Trüffelschweine genannt wurde, weil sie Woche für Woche „News“ anschleppten – Informationen, die in raunenden Artikel mündeten. An jedem Freitag (das Blatt erschien noch Samstags), den Rudolf Augstein werden ließ, kämpften sie um ihre Sätze und taten dann am Montag bei Belobigung so,, als hätten sie die Artikel Wort für Wort selber geschrieben.

Wolfram Bickerich war einer von den Bonnern. Da er schreiben und denken konnte, hatte ihn die Chefredaktion nach Hamburg geholt. Er saß in seinem nicht eindrucksvollen Büro, hing schräg im Stuhl, die Schuhe ausgezogen, war mit Schere und Kleber ausgerüstet. Die Manuskripte zerschnitt er, klebte die Teile neu zusammen und redigierte mit seiner krakeligen Handschrift zielsicher, so dass druckbare Artikel entstanden. Computer standen noch nicht auf den Schreibtischen.

Er imponierte mir mit seiner Ruhe, seiner Geduld, seiner Sicherheit. Ich fand, er ließ sich viel zu viel von den Bonnern gefallen. Er war ein Pastorensohn und trug die Bürde mit Ironie und Abgeklärtheit. Solidarisch mit mir war er in einem gewissen Maße, aber eben nur soweit, wie seine Sonderstellung ungefährdet blieb. Denn mich bekämpften die „Bonner“. Ich war keiner Ihren. Ich kam von der „Zeit“, die analysierte, aber keine Skandale aufdeckte – klein, fein und unwichtig aus der Sicht des „Spiegel“. Was jedoch noch schlimmer war: Solche Gestalten wie mich holte die Chefredaktion, um mehr Denken und besseres Schreiben ins Haus zu bringen.

Es wird wohl ein knappes Jahr später gewesen sein, als Bickerich erkrankte. Multiple Sklerose, die mildere Form. Dann leistete er sich, was wohl nicht zum ersten Mal vorkam. Ich weiß es nicht mehr ganz genau, er gab wohl einen Artikel oder eine wichtige Information an die Konkurrenz weiter. Dummerweise konnte es ihm nachgewiesen werden. Aus Schwäche oder Geltungsbedürfnis neigte er zu Intrigen, die zumeist unglücklich ausgingen. Er wurde als Ressortleiter abgesetzt.

Ich hatte genug von ihm gelernt, so dass ich überleben konnte, trotz der Denunziationen der „Bonner“. Wenig später trat der Paradigmenwechsel im Hause Augstein ein und Stefan Aust wurde alleiniger Chefredakteur. Längere Zeit kam ich nicht gut aus mit ihm, schätzte dann aber mehr und mehr die Sicherheit, mit der er das Blatt revolutionierte: Namenzeilen, bunte Fotos, große Geschichten.

Als ich Wolfram Bickerich kennenlernte, wohnte er mit seiner Frau in einem Kapitänshäuschen in Blankenese. Als ihm die Ärzte MS bescheinigten, rieten sie ihm zu Stressabbau. Daraufhin trennte er sich von seiner Frau und zog in eine kleine Wohnung. Es gab in seinem Leben aber auch Brigitte Blobel, blond, charmant, temperamentvoll, erfolgreich als Autorin der „Bunten“, als Autorin von Frauenromanen und Kinderbüchern. Sie besaß eine schöne Wohnung in einer grauen Jugendstilvilla an der Aussenalster. Sie sagte zu Bickerich, wie er mir sagte: Was willst du alleine leben, komm zu mir, wir haben freie Bahn und deine Krankheit macht meiner Liebe nichts aus.

Was für ein Satz. Was für eine Größe. Die beiden wurden ein Paar. Sie heirateten. Und sie blieben es, bis zum Tod. Vielleicht bis in den Tod.

Öfter war ich bei Ihnen eingeladen. Ich hatte mich scheiden lassen und meine Frau wurde ebenfalls mit MS diagnostiziert, allerdings die harte Version. Das verband uns. Sie gaben Essen, luden umsichtig eine wunderschöne Frau ein, Hamburger, Typ Trophywife. Frau Blobel sagte, vergnügen Sie sich mit ihr, sie ist allein und interessant, Sie müssen sie ja nicht gleich heiraten. Ich war erstaunt, ich mochte das, ich mochte sie, ich fühlte mich wohl. Und hielt mich von der Schönheit fern.

Sie zogen weg. Erst nach Norddeutschland, dann weiter nach Südafrika, soviel ich weiß, dann nach Mallorca, wo wir uns über den Weg hätten laufen können. Ich bin nicht gut im Aufrechterhalten von lohnenswerten Bekanntschaften. Ich bekam mit, dass er ein Buch über Helmut Kohl schrieb. Ich dachte öfter an ihn über die Jahre. Er ging am Stock, wenn er mal, was selten war, im „Spiegel“ auftrat. Meine frühere Frau saß im Rollstuhl und starb im Jahr 2010, wie traurig.

Gestern stand im „Tagesspiegel“ eine Todesanzeige für Brigitte Blobel und Wolfram Bickerich, beide 81 Jahre alt geworden, beide gestorben am 7. August 2024. Ich verneige mich.

Ministerpräsident Björn Höcke?!

Am 1. September wählen Sachsen und Thüringen – Temperaturmesser, wie weit die AfD kommt und ob Olaf Scholz Kanzler bleiben kann. In Erfurt dürfte auf Bodo Ramelow ein Mann folgen, der Faschist genannt werden darf.

Wenn die Deutschen Ende des Monats aus dem Urlaub wieder da sind, dann stehen gleich zwei Wahlen in Ostdeutschland an. Wenn es kommt, wie es zu kommen scheint, dürften sie dramatische Konsequenzen haben.

Dass sich Wahlen zu Schicksalswahlen entwickeln können, ist ein alter Spruch, den man eigentlich nicht mehr hören mag. In Thüringen dürfte er sich am 1. September allerdings bewahrheiten. Dort liegt die AfD laut Umfragen solide vor der CDU, gefolgt vom BSW und von der Linken. Die SPD könnte den Einzug in den Landtag knapp schaffen. Die Grünen nicht einmal das.

Daraus folgt, dass AfD und BSW die Regierungsmehrheit zufallen kann. Als Ministerpräsident wird dann Björn Höcke grüßen und aus Thüringen ein Musterland der Rechten machen wollen. Flankieren würden ihn Abgesandte von Sarah Wagenknecht oder sie selber. Ein Experiment, das Seinesgleichen sucht. Historisch wäre es beispiellos in der Nachkriegsrepublik.

Ein Temperatursturz wäre die Folge für das, was wir immer noch die etablierten Parteien nennen, also CDU/SPD/Grüne/FDP. In Thüringen haben sie wohl keinerlei Aussicht, auch nur in die Nähe der Majorität zu kommen. Die Auswirkungen auf Berlin dürften dann gewaltig sein.

In Sachsen, dem zweiten Wahlland am 1. September, sieht es etwas anders aus. Dort liegt die CDU vor der AfD und das BSW weit dahinter. Sollten SPD und Grüne, die jeweils bei erschütternden 6 Prozent liegen, dieses Ergebnis halten können und die Linke wie prognostiziert unter 5 Prozent landen, dann könnte Michael Kretschmer mit zwei schwachen Koalitionspartner weiterhin das Land Sachsen regieren. Und die AfD bliebe dort machtfern.

Nun ist selbstverständlich Vorsicht mit der Demoskopie geboten. Die eingeräumte Fehlerquote liegt plus/minus 2 Punkte. In Sachsen würde sich  die Konstellation verschieben, sollten die Grünen unter 5 Prozent bleiben, was nicht ausgeschlossen zu sein scheint.

Aber warum könnte es so kommen? Was sind die Gründe für das Abschmieren der Parteien, welche die Bundesregierung bilden? Weshalb schwingt sich in diesen beiden Ländern die AfD in solche Höhen?

Wer sich auch nur ein wenig im Wahlkampf tummelt, dem fällt auf, dass sich die Erfahrung, durch die Wiedervereinigung gedemütigt worden zu sein, mit dem Ärger über die Bundesregierung und der Sorge wegen der Emigration mit der Angst vor den Folgen des Ukraine-Krieges mischt. Nicht zufällig überbieten sich AfD, BSW und die Linke im Verständnis für Wladimir Putins Angriffskrieg in der Ukraine. Damit einher geht das Drängen, Deutschland sollte die Waffenhilfe einstellen und als ehrlicher Makler Frieden stiften.

Auch der sächsische Ministerpräsident stimmt in diesen Chor teilweise ein und darin könnte ein Hinweis für tiefere Gründe liegen. Vielleicht ist es ja so, dass für viele Ostdeutsche das Maß an Veränderung voll ist. Sie haben die friedliche Revolution durchgekämpft, tanzten auf der Mauer, waren froh, die DDR los zu sein und gehörten wenig später zum Millionenheer der Arbeitslosen. So etwas vergisst sich nicht. Der Sturz ins Nichts brennt sich ins Gedächtnis.

Vermutlich erwächst auf der Grundlage solcher Erfahrungen der Unwille, Neues zu ertragen, seien es Immigranten, sei es Corona, sei es die ökologische Transformation, sei es der Krieg in der Ukraine, der sich auf Deutschland auswirkt. Vor allem die Summe der Zumutungen ergibt explosiven Stoff, der sich über Jahre auftürmte und nun Entladung sucht.

Die Historikerin Silke Satjukow forscht an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg über Krisen, Kriege und Diktaturen. Für die Stimmung in Sachsen oder Thüringen findet sie eine plausible Erklärung, die das Große mit dem Kleinen verbindet.

Angst ist das Leitmotiv. Angst wieder etwas zu verlieren, was man sich mühselig aufgebaut hat. Angst vor neuer Arbeitslosigkeit, neuer Orientierungslosigkeit. Und Wut auf alle – Politiker, Journalisten, Intellektuelle usw., von denen sie sich bevormundet fühlen.

Die AfD gibt darauf eine Antwort. Der BSW ist schnell auf den Wagen aufgesprungen und wird wohl auch noch dafür belohnt. Darüber kann man sich aufregen, wundern oder auch wüste Schuldvorwürfe an die undankbaren Ossis ausstoßen. Es nützt nur nichts. Es ändert nichts an der Stimmung oder der Lage oder dem Aufstieg der Rechten. Nicht einmal der Umstand, dass Björn Höcke mit Erlaubnis des Gerichts ein Faschist genannt werden darf, hatte Auswirkungen auf seine Popularität.

Die Machtvergessenheit der Ampel-Regierung trägt zum präsumtiv fatalen Wahlausgang am 1. September bei. Ob Olaf Scholz nach der dritten ostdeutschen Wahl in Brandenburg drei Wochen später noch Bundeskanzler bleiben kann, ist eine gute Frage.

Langfristig aber bleibt den etablierten Partei die Mühsal der Ebene in Ostdeutschland nicht erspart, wollen sie diesen Teil des Landes nicht aufgeben. Der sächsische Ministerpräsident Kretschmer hat es ihnen vorgemacht: Sich auf die explosive Stimmung einlassen, der Wut und dem Zorn nicht ausweichen und dennoch einen eigenen Weg finden, mit dem sich die Rechte eindämmen lässt. Ziemlich riskant, aber so gut wie alternativlos.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Montag.

„Netanyahu hält einen Krieg mit Iran für unvermeidlich“

Shimon Stein, Jahrgang 1948, ist ein israelischer Karrierediplomat. Von 2001 bis 2007 war er Botschafter seines Landes in Deutschland, bekannt für seinen Freimut und sein kritisches Temperament. Stein lebt in Berlin und Tel Aviv.

t-online: Herr Stein, wie gefährlich ist die Lage gegenwärtig im Nahen Osten?

Stein: Die Lage ist  zunehmend unberechenbar geworden. Noch ist die Prämisse, dass Israel, Iran und Hisbollah kein Interesse an einer großen Auseinandersetzung haben.

Anders liegt der Fall für die Hamas.

Ja, denn sie hegt ein großes Interesse an einem regionalen Konflikt. Die Hamas hat schon am 7. Oktober auf eine Ausweitung des Krieges gegen Israel gehofft. Diese Rechnung ist jedoch noch nicht aufgegangen – abgesehen von der Hisbollah, die sich mit der Hamas solidarisiert, aber ihre Angriffe trotz allem begrenzt.

Eigentlich erstaunlich, dass der kleine Krieg noch nicht in einen großen mündete.

Der Grund dafür ist, dass keine der Parteien einen Flächenbrand auslösen möchte. Daher bewegen wir uns momentan noch unterhalb der Schwelle einer großen Auseinandersetzung. Die Schläge, die die Gegner zur jeweiligen Vergeltung anbringen, sollen den Gegenspieler nicht dazu provozieren, sein Verhalten grundsätzlich zu ändern. Es ist ein riskantes Spiel, so dass eine Eskalation, auch wenn sie ungewollt sein mag, jederzeit möglich ist.

Große Kriege entstanden ja oft nur deshalb, weil keiner der Gegner dabei erwischt werden will, sie zu scheuen. 

Das stimmt und die Intensität nimmt ja auch zu. Von der Hisbollah, die ihre Nummer 2 verlor, erwarten wir einen Gegenschlag. Das Attentat auf Fuad Shukr, den Hisbollah-Kommandeur, war wiederum die Antwort auf den Anschlag auf ein Drusen-Dorf, bei dem 12 jugendliche Fußballspieler ihr Leben lassen mussten.

Was wäre eigentlich gewesen, wenn die 12 Kinder Juden gewesen wären?

Dann, glaube ich, wäre es da schon zu einer anderen Auseinandersetzung gekommen, wovor ich wirklich Angst habe.

Iran droht martialisch mit gewaltigen Antworten, weil der politische Anführer der Hamas, Ismail Haniyeh, mitten in Teheran getötet wurde.

Wie wenig Iran auf einen großen Krieg aus ist, zeigt sich schon daran, dass die Führung noch mit einer Reaktion abwartet, die allerdings kommen wird, soviel ist sicher. Nun wissen wir aber nicht, ob die Reaktion genauso wie im April ausfallen wird, als das Mullah-Regime Raketensalven mit Ansage auf Israel abfeuerte, die in einer konzertierten Aktion mit England, Frankreich, Jordanien und den USA abgefangen wurden. 

In der Logik dieser Weltgegend muss Iran etwas unternehmen, um ernst genommen zu werden. So war es im April und so dürfte es in Kürze wieder sein.

Damals haben die Iraner zumindest eine gewisse Abschreckung wiederhergestellt – nach dem Motto: Ihr habt es uns geschlagen, jetzt schlagen wir euch und damit ist die Rechnung ausgeglichen. Ich hoffe, es bleibt dabei, dass der iranische Gegenschlag im Verhältnis bleibt. Iran muss ja damit rechnen, dass sie mit unverhältnismäßiger Härte die Amerikaner dazu zwingen würden, gemeinsam mit den Israelis das Land anzugreifen. Die Mullahs warten genauso wie Benjamin Netanjahu die Wahl am 5, November ab. 

Weil Trump überraschend geäußert hat, er werde einen Nuklear-Deal mit Iran anstreben?

Der Deal würde im Rahmen seiner isolationistischen Außenpolitik Sinn machen, um eine Auseinandersetzung im Nahen Osten zu vermeiden. Es ist ja überhaupt nicht so, dass er 2025 genauso handeln wird wie 2018. Und auch wenn Kamala Harris gewählt werden sollte, weiß niemand genau, wie sie sich positionieren wird. 

Wir wissen nur dies zuverlässig: Sollte Iran jetzt angreifen in einer Art und Weise, die Israel dazu zwingt, Iran noch heftiger anzugreifen, werden wie die Amerikaner an unserer Seite. Deshalb dürfte sich Iran Zurückhaltung auferlegen.

Und wie sieht die Lage aus Sicht Netanjahus aus?

Für Netanjahu ist Iran ist die große Herausforderung und die große Bedrohung. Er hält einen Krieg zwischen Israel und Iran für unvermeidlich. Da die Amerikaner noch mehr Raketen und Kriegsschiffe ins Mittelmeer schicken, ist die Zeit für einen Angriff  jetzt besser als später. 

Ist der Krieg zwischen Iran und Israel unvermeidlich?

Iran unter dem Mullah-Regime ist entschlossen, dieses zionistische Gebilde von der Landkarte des Nahen Osten zu tilgen. Es geht um das größere Bild. Iran legt einen Ring um Israel. Sie rüsten Hisbollah aus. Sie rüsten Milizen im Irak und Syrien aus. Sie sind entschlossen, in Syrien zu bleiben. Sie versuchen, Jordanien zu destabilisieren, damit sie die Palästinenser von dort aus im Westjordanland mit Waffen versorgen können. Sie haben die Houthi-Rebellen, die 2000 Kilometer von uns entfernt sind, aufgerüstet. Sie haben die Hamas im Gaza aufgebaut. Iran besitzt eine feste Weltanschauung, in der für Israel kein Existenzrecht bleibt.

Haben Sie eigentlich geglaubt, dass der Krieg im Gaza so lange dauern würde?

Nein, und ich bin da nicht allein. Mich interessiert, wie es soweit kommen konnte, dass wir vom Ausmaß des Tunnelbaus nichts ahnten. 20 000 Palästinenser kamen täglich zur Arbeit nach Israel. Wir vertrauten auf unsere Technologie entlang der Grenze. Deshalb haben wir Truppen abgezogen. Dazu kam die Schlussfolgerung, die Hamas sei geschwächt. Wir hatten ein Konzept, dass nichts passieren würde.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Ja, und jetzt überschätzen wir unsere militärischen Fähigkeiten in der Region. Ich gehöre nicht zu den Israelis, die glauben, dass wir ohne amerikanische Unterstützung Iran herausfordern könnten. Es ist eine Illusion zu glauben, wir könnten auch alleine angreifen. Am Ende sind unsere militärischen Kapazitäten begrenzt, mit Iran fertig zu werden.

Wie schätzen Sie den Krieg im Gaza ein?

Zehn Monate sind wir dort mit einem unrealistischen Ziel, nämlich die Hamas mit ihren 30 000 Terroristen auszulöschen. Erst vor wenigen Tagen ist ein Salve von Raketen aus Gaza auf unsere Ortschaften hinter der Grenze abgefeuert worden. Wir stecken in einem Sumpf, ohne klare Perspektive.  Wer wird Hamas in Gaza am Tag nach dem Krieg ersetzen? 

Herr Stein, lassen Sie uns über Sie persönlich reden. Sie sind Jahrgang 48, Sie gehörten zur ersten Generation, die in Israel geboren wurde. Sie waren Diplomat, unter anderem Botschafter in Berlin. Was bedeuten die Ereignisse für Sie?

Meine Eltern kamen aus Czernowitz in der Bukowina, einer wunderbaren Stadt, Sie entstammten einer bürgerlichen deutsch-österreichischen Familie. Sie waren keine Zionisten, aber von der Hoffnung beseelt, eine sichere Heimat zu finden.

Ist die Heimat noch sicher?

Meine große Sorge ist die innere Lage Israel. Die vergangenen zwei Jahre warfen einen Schatten auf die Zukunft des Landes. Wollen wir jüdisch und demokratisch sein? Wie kann man jüdisch und demokratisch gleichzeitig sein? Momentan wird die Annexion der Gebiete im Westjordanland forciert. Können wir unter solchen Umständen eigentlich noch zugleich demokratisch und jüdisch sein?

Dass Sie diese Fragen stellen, deutet darauf hin, dass Ihnen die Antworten schwer fallen.

Dafür sorgt die Regierung unter der Leitung einer Person, deren politisches Überleben für ihn den Vorrang vor dem Staatswohl hat.

Weil es auch mit Benjamin Netanjahu vorbei sein wird, wenn der Krieg geendet hat.

Um an der Macht zu bleiben, führt er eine Koalition aus Rassisten – von messianischen Menschen, die überzeugt sind, dass Israel alles gehört. Deshalb nutzen sie die die Gunst der Stunde, weil der Premierminister erpressbar ist. Möglicherweise landet er im Gefängnis, weil er korrupt ist. Um das zu verhindern, unterwandert er zielstrebig die demokratische Institutionen. Nach dem Vorbild von Viktor Orbán strebt er eine illiberale Demokratie an. In Israel spricht man gerade davon, dass er zum zweiten Mal dabei ist, Verteidigungsminister Joao Gallant zu entlassen.

Aus welchem Grund?

Gallant tritt dafür ein, das Abkommen abzuschließen, das lange schon auf dem Tisch liegt und die Chance bietet, die restlichen Geiseln zu befreien. Für Netanjahu aber ist der Krieg wichtiger als die armen Menschen in den Fängen der Hamas. Zu den Familien sagte er, die Geiseln leiden ja nur, sie sterben nicht. Mehr Zynismus ist kaum vorstellbar.

Steht Gallant allein?

Keineswegs, denn fast das gesamte militärische Establishment ist der Auffassung, dass ein Abkommen möglich ist. Nach einer Waffenpause könnten dann die Geiseln endlich freikommen und Gaza wieder aufgebaut werden, was einer riesigen Anstrengung bedarf. Am Ende könnte dann eine Allianz gegen Iran geschmiedet werden, eben auch mit Saudi-Arabien, das sich mit der Existenz Israelas abgefunden hat.

Israel feierte vor kurzem die 75. Wiederkehr seiner Staatsgründung. Glauben Sie, dass es seinen 150. Geburtstag feiern kann?

Ich weiß es nicht.

Ihre Hoffnung scheint nicht sonderlich ausgeprägt zu sein.

Wir sind ein zerstrittenes Volk. Gut. Wir sind heute stärker polarisiert als früher. Wir sind uns über die Zukunft des Staates nicht einig. Ich kann mir als liberaler Mensch nicht vorstellen, nur in einem jüdischen Staat zu leben, der durch die Halacha, das jüdische Gesetz, bestimmt wird. Wir müssen zwischen jüdisch und demokratisch einen Kompromiss finden, um überleben zu können. 

Herr Stein, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, am 7. August.

Und dann stürzt der Himmel

Wieder sieht es danach aus, dass der große Krieg im Nahen Osten nur einen Vergeltungsschlag weit entfernt ist. Dabei ist unbedeutend, ob sie ihn unbedingt wollen oder nicht – Iran, Hisbollah, Hamas, Israelis, Jordanier, Saudis. Das Prinzip Rache ist das Grundproblem, dieser systematische Glaube, dass der Gegenschlag den Schlag übertreffen muss, weil alles andere Schwäche wäre. Es kommt darauf an, den Feind an Kompromisslosigkeit, an Ruchlosigkeit zu übertreffen.

Iran, das ist die Logik, muss jetzt Stärke zeigen. Mitten in Teheran ist ein Bruder im Geiste getötet worden, das schreit nach Vergeltung. Der Kommandeur der iranischen Revolutionsgarden, General Hussein Salami, schrieb im Netz: „Das kriminelle und terroristische zionistische Regime und seine Unterstützer müssen mit dem heiligen Zorn der Widerstandsgruppen rechnen.“ Geht es noch martialischer?

Dabei ist es gut möglich, dass diesmal der Wunsch nach übersteigerter Vergeltung die abgezirkelte Strategie außer kraft setzt, wonach eben der Umschlag des kleinen Gaza-Krieges in den umfassenden Krieg vermieden werden soll. Diese letzte Vorsicht galt bisher einigermaßen zuverlässig. Und jetzt?

Nun macht auch China die Erfahrung, dass in dieser Region Vereinbarungen von gestern heute nur noch wenig wert sind. Konfuzius wird dieser weise Satz zugeschrieben: „Zuerst verwirren sich die Werte, dann verwirrt sich das Denken. Und wenn sich das Denken verwirrt, dann gerät die Politik in Unordnung. Und wenn das passiert, stürzt der Himmel ein.“ Stürzt er ein?

Die Übereinkunft, die China mit 16 palästinensischen Gruppen aushandelte, ist jetzt das Papier nicht mehr wert, auf dem sie steht. Der Mord an Ismael Haniyeh vernichtet erst einmal alle Versuche auf Vermittlung der Gegensätze.

Auch die unermüdlichen Verhandlungen über einen Austausch der Geiseln  sind fürs Erste hinfällig. Die Hamas hat eine Ausrede fürs Aussetzen der Gespräche. Benjamin Netanjahu hat ein Alibi dafür, dass es in Katar nicht weitergeht. Für ihn hat die Vernichtung der Hamas Priorität, wie er immer wieder betont. Die Geiseln sind für ihn nachrangig.

Dem Ziel ist der Premier aus seiner Sicht näher gekommen, weil die Hamas den Tod Mohammed Deifs, der für das Blutbad am  7. Oktober verantwortlich war, in diesen Tagen bestätigte. Dazu fiel ein Kommandeur der Hisbollah einem Anschlag zum Opfer. Keine Bestätigung aus Israel, das nicht. Aber wer sonst sollte es gewesen sein?

Mehr Krieg und nicht weniger steht bevor. Mehr Krieg ist möglich, weil Zurückhaltung in dieser Weltgegend die Legitimität der Autokratien unterminieren könnte. Und auch Israel ist auf Demonstrationen der Stärke aus – gegen Iran, gegen die Hisbollah im Libanon und gegenüber den Verbündeten, auf die es angewiesen ist.

Oft schon sind große Kriege einfach nur deshalb entstanden, weil kein Land dabei erwischt werden wollte, ihn zu scheuen. Lieber riskant handeln als beschwichtigen. Lieber eskalieren als stagnieren. Der Nahe Osten ist das grelle Musterbeispiel für das Schlafwandeln in immer neue Konflikte, die zwangsläufig irgendwann in eine großen Krieg münden können.

Anders als China macht die Supermacht USA schon länger Ohnmachtserfahrungen. Präsident Joe Biden seit dem Gaza-Krieg viele Register gezogen. Er hat Netanjahu gut zugeraten, sich von ihm distanziert, ihm mit Konsequenzen gedroht. Was hat er bewirkt? So gut wie nichts.

Vom Anschlag auf Ismail Haniyeh, dem politischen Führer der Hamas im Exil in Katar, wusste das Weiße Haus nichts. Kaum anzunehmen, dass der Präsident den Mord befürwortet hätte. Also ersparte sich Netanjahu die Frage.

Paradoxerweise hatte Haniyeh die Verhandlungen in Katar unterstützt und sich damit in Gegensatz zu den militärischen Führern im Gaza gesetzt. In Katar hatte er an Einfluss auf Deif und Jaja Sinwar verloren. Unter den ganz Bösen war er kein ganz Böser. Wahrscheinlich ergab sich die Möglichkeit, ihn in Teheran zu töten, und dann wurde er eben getötet.

Und jetzt? Die USA entsenden noch mehr Kampfjets und Flugzeugträger in die Region. Die Hisbollah schickt täglich noch mehr Raketensalven nach Nordisrael. Die Hamas ordnet sich neu. In Teheran wägen sie ab, wie groß die Rache ausfallen muss, damit sich die Welt von der Stärke des Regimes überzeugen lässt. Israel macht sich auf alles gefasst.

Aber kann das kleine Land einen Mehrfrontenkrieg gewinnen?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.