Der Teufelskreis, den man auch verlassen kann

Manchmal hilft es ja, in die Vergangenheit zu gehen, um einen Konflikt besser zu verstehen. Ich glaube nicht, dass man aus der Geschichte lernen kann, aber zum Begreifen trägt sie zweifellos bei. Zum Beispiel fällt auf, welche Bedeutung Zahlen in dieser Region haben.

Im Jahre 1880, als jüdische Siedler aus Polen und dem Zarenreich vor Pogromen in einem ersten Schub hierher flohen, lebten rund 25 000 Juden und 400 000 Fellachen und Nomaden in Palästina. Übrigens war Palästinenser damals ein Sammelbegriff für alle Muslime, Juden und Christen, die hier ansässig waren. Die Herrschaft übte 500 Jahre lang das Osmanische Reich aus. Nach 1918 war Großbritannien die Mandatsmacht im Auftrag des Völkerbundes. 

Das Zahlenverhältnis zwischen Juden und Arabern veränderte sich auch schon vor der Shoah, was den arabischen Teil beunruhigte und immer wieder zu Aufständen anstachelte. Sie befürchteten, sie würden in die Minderheit geraten und an Einfluss verlieren. Als die Uno im Jahr 1947 das Land aufteilte, standen 700 000 Juden 1,2 Millionen Arabern gegenüber. Das waren nun zwei gegensätzliche Nationalbewegungen in wachsender Unversöhnlichkeit.

Der Zufall fügt es, dass Israel in Kürze den 75. Jahrestag seiner Staatsgründung feiern wird. Am Nachmittag des 14. Mai 1948 proklamierte David Ben Gurion in Tel Aviv die Gründung des Landes, das nach längeren Hin und Her Israel getauft wurde. Noch in der Nacht rückten die Armeen Ägyptens, Jordaniens, des Libanons, des Iraks und Syriens auf das Gebiet des neuen Staates vor – die geballte arabische Macht des Nahen Ostens.

Vom Tag der Gründung an war Israel in seiner Existenz bedroht. Der Krieg war seither immer eine reale Möglichkeit. Zugleich wuchs das Land von Krieg zu Krieg. Der Sinai kam hinzu und wurde zurückgegeben, die Golan-Höhen gab Israel wieder her. Der Streifen Land an der Küste, der Gaza heißt, fiel Israel zu, den es später an die Palästinenser übergab. Im Westjordanland entstanden zahllose völkerrechtswidrige Siedlungen; heute leben 700 000 Menschen dort. Und natürlich Jerusalem.

Die arabischen Nachbarländer haben den letzten Krieg im Jahr 1973 gegen Israel verloren und Konsequenzen gezogen. Danach gingen Ägypten und Jordanien zur Anerkennung des Landes über, das sich nicht ins Meer treiben ließ. Die Emirate am Golf und Bahrain folgten später. Im Hintergrund signalisiert Saudi-Arabien eine gewisse Bereitschaft zur Anerkennung. 

Der Jahrestag der Gründung Israels ist für die Palästinenser der Jahrestag der Katastrophe. In diesem Krieg verloren sie nicht nur Land und Häuser, sondern auch ihre Heimat. Denn rund 700 000 von ihnen flohen oder wurden vertrieben. Sie gingen nach Jordanien oder in den Libanon, leben heute noch in Flüchtlingslagern. Knapp 170 000 blieben damals als Minderheit in Israel.

Von Krieg zu Krieg verloren die Palästinenser nicht nur die Hoffnung auf baldige Rückkehr in ihre Heimat, sondern auch Verbündete, die ihre Sache zur eigenen machten. Auch daran werden sie am 14. Mai denken. Wer ist ihre Schutzmacht? Welches Land übt sich nicht in Versöhnlichkeit mit Israel?

Iran. Kurz vor dem 14. Mai sandte Iran Hunderte Drohnen und Raketen nach Israel. Die Propaganda zeigte ein Video, das anfliegende Marschflugkörper über der Al-Aqsa-Moschee auf dem Jerusalemer Tempelberg zeigte, einem islamischen Heiligtum, von dem aus Mohammed gen Himmel geritten sein soll. Seht her, das war die Botschaft, wir befreien Jerusalem, wir sind imstande, Israel zu schlagen und zu zerstören.

Dieser Angriff war genauso beispiellos wie auch der Gegenangriff auf Isfahan. Beide Angriffe waren aber auch begrenzt, kamen sie doch mit Ankündigung und zielten auf militärische Stützpunkte ab, wobei hier wie dort der Flugabwehr genügend Zeit zum Abschuss der Drohnen und Raketen blieb. Dennoch sandte auch Israel eine Botschaft: Wenn wir wollen, können wir eure Atomanlagen angreifen, gebt euch keinem Größenwahn hin.

Seit 75 Jahren existiert der Staat Israel. Kriege ändern an dieser Tatsache nichts, diese Erfahrung könnte ja auch irgendwann in Teheran zu Einsichten führen. Eine Atommacht, die auch konventionell überlegen ist, lässt sich nicht ins Meer treiben.

Die Uno teilte damals das Land zwischen Arabern und Israelis auf. Teilungen sind immer künstlich und stellen selten zufrieden. Damals mag theoretisch sogar eine Chance auf Koexistenz bestanden haben, weil die Anzahl der Menschen auf beiden Seiten überschaubar war. 

Heute aber leben knapp zehn Millionen Israelis neben fünf Millionen Palästinensern und 1,5 Millionen arabischen Israelis in dieser Region. Unter so vielen Menschen das ohnehin kleine Gebiet auch noch zwischen zwei Staaten aufzuteilen, scheint ziemlich illusorisch zu sein. Wie sollte das gehen – mit Bevölkerungsaustausch? Die Zwei-Staaten-Lösung, im Laufe der Jahre immer mal wieder vergeblich angestrebt, ist heute so gut wie unerfüllbar.

Als Alternative bleibt die immerwährende Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern, an die beide sich beide gewöhnt haben mögen. Oder eben eine Konföderation, für sich etliche Israelis, aber auch Araber seit Jahren einsetzen – zwei Staaten, ein Heimatland, das ist ihr Vorschlag.

Wäre doch schön, wenn dieser Teufelskreis aus Krieg, Terror und Hass zur Abwechslung mal verlassen werden könnte.

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Der große Krieg – nur eine Fehleinschätzung entfernt

Nun bemühen sich alle um Mäßigung, um Beruhigung der Gemüter, die Außenminister und Regierungschefs, EU und Uno. Es ist ja nicht so schlimm gekommen wie befürchtet. Die meisten der iranischen Raketen und Drohnen haben sie noch im Anflug in einer konzertierten Aktion mit Israel abgefangen – die USA, England, Frankreich und Jordanien. Die technische Überlegenheit der Abwehrsysteme bewährte sich in dieser kritischen Nacht zum Sonntag.

In der langen, blutigen, unberechenbaren Geschichte des Nahen Ostens ist eine Zäsur eingetreten. Der Schattenkrieg, der sich seit vielen Jahren im Libanon, Irak oder Syrien abspielte, ging in einen offenen Krieg über, bei dem Iran erstmals Ziele auf israelischem Territorium direkt ansteuerte. Die Zäsur sollte in unserem Gedächtnis bleiben, auch wenn Iran das Abfeuern der Drohnen, Mittelstreckenraketen und ballistischen Raketen so frühzeitig bekannt gab, dass die Abwehrsysteme bereit standen.

Natürlich gibt es in Iran, den USA wie auch Israel genügend Kräfte, die das Verhalten Irans als Schwäche deuten und nun aufs Ganze gehen wollen. Die Vasallen Donald Trumps verlangen nach einem machtvollen militärischen Vergeltungsschlag. Sie werfen Joe Biden vor, dass er Israel mit seiner Kritik am Gaza-Krieg schwäche und gegen Iran Appeasement betreibe. Sie wollen am liebsten ganz schnell die Nuklearfabriken im Iran angreifen und auslöschen. Ihnen liegt daran, das Mullah-Regime zu stürzen.

Über die inneren Machtverhältnisse in Iran wissen wir wenig, so ist das nun einmal in Diktaturen. Offensichtlich ist nur, dass die militärische Machtdemonstration mit Vorsicht gepaart war. Gestern feierte die Propaganda den Angriff „auf den kleinen Satan“ und erklärte zugleich die Aktion für beendet. 

Da ist der Rückschluss erlaubt, dass es auch im Regime der Mullahs zwei Fraktionen gibt, wobei die eine Fraktion eben Ambivalenz bevorzugt, während die andere Fraktion kompromisslos Angriffe auf Tel Aviv mit vielen toten Zivilisten vorgezogen hätte. Der Krieg ist immer nur eine Fehleinschätzung weit entfernt.

Gestern tagte das israelische Kriegskabinett ziemlich lange über die Zäsur und die Folgen. Natürlich gibt es auch hier die Falken, die jetzt tun wollen, was sie lange schon tun wollen – den Schlag zum Beispiel auf die kerntechnische Anlage in Natanz, in der Uran angereichert wird. Damit hat Benjamin Netanjahu Jahr um Jahr gedroht. Aus seiner Sicht könnte die Chance jetzt gekommen sein, weil es um Irans konventionelle Streitmacht nicht besonders gut bestellt zu sein scheint, wie die Leichtigkeit der Abwehr am Sonntag suggeriert.

Große Kriege entstanden schon oft aus kleinen Kriegen. Dem Gaza-Krieg wohnte von Anfang an diese Eskalation inne. Eigentlich will ihn keiner, diesen großen Krieg, weil die Konsequenzen unabsehbar wären, aber jeder verfolgt seine Interessen unbeirrt. Und deshalb ist das Schlafwandeln in den großen Krieg jederzeit möglich.

Iran umstellt Israel seit langem mit Gefolgs-Milizen im Libanon, im Gaza und im Jemen. Sie bekommen Waffen, Ausbildung, Berater aus den Revolutionären Garden und erledigten für die Mullahs die Arbeit. Gemeinsam träumen sie davon, Israel ins Meer zu treiben. 

Israel bekennt sich prinzipiell nicht zu Angriffen in Iran, im Irak oder Syrien, schon wahr. Aber iranische Nuklearwissenschaftler starben auf offener Straße in Teheran. An Nuklearstätten und militärischen Stützpunkten fanden Explosionen statt. 18 iranische Kommandeure der elitären Quds-Einheit und der Revolutionären Garden wurden im In- wie Ausland ermordet. Zuletzt starben zwei Generäle und vier Offiziere in einem Gebäude der iranischen Botschaft in Damaskus. Dieser Drohnen-Angriff am 1. April löste die Zäsur von Sonntagnacht aus, so begründete das Mullah-Regime die „Rache für die Märtyrer“.

Was bleibt, ist eine neue Konstellation in dieser Region, die sich länger schon abzeichnete. Jordanien und Ägypten schlossen noch am Samstagabend vorsorglich ihren Luftraum. Jordanien schoß sogar iranische Projektile ab. 

Auch Saudi-Arabien und Katar, die den großen Krieg unter allen Umständen verhindern wollen, rufen jetzt zur Mäßigung auf. Aus ihrer Perspektive mag Israel ein Ärgernis sein, aber es ist nun einmal da und als Atommacht auch nicht ins Meer zu treiben. Nein, der entscheidende Unruhefaktor mit dem Anspruch auf Hegemonie im Nahen Osten ist Iran. Den sunnitischen Arabern liegt eindeutig an der Reduktion der Einflußsphäre der Schiiten im Iran.

Dazu trug Israel in der Nacht zum Sonntag bei. Auch deshalb bleibt für die gesamte Region entscheidend, ob sich die Regierung Netanjahu mit dem Triumph zufrieden gibt oder im Glauben wiegt, dass jetzt im umfassenden Angriff eine historische Chance liegt, Iran bleibend zu schwächen.

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Der Runningback, der sich im Leben verlief

Da war dieser weiße Ford Bronco, der gar nicht mal schnell quer durch Beverley Hills fuhr. Das Fernsehen übertrug live, wie die Polizeiwagen ihm folgten, als wären sie ein Geleitzug. Es hätte sich auch um ein Begräbnis handeln können, bei dem eben der Konvoi dem Sarg folgt und sich jede Menge Schaulustige anhängen. 

Der Mann im Auto war in Amerika berühmt, sie nannten ihn nur OJ. Er war ein herausragender Footballspieler gewesen, der nach der Karriere in Film und Fernsehen auftrat. Er lebte von seinem Ruhm, er zehrte von seinem Ruhm, er war der Gute, er konnte doch kein Mörder sein, oder doch?

Amerika kann schrecklich sein. O.J. Simpsons Fahrt in die Verhaftung wegen Mordes bediente den erbärmlichen Voyeurismus weit vor Erfindung der sozialen Medien. Nicht erst das Netz hat diese zügellose Neugier erfunden, die sich am Entsetzlichen weidet. Den obszönen Drang zu sehen, ob es in Los Angeles zu einem Shootout kommt oder wenigstens zu einem tödlichen Auto-Unfall, gab es weit vor dem Internet. Der Fall O.J. Simpson ist der ultimative Beleg für den kulturellen Dammbruch, bei dem Amerika der Welt voranging.

Bis zu diesem 17. Juni 1994 war O. J. Simpsons Leben ein Märchen gewesen. Aufgewachsen mit der alleinerziehenden Mutter. Kränkliches Kind. Dann Mitglied einer Straßengang, die sich „Persian Warriors“ nannte, toller Name. Der Football als Retter vor dem Verderben, das im Gefängnis hätte enden können, schon damals.

In Amerika lieben sie diese Lebensgeschichten, in denen farbige Jungs im Sport zu Millionären aufsteigen. O.J. war Running Back gewesen, das sind die Brecher, die den Football vom Spielmacher bekommen und sich durch die gegnerischen Linien zum Touchdown durchschlagen. Jeder Spielzug löst ein kleines Drama aus – gelingt es ihm oder werfen sie ihn rechtzeitig nieder und wie hart gehen sie mit ihm um?

O.J. war große Klasse. O.J. sah glänzend aus. O.J. war ein Star, blieb ein Star und konnte sich nichts anderes vorstellen, als immer nur ein Star zu sein. Was sollte schon passieren? So einer kam immer davon, so einen kriegten sie nicht, weder die Verfolger auf dem Feld noch die Gegner vor Gericht.

Zwei Menschen waren in Los Angeles vor niedergestochen worden. Nicole Brown Simpson war seine geschiedene Frau, Ronald Goldman ihr Liebhaber. War O. J. Simpson beider Mörder?

Am Prozess nahm ganz Amerika Anteil. Grob gesagt war für Simpson, wer farbig war, und gegen ihn, wer weiß war. So einfach war das damals und ist es noch heute.

In solchen Verfahren geht es um das Drama und um die Deutungshoheit über das Verbrechen. Simpsons Anwalt spielte furios mit den Vorurteilen, die Farbigen aus den Institutionen entgegenschlagen, an deren Spitze Weiße stehen. Der Chefermittler? Johnny Cochran, der Simpson vertrat, machte aus ihm einen Rassisten, der eine Verschwörungstheorie konstruierte, um den feinen, untadeligen O.J. Simpson zu Fall und ins Gefängnis zu bringen. 

Eine Schmierenkomödie spielte sich vor Gericht ab, die man seither aus zahllosen US-Serien kennt. Am Ende kam es auf einen blutigen Handschuh an, den Simpson, atemlos beobachtet von den Geschworenen, dem Richter und dem Fernsehpublikum, langsam überstreifte – überzustreifen versuchte, denn siehe, er war ihm zu klein und damit war O.J. Simpson am 3. Oktober 1995 ein freier Mann.

Aber es war noch nicht ganz vorbei. Nach amerikanischen Recht konnten die Hinterbliebenen Simpson vor dem Zivilgericht auf Schmerzensgeld verklagen, was sie auch taten. Ein Gericht in Florida verurteilte O.J. zu 33,5 Millionen Dollar, zahlbar an die Familien der Ermordeten. Davon musste er allerdings in Wahrheit nun eine halbe Million Dollar herausrücken, weil in Amerikas Sonnenstaat Pensionsvermögen und Immobilien nicht zur Begleichung der Strafe herangezogen werden dürfen.

O.J. Simpson war einerseits des Mordes für nicht schuldig befunden worden und andererseits eben doch. Er sollte horrendes Schmerzensgeld zahlen und eben dann wieder nicht. Er kam davon, wie man im amerikanischen Rechtssystem davonkommen kann, wenn man Geld und Ruhm besitzt.

Aber was macht diese Erfahrung mit einem Menschen? Natürlich kommt es auf sein Gemüt an, seinen Charakter. Vor allem aber darauf, ob er der Mörder seiner Ex-Frau war und deren Geliebtem oder nicht. Simpson konnte sich zurückziehen und seinen Ruhm verwalten. Er konnte Gutes tun und seinen Namen rein waschen. Aber er war nun einmal ans Drama gewöhnt und seltsamerweise wollte er mehr davon.

Vielleicht fehlte ihm der reine Ruhm, der ihn wie eine Aura umgeben hatte und nun beschmutzt war. Vielleicht ging ihm das Geld aus, denn Anwälte sind in Amerika unfassbar teuer. Vielleicht umgaben ihn aber auch Einflüsterer, die immer wie Kletten an Menschen wie Simpson hängen. Also schrieb er ein Buch, das nach einigem Hin und Her diesen Titel bekam: „If I did it – Confessions of the Killer“.

Darin stellt sich Simpson vor, wie er sich verhalten hätte, wenn er der Mörder gewesen wäre. Er spielt mit dem Mord an seiner einstigen Frau und dem Kellner, der ihr Liebhaber gewesen war. Er legt ein Geständnis ab, natürlich fiktiv. Er lässt das Grauen sich entfalten, er labt sich am Entsetzen, als ginge es um nichts Wichtiges. Oder legte er tatsächlich ein Geständnis ab, jetzt, da niemand ihm etwas anhaben konnte?

Viele Fragen, zu viele Fragen. Jetzt hatte sogar das unersättliche Amerika genug von Simpsons Dramen. Er war einfach zu weit gegangen.

Ins kollektive Bewusstsein kehrte O.J. Simpson erst im Jahr 2008 zurück –nach einem bewaffneten Überfall in Las Vegas. Gemeinsam mit Komplizen war er in ein Hotelzimmer eingebrochen, in dem zwei Fanartikelsammler abgestiegen waren. Als Begründung gab er an, er hätte eigene Erinnerungsstücke zurückhaben wollen. Vor der Richterin stammelte er: „Ich war so dumm. Es tut mir leid. Ich wollte nicht das Zeug von irgendjemand anderem haben, nur das holen, was mir gehört. Ich wollte niemandem wehtun.“

Tja. O.J. war damals 61 Jahre alt und hätte es nun wirklich besser wissen können. Das Strahlen, das ihm umgeben hatte, war verflogen. Aber wieder kam er davon. Nicht lebenslang, sondern „nur“ 33 Jahre ins Gefängnis sollte er mit der Möglichkeit, nach neun Jahren freigelassen zu werden. So kam es. Seit 2017 war er und blieb er ein freier Mann.

Was für ein seltsames Leben. So viel Drama wie möglich hineingepresst, als ginge es nicht anders. Ein Runningback, der sich im Leben verlief.

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Frisch und fesch, unser Gerd

Schlank ist er geworden, dank der Nahrungsumstellung. Er trinkt kaum noch Alkohol, obwohl Rotwein sein steter Begleiter gewesen war. Ihm tut auch gut, dass er Golf spielt, denn dabei hält er sich dort auf, wo er lange berufshalber selten zu sehen war – an frischer Luft. Überhaupt macht er jetzt viele Sachen, von denen er nie gedacht hätte, dass er sie je machen würde.

Gerhard Schröder war ja das political animal, der ultimative Machtpolitiker mit dem Wagemut, alles aufs Spiel zu setzen. Er besiegte zuerst Ernst Albrecht in Niedersachsen und dann Helmut Kohl im Bund. Er hielt Oskar Lafontaine in Schach, bis der aufgab. Seine Agenda 2010 war ein Beispiel dafür, dass für einen Bundeskanzler das Land der Partei vorgeht, was ihm die SPD nie verzieh. Er war der Basta-Kanzler, der 2005 fast noch einmal gewonnen hätte.

Er häutete sich, erfand sich neu. Nach der Politik kam der Lobbyist, kam das Geldverdienen, kam Gazprom, kam Wladimir Putin. Diesem neuen Gerhard Schröder war nunmehr vieles egal, was ihm vorher wichtig gewesen war. Die nächste Häutung führt zum Privatier, keineswegs freiwillig.

Heute wird er 80 Jahre alt und ist doch fit wie ein Turnschuh. In seinem zerfurchten Antlitz paart sich das Verschmitzte mit der eisernen Härte, die ihm seit je her eigen war. Beseelt lächelt er auf privaten Fotos, die im Netz kursieren. Er grüßt samt Ehefrau Nummer Fünf zum Valentinstag, er zeigt sich mit ihr im Schneegestöber und umrahmt mit ihr die sterbenskranke Antje Vollmer.

Dass wir so viel über den postheroischen Alltag von Gerhard Schröder zu wissen bekommen, verdanken wir den Instagram-Beiträgen, welche So-yean Schröder-Kim, seine südkoreanische Gattin, mit der Welt teilt. Zugegeben, einige Eintragungen grenzen ans Komische und überhaupt erfahren wir mehr, als wir wissen wollen, aber 48 000 Menschen folgen dem Paar auf ihrer Reise durchs Leben hier in Deutschland und dort in Südkorea. Ist doch auch eine Art Popularität, oder nicht?

An Demütigungen, auch an öffentlicher Verachtung hat es ja nicht eben gefehlt. Die SPD wollte ihn loshaben, musste ihn dann jedoch wohl oder übel für 60 Jahre Parteimitgliedschaft auf Sparflamme ehren, in Hannover, nicht in Berlin. Das Berliner Büro, das ihm zustand, haben sie ihm weggenommen, wogegen der Ex-Kanzler vergebens gerichtlich vorging. Gerhard Schröder, den alle nur Gerd nennen, ist zur verfemten Person geworden, weil er Wladimir Putin die Treue hält, auch wenn er die Invasion in die Ukraine für einen Fehler hält.

Natürlich geht der Fall ins Bodenlose nicht spurlos an Gerhard Schröder vorbei. Natürlich lässt er sich nichts anmerken und hofft auf Rehabilitation noch zu Lebzeiten. Aber wahrscheinlich werden sie ihm erst im Tod Gerechtigkeit widerfahren lassen, worin die dann auch immer bestehen mag.

Manches, was ihm wie ein Mühlstein um den Hals hängt, relativiert sich bei näherer Betrachtung. In einer ARD-Sendung fragte Reinhold Beckmann im Jahr 2004 den Bundeskanzler Schröder, ob Wladimir Putin ein „lupenreiner Demokrat“ sei. Lupenrein? Die Frage war suggestiv, eigentlich unzulässig, was denn sonst. Aber sollte der Bundeskanzler sagen: Nein, ist er nicht?

Im Jahr 2004 war Putin im Westen noch wohlgelitten. Ein Nein aus Schröders Mund hätte eine diplomatische Krise ausgelöst. Mit größerer Geistesgegenwart hätte er wahrscheinlich die Frage einfach zurückgegeben. Statt dessen gab er diese Antwort: „Ja, ich bin überzeugt, dass er das ist.“ Mit dem Wissen von viel später wurde ihm der Satz zum Verhängnis.

Aber warum hat er nicht mit Putin wegen des Überfalls auf die Ukraine gebrochen? Aus Trotz, aus Sturheit. Weil Putin ihm Gelegenheit geboten hat, gutes Geld zu verdienen – ihm, der jahrelange klamm war, auch wegen der Scheidungen. Bei Gazprom konnte sich Schröder finanziell gesund stoßen. So etwas vergisst er nicht.

Um ihn ist es deshalb einsam geworden. Alte Freunde sind ihm geblieben, das schon, und werden in Alter und Isolation wichtiger denn je. Zum Beispiel die eherne Skat-Runde mit dem Malerfürsten Markus Lüpertz, mit Otto Schily und dem Unternehmer Jürgen Grossmann. Solche Rituale nehmen mit den Jahren fast sakralen Charakter an.

In Ermangelung politischer Bedeutung hat das Private in den letzten Jahren zwangsläufig an Umfang gewonnen. In seinem Leben vertraute sich der Gerd immer seinen seriellen Ehefrauen an und ließ sich von ihnen leiten. Mit seiner jetzigen Frau, 26 Jahre jünger, ist er seit sechs Jahren verheiratet. Sie konserviert ihn, hält ihn auf Diät, kauft ihm Klamotten.Nie war der Gerd besser gekleidet, wie auf Instagram zu bewundern ist.

Frisch und fesch geht der Gerd seinem 80. Geburtstag entgegen. Der Sonntag ist der Familie vorbehalten, zu der auch die beiden russischen Adoptivsöhne gehören. Freunde und Weggefährten hat Schröder dann für Ende April ins „Borchardt“ eingeladen.

Auch so ein Fall von typisch Schröderscher Sturheit: Das Restaurant ist das Muss für alle, die Rang und Namen in der Hauptstadt haben und gesehen werden wollen. Und selbstverständlich werden nicht nur Boulevard-Journalisten genau beäugen, wer eingeladen ist (Frank-Walter Steinmeier?) und wer nicht, wer kommt (Joschka Fischer?) und wer nicht.

Dem Gerd wird beides gefallen, die Feier und die Aufregung drum herum.

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Treiber und Getriebener

Der Krieg im Nahen Osten hat viele Facetten und unterschiedliche Perspektiven. Heute wollen wir uns anschauen, wie die Supermacht Amerika auf diese Region blickt und auf den Krieg reagiert.

Der Einfluss war schon mal größer. Zuerst zogen sich die USA, nach Anschlägen auf ihre Botschaft, aus dem Libanon zurück; das war 1982.  Dann unternahmen sie, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, die Invasion im Irak im Jahr 2003. Schließlich zog Präsident Barack Obama im Jahr 2012 eine rote Linie für chemischen  Angriffen in Syrien, um sie dann zu missachten.

Die Weltmacht verhielt sich – um es milde zu sagen –  nicht besonders glücklich und schwächte sich in Serie. Autorität erwächst daraus natürlich nicht.

Unter Joe Biden tritt die Supermacht in zweifacher Weise in Erscheinung: als Schutzmacht Israels und als dessen Eindämmungsmacht. Sie schützt sie vor Vergeltungsangriffen, zum Beispiel aus dem Jemen und aus Iran. Und sie schützt Israel vor sich selber, indem sie zu Besonnenheit und Rücksichtnahme im Gaza-Krieg aufruft.

Bidens Geduld mit Israel ist strapaziert, was er unverblümt erkennen lässt. Seine Sätze geraten kürzer und befehlshaft, seit sieben Mitarbeiter der Organisation „World Central Kitchen“ von israelischen Drohnen getötet wurden. Er verlangt nach einer Reihe „spezifischer, konkreter und messbarer Schritte“, um das Leid der Zivilisten im Gaza zu verringern. Nicht ganz zufällig gaben die israelischen Streitkräfte bekannt, dass sie sich aus Chan Junis zurückzögen. Die Stadt gilt als Hochburg der Hamas, aber im Grunde genommen ist ja der ganze Gaza-Streifen eine einzige Hochburg der Hamas.

Der Strom an Mahnungen aus dem Weißen Haus hat sicherlich auch dafür gesorgt, dass die Invasion im Süden des Gaza, die Netanjahu angekündigt hatte, bisher ausgeblieben ist. Der israelische Premier kann sich taub stellen, er kann sich über Wünsche oder Empfehlungen aus den USA kaltblütig hinwegsetzen, doch auch seine Harthörigkeit hat Grenzen.

Das Verhältnis zwischen Israel und den USA in Zeiten von Biden und Netanjahu ist hochgradig ambivalent. Der treibende Faktor ist Netanjahu, für den der Krieg eine politische Überlebensstrategie darstellt. Die Angriffe der israelischen Kampfjets auf die Infrastruktur der Hisbollah im Libanon nehmen an Intensität zu. Dazu kommt der Anschlag auf die iranische Botschaft in Damaskus, bei dem mehrere Kommandeure der Al-Quds-Brigaden, einer paramilitärischen Eliteeinheit, getötet wurden.

Es gab ja immer die Gefahr, dass der lokale Krieg im Gaza in einen großen Krieg in der ganzen Region mündet. Wie zu erwarten war, ergossen sich Racheflüche aus Teheran, die durchaus ernst zu nehmen sind. Deshalb stehen die israelischen Streitkräfte unter höchster Alarmbereitschaft, genauso wie die US-Stützpunkte in Katar und den Emiraten, in Syrien wie dem Irak. Allerdings scheint das Mullah-Regime nicht an einer Verschärfung der Lage in der Region zu liegen. Die Drohungen richten sich „nur“ gegen israelische Botschaften im Ausland – dosierte Rache, nennen sie das in dieser Region.

Netanjahu ist der Treiber, Biden der Getriebene. Das Verhältnis versucht der amerikanische Präsident nun umzudrehen. Aber Amerikaner haben ja einen Sinn für Duelle, wobei nicht immer der auf dem Papier Stärkere siegt.

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Ein Krieg, der sich im Kreise dreht

Der Krieg im Gaza dreht sich im Kreis. Die Verhandlungen über eine Feuerpause samt Gefangenenaustausch sind erneut gescheitert. Die israelische Regierung gibt Feuer frei für eine neue Offensive im Süden. Die amerikanische Regierung ist massiv dagegen, lässt Care-Pakete aus Flugzeugen niederregnen, hat sich im Uno-Sicherheitsrat der Stimme enthalten und ließ somit eine Resolution „für eine sofortige und dauerhafte Waffenruhe“ passieren.

Benjamin Netanjahu beschwört nach wie vor, die Führung der Hamas zu töten. Diesem Ziel ist die Befreiung der Geiseln untergeordnet. Ungefähr 100 von ihnen sind seit dem 7. Oktober Gefangene der Hamas – Stand heute sind seither 177 Tage vergangen. Die Angehörigen verzweifeln daran, dass die Aussicht auf Heimkehr von Tag zu Tag sinkt. Dafür machen sie die Regierung verantwortlich, zu recht.

Damit sich nicht auch meine Argumentation im Kreise dreht, versuche ich heute ein Resümee aus größerer Distanz zu ziehen. Die Grundfrage lautet, was eigentlich daraus folgt, wenn wir beklagen, dass dieses militärische Vorgehen der israelischen Streitkräfte inhuman geworden ist. Gibt es eine Alternative, um die Hamas zu besiegen, eine andere militärische Strategie, ohne so viele zivile Opfer?

Dass die Hamas nach diesem Krieg nicht mehr im Gaza herrschen soll, ist unbenommen. Dass es nicht sinnvoll wäre, wenn Israel dort dauerhaft als Besatzungsmacht aufträte, wie es Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beabsichtigt, ist auch so gut wie unbenommen. Ohnehin sehen die Regierungen in den USA, Frankreich und vielleicht sogar heimlich in Deutschland mittlerweile Netanjahu als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung. 

Momentan durchkämmen israelische Soldaten den Untergrund zweier Krankenhäuser im Gaza. Ohnehin liegen die Schlachtfelder in den Tunneln, welche die Hamas grub. Das Prinzip ist seit dem Vietnam-Krieg bekannt, denn auch die Vietkong entzogen sich dem Zugriff der US-Bomber und -Truppen unterirdisch.

Vor dem Krieg, so schrieb die „New York Times“, hätten die Israelis die Tunnels auf rund 160 Kilometer geschätzt. Die Hamas habe sich gebrüstet, die Strecke sei viel größer „und jetzt erweist sich, sie hatte recht“, schreibt das Blatt. Neue Berechnungen belaufen sich auf 550 bis 800 Kilometer unter der Erde. Dort lebt die Hamas, dort hält sie die Geiseln fest, dort sind ihre Waffenlager, dort baut sie Raketen und dort bewegt sie sich wie Fische im Wasser.

Die wichtigsten militärischen und strategischen Objekte liegen unter Krankenhäusern oder Schulen, soviel ist klar. Die Vietkong hatten das Tunnelsystem erfunden. Die Hamas aber haben es auf beispiellose Weise ausgebaut und nutzen es konsequent für ihren asymmetrischen Krieg gegen Israel.

Vermutlich kostete der Bau dieses Netzwerkes tief in der Erde eine Milliarde Dollar. Die vielen Millionen, die aus Europa und den Golf-Staaten nach Gaza flossen, wurde zum größeren Teil in diese Infrastruktur investiert, anstatt in Schulen oder den Aufbau von Industrie und Wirtschaft. Die Serverfarm, das digitale Rechenzentrum der Hamas, befindet sich zum Beispiel unterhalb der Büros des Uno-Flüchtlingswerks befunden. 

Die Kämpfer der Hamas sind unten und kämpfen von dort. Die Israelis sind oben. Zwischen denen dort oben und denen unten sind die Zivilisten hilflos ausgeliefert. Je mehr von ihnen sterben, desto besser ist es für die Sache der Hamas, da sich die öffentliche und auch die politische Meinung im Westen dreht, das ist die zynische Logik.

Für die Hamas liegt das Optimum darin, dass Israel, isoliert in der Welt, den Krieg beenden muss. Für Israel liegt das Optimum in der Ausschaltung der Hamas als politischer Kraft im Gaza.

Ist die israelische Strategie erfolgreich? Weniger als die Hälfte der Tunnel sind zerstört. Die israelischen Streitkräfte behaupten, sie hätten knapp die Hälfte der 30 000 Hamas-Kämpfer ausgeschaltet – getötet oder gefangengenommen. Taktisch gesehen ist das keine schlechte Bilanz. Politisch betrachtet, sieht es anders aus.

Der Blickwinkel hat sich vor allem in den USA verändert. Joe Biden, ein überzeugter Freund Israels seit einem halben Jahrhundert, hat die Geduld verloren und wendet sich entschieden gegen die Regierung Netanjahu. Äußerungen von Emmanuel Macron schlagen in dieselbe Richtung. Selbst Außenministerin Annalena Baerbock hat den Ton leicht verschärft.

Die Frage lautet also: Kann Israel die Hamas im Krieg unter Vermeidung vieler ziviler Opfer ausschalten? Gibt es eine militärische Strategie, die aus der politischen Isolation herausführt? 

Eine notwendige Alternative ist der Aufhebung der Hungerblockade. Es ist schon erstaunlich, wie wenig Netanjahu und seine nationalreligiösen Koalitionspartner in Verlegenheit geraten, wenn Jordanien und die USA Gaza aus der Luft versorgen und dazu an einer Seebrücke arbeiten.

Eine andere militärische Möglichkeit besteht darin, gezielter gegen die Anführer der Hamas vorzugehen. Dafür wären weitaus weniger Soldaten nötig. Momentan sind ohnehin nur noch rund 50 000  im Gaza im Einsatz. Die Voraussetzung ist der Verzicht auf eine Bodenoffensive in Rafah, die sicherlich ein neues Blutbad unter Zivilisten anrichten würde.

Eine weitere Option wäre der Übergang von Krieg auf gezielte Mordaktionen, zumal sich nicht alle bekannten Figuren der Hamas noch im Gaza aufhalten dürften. So ging Israel nach dem Olympia-Attentat 1972 vor. Es dauerte Jahre, bis der letzte Attentäter von Mossad-Agenten umgebracht worden war.

Dass die Hamas bedingungslos kapituliert, glaubt niemand.  Aus ihrer Sicht läuft der Krieg gut und Israel handelt wie kalkuliert. So gesehen, kann es weitergehen wie bisher –  Luftangriffe mit Dutzenden Toten inklusive, natürlich auch mit dem Angriff auf Rafah, wo der israelische Geheimdienst 5000 bis 8 000 Hamas-Kämpfer vermutet.

Eine andere Alternative sähe so aus: Israel beendet den Krieg, begnügt sich mit dem Erreichten und verzichtet auf eine Invasion in Rafah. Diesen Rationalismus verlangt nun der amerikanische Präsident Israel ab. Ist das klug?

Natürlich birgt jede Lösung eigene Tücken. In Gaza könnte ein Machtvakuum entstehen. Die Führung der Hamas könnte überleben, die Vormacht im Gaza behalten und nichts hätte sich durch den Sieg verändert. Kann sich Israel damit zufrieden geben? Sicherlich nicht.

Am besten wäre es, wenn die Regierung Netanjahu erheblich mehr daran setzen würde, die 100 Geiseln frei zu bekommen. Noch besser wäre es, wenn der Ministerpräsident zum Rücktritt gezwungen würde. Sein Nachfolger könnte die Lastwagen mit den Lebensmitteln wieder in den Gaza fahren lassen. Und er könnte die Autorität für eine neue Strategie gegen die Hamas erlangen.

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Darauf kommt es jetzt an

Ralf Mützenich tut sich schwer mit der Rechtfertigung für seinen Satz, dass der Krieg in der Ukraine „eingefroren“ werden sollte. Man könnte auch sagen, der SPD-Fraktionsvorsitzende weicht ins Sachliche aus, obwohl es ihm gar nicht um die Sache geht, sondern um Moral, und die Adressaten weder Putin noch Selenskji sind, sondern die Sozialdemokraten.

Die SPD wäre auch diesmal lieber moralisch gesonnen und damit gegen den Krieg. Also ist sie beides, sowohl dagegen als auch dafür. Die goldene Mitte verkörpert Olaf Scholz, der sowohl für die weitreichende Unterstützung der Ukraine ist als auch gegen die Lieferung des Taurus-System.

In Deutschland ist die Debatte noch nicht so weit gereift, wie sie es in der Ukraine und Russland, in Israel und im Gaza notgedrungen längst ist. Dort stellt sich tiefenscharf die entscheidende Frage: Wer sind wir und was wollen wir?

Die Ukraine will ein Land aus eigenem Recht sein, das sich seine Verbündeten selbständig aussucht. Sie kämpft um ihre Identität und Existenz. Russlands Identität ist aus Sicht ihres Präsidenten durch Gebietsverluste beschädigt und die Restitution des Imperiums, die in der Ukraine beginnt, soll diese schwärende Wunde heilen.

In Israel gibt es so etwas wie Realpolitik eigentlich nicht. Jedes politische Problem ist existentiell ausgerichtet oder wird auf diese Weise verstanden. Der Überfall auf Konzertbesucher in Moskau ist furchtbar, gefährdet aber nicht Russland. Der Überfall auf die Besucher eines Pop-Konzerts am 7. Oktober aber riss einen Abgrund auf und demonstrierte, dass sich der Staat Israel nicht in Sicherheit wiegen darf. Die mittlerweile maßlose Reaktion im Gaza ist ein Spiegelbild dieser existentiellen Angst.

Auch hier stellt sich die Identitätsfrage: Was will Israel sein – eine militante Demokratie, dazu bereit, den Rechtsstaat zu beugen und Expansion in der Westbank zu betreiben, egal was die Verbündeten davon halten? Und wer will Israel sein – ein jüdischer Staat, der Araber wie Menschen zweiter Klasse behandelt und die Zwei-Staaten-Theorie verwirft?

Beide Kriege dauern an und sind von Frieden weit entfernt. Und beide Kriege haben eine Eigenschaft, die Politiker wie Mützenich oder Sarah Wagenknecht und andere übersehen. Denn darüber wird nicht nur auf den Schlachtfeldern entschieden, sondern auch bei den Wahlen, vor allem in Amerika.

Benjamin Netanjahu wie Wladimir Putin spielen auf Zeit. Putin sagte den typischen Putin-Satz, er denke nicht daran, über Frieden nachzudenken, nur weil der Ukraine die Munition ausgeht. Netanjahu gibt zu erkennen, dass er sich nicht um Joe Bidens Einwände gegen die Offensive in Rafah schert und auch nicht um die berechtigten Vorwürfe des Uno-Generalsekretärs über die verhängte Hungersnot über Gaza.

Am 5. November wählt Amerika zwischen Joe Biden und Donald Trump. Eine Alternative im wahrsten Sinne des Wortes. Wahlen entscheiden sich selten in der Außenpolitik, aber diesmal schon. In den Umfragen liegt Biden hinten, weil die Demokraten vor allem über Israel  mindestens genauso gespalten sind wie die SPD. Kann der Präsident seine eigene Partei nicht hinter sich scharen, verliert er die Wahl. Sein Motto lautet jetzt: Demokratie und Rechtsstaat sind in Gefahr, im Ausland wie im Inland.

Trump hingegen unterstützt Israel bedingungslos und stört sich nicht an den Leiden der Zivilbevölkerung im Gaza oder der Expansion im Westjordanland. Verletzungen des Völkerrechts? In Trumps darwinistischer Weltsicht gibt es immer und überall die Starken und die Schwachen und die Starken nehmen sich, was sie wollen.

Bei dieser Wahl steht auf dem Spiel, wer die Supermacht USA sein möchte – ein Garant der Demokratie oder eine isolationistische Macht, der die Ordnung in den internationalen Beziehungen gleichgültig ist? 

Natürlich schauen wir Deutschen atemlos zu, was dort drüben vor sich geht. Dabei sollten wir allerdings unsere eigenen Wahlen nicht aus den Augen verlieren. Gewinnt die europäische Rechte bei der Europa-Wahl im Juni eindeutig, wird das Rückwirkungen auf das Klima in Deutschland wie Frankreich haben. Gewinnt die AfD bei den drei ostdeutschen Wahlen ähnlich eindeutig wie prognostiziert, ändern sich auch die innenpolitischen Verhältnisse mit Auswirkungen auf die Außenpolitik.

Einige Fragen nach unserer Identität könnten sich dann stellen, denen wir eigentlich nicht ausgesetzt sein wollten – zum Beispiel diese: Sollten wir nicht die Bundeswehr schnell aufrüsten, anstatt Munition, Panzer und Raketen an die Ukraine zu liefern, die den Krieg gegen Russland eh nicht gewinnen kann? Oder: Ist es nicht besser, Trump entgegen zu kommen, damit die USA nicht Europa den Rücken kehren?

Wir leben in explosiven Zeiten und da ist es nicht einfach, Haltung zu bewahren. Wer man sein will, ist eben auch für Länder eine Charakterfrage. Im Jahr 2024 müssen wir wohl ein paar Antworten geben. 

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Das ist nur logisch

Adidas muss ab 2027 ohne die Nationalmannschaft klar kommen. Der eher biedere DFB erlag dem großzügigen Angebot von Nike und hofft jetzt darauf, dass die Zeit die Wunden heilt, in Herzogenaurch und den Fan-Kurven.

Es begab sich aber zu der Zeit, als Nike im Städtchen Beaverton noch eine kleine Klitsche war, dass ein junger Sportler gegen seinen Willen mit den Eltern anreiste. Der junge Mann besaß eine Vorliebe für Adidas und hätte viel lieber Schuhe mit den drei Streifen getragen, aber er gehorchte und damit war sein Schicksal besiegelt, ein ungeheuer reicher Mann zu werden.

Der Junge hieß Michael Jordan und spielte im Jahr 1984 seine erste Saison bei den Chicago Bulls. Nike entwickelte einen maßgeschneiderten Schuh für ihn, den sie „Air Jordan“ nannten. Das erste Paar, das Jordan getragen hatte, wurde im Jahr 2020 für 560 000 Dollar ersteigert.

Man muss sich kurz mal durch den Kopf gehen lassen, Michael Jordan hätte sich damals gegen seine Eltern durchgesetzt und einen langjährigen Vertrag mit Adidas abgeschlossen. Hätte Adidas genauso viel Phantasie wie Nike gehabt und alles auf MJ gesetzt? Wäre Adidas dann ebenso schnell zu einem globalen Weltkonzern aufgestiegen?

Im Jahr 1984 war Adidas ein braves Familienunternehmen aus Herzogenaurach, dem der Kult um eine einzige lebende Person fremd war. Fußball war schließlich ein Mannschaftssport. Adidas war damals wie Deutschland: auf Tradition bedacht, aufs Heimische konzentriert, stolze Provinzialität. Eine deutsche Marke für deutsche Sportler.

Michael Jordan mag 1984 an Adidas gedacht haben, nicht aber Adidas an Michael Jordan, der heute noch als bester Basketballer aller Zeiten gelten darf. Übrigens spielte MJ der Klitsche oben in Oregon schätzungsweise zweieinhalb Milliarden Dollar ein.

So blieb Adidas eine Kulturrevolution erspart und fixierte sich auf die Symbiose mit der deutschen Fußballnationalmannschaft. 1954 wurde Adidas Weltmeister, weil Helmut Rahn mit den drei weißen Streifen die entscheidenden Tore schoß. Ist Franz Beckenbauer in Nike-Schuhen denkbar? Genau.

Adidas ist übrigens ein Kunstname, der sich aus dem Vornamen Adolf ableitet. Adolf Dassler wurde Adi genannt, weil der volle Name Adolf anderweitig besetzt war. Die zweite Silbe ist die Abkürzung seines Nachnamens. Ist in Ordnung, konnte man so machen, damals gleich nach dem Krieg, ist aber auch ein bisschen schlicht, oder?

Hinter Nike steht mehr Gedankenarbeit. Nike ist der Name der griechischen Siegesgöttin, den sich Phil Knight, ein Mittelstreckenläufer und Firmengründer, einfallen ließ. Das Logo mit dem berühmten Swoosh bedeutet den Flügel der Göttin. Die Studentin Carolyn Davidson ließ ihn sich einfallen und bekam dafür sage und schreibe 35 Dollar.

Heute ist Nike ein globaler Gigant mit einem Umsatz von 37,4 Milliarden Dollar. Nike erfand Schuhe als Lebensstil, als Statement, als Kulturgut. Adidas schrammte an Pleiten vorbei, erfand sich neu und setzte im vorigen Jahr 21,4 Milliarden Euro um. 

Natürlich hat der DFB Dollarzeichen in den Augen und man kann’s ihm gar nicht verdenken. Die DFL hätte nur zu gerne die Tore für Investoren geöffnet, durfte aber nicht. Die 50 + 1-Regel scheint in Eisen gegossen zu sein. Kapitalismus in Reinkultur hat in England und Amerika Tradition, nicht aber hier bei uns. Der DFB versucht’s eben mal und schaut, was passiert. Bis 2027 ist ja noch weit hin.

Ob jetzt auch wieder Fan-Proteste durch die Stadien fegen und Spiele lahm legen? Glaub’ ich nicht. Wahrscheinlich ist es nicht ganz so wichtig, ob Sané, Kimmich und Gündogan an ihren imposanten rosanen, güldenen, blauen oder gelben Tretern drei Streifen oder das Swoosh haben. Die Hauptsache ist doch, wir werden Europameister. Oder kommen wenigstens ins Halbfinale. Oder wäre nicht das Viertelfinale schon ein bemerkenswerter Erfolg?

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Der alles persönlich nimmt

Man kann sich natürlich fragen, was sie eigentlich sollte, diese Scheinwahl, die offensichtlich nur einer ernst nahm, nämlich Wladimir Putin, so ernst, dass er seinen ärgsten Widersacher Alexej Nawalny aus dem Weg räumen ließ, zuerst in den Permafrost und dann in den Tod.

Man muss sich auch fragen, was in Putins Gemüt vor sich geht, dass er zu solchen Mitteln greift, um zu gewährleisten, dass dieser Akt der Scheindemokratie keine Störung erfährt. Anscheinend nimmt er alles persönlich. Widerworte führen ins Gefängnis, Opposition ins Straflager. Infragestellung ist tödlich. Rache erstreckt sich bis London oder in den Berliner Tiergarten. Vor Nawalny bezahlte Anna Politkowskaja ihre journalistische Arbeit mit dem Leben. Auch sie sollten wir nicht vergessen.

Wladimir Putin zieht eine Blutspur nach sich, wo immer ihn seine Paranoia hin treibt. Darin liegt die Gemeinsamkeit seiner bislang vier Amtszeiten und auch in den nächsten Jahren dürfte sich daran nichts ändern. Tschetschenien, zehn Jahre lang Krieg. Georgien im Sommer 2008. Die Ukraine, Kriegsschauplatz seit mehr als zwei Jahren. Aus dem Mann, der im Herbst 2001 im Bundestag eine Rede hielt, in der er den Kalten Krieg für unabänderlich beendet erklärte, ist ein Mann geworden, der auf einen Rachefeldzug gegen den Westen zieht, der vermutlich so lange anhalten wird, wie er die Macht inne hat. 

Man sollte sich auch fragen, ob sich ein Land Russland demokratisch regieren läßt, zumal Demokratie hier keine Tradition besitzt. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums gab es unter Boris Jelzin ein flüchtiges Experiment mit Reformen nach kapitalistischem Muster mit Liberalisierung, Privatisierung und Marktwirtschaft. Der Preis waren politische Instabilität und Inflation.

Der junge Mann, dem Jelzin im Jahr 1999 Russland zur Stabilisierung der Verhältnisse anvertraute, hieß Wladimir Putin. Den Auftrag nahm er so ernst, dass er nach und nach eine Diktatur über Russland verhängte. Diktaturen haben hier seit den Zaren Tradition.

Boris Jelzin ist heute genauso wie Michail Gorbatschow vergessen, wenn nicht verfemt. Aus Sicht Putins tragen sie die Schuld am Untergang der ruhmreichen Sowjetunion. Die größtmögliche Demütigung widerfuhr Putin im Jahr 2014 durch Barack Obama, der Russland als Regionalmacht abtat.

Demütigungen können anspornen. Der Gedemütigte kann sich dazu berufen fühlen, es der Welt zu zeigen, vor allem dem Demütiger. Putin, der in einer Dokumentation freimütig davon erzählte, wie er als Kind gemobbt wurde, und wie beengt die Familie in der Einzimmerwohnung zurecht kommen musste, ist ein Kenner von Demütigungen, die er heimzahlt, wo er nur kann. Die Besetzung der Krim und des Donbas im Jahr 2014 waren als Anfang der Reconquista gedacht.

Obama hatte Recht und Unrecht zugleich. Russland ist mehr als eine Regionalmacht, aber auch keine Weltmacht wie im Kalten Krieg, denn diese Zeit ist unwiederbringlich vorbei, auch wenn Putin diese Tatsache nicht akzeptiert. Russland ist ein Zwischending in der Weltpolitik, die im Umbruch steht, ein Hybrid.

Putin nutzt jedes Vakuum, das sich irgendwo auf dem Erdball eröffnet, sei es in Syrien oder im Sudan, in Libyen oder Mali. Irans Atompolitik hängt von Russland ab und auch Nordkorea braucht dessen Unterstützung. Russland sucht Einfluss dort, wo Amerika sich zurückzieht, freiwillig oder unfreiwillig, genauso wie dort, wo Frankreich seinen Einfluss verliert, zum Beispiel in Afrika.

Konsequent ist diese Außenpolitik, das schon, aber ist sie auch konsistent genug für Putins übergroße Ambitionen? Im Hintergrund steht immer und überall eine weitaus größere Macht, ein anderer Diktator mit imperialem Anspruch, den er militärisch, politisch und ideologisch untermauert: China unter Xi Jinping.

Für China ist Russland nützlich. Russland schmäht den Westen und droht mit weiteren Kriegen zur Beruhigung der Phantomschmerzen. So lange die USA sich in der Ukraine – und im Nahen Osten – engagieren müssen, so lange können sie sich nicht auf Asien konzentrieren, wovon sie schon seit zehn Jahren reden.

Nur aus diesem Grund behandelt China das real existierende Russland mit Vorzug. Denn in Wahrheit ist Russland für China das abschreckende Beispiel dafür, welche Konsequenzen ideologische Lethargie und ökonomische Schwäche nach sich ziehen – den Zusammenbruch eines Imperiums. Von der untergegangenen Sowjetunion lernen, heißt Stärke unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu bewahren, egal was der Rest der Welt darüber denkt. Und Russland ist, mit chinesischen Augen betrachtet, eine Resterampe mit bemerkenswerten Illusionen.

Nach erfolgreich manipulierter Wahl geht Wladimir Putin nunmehr in seine fünfte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation. Nicht anders als zuvor wird er handeln und sich verhalten, darauf ist Verlass.

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Wenn Vorsicht in Schikane übergeht

Amerika baut einen provisorischen Hafen vor Gazas Küste, der über einen Damm mit dem Festland verbunden werden soll. Dort kommen dann Schiffe an, löschen ihre Ladung, die per Lastwagen aufs Festland gebracht werden. Die Konstruktion der Seebrücke dürfte zwei Monate dauern.

Bis es soweit ist, gibt es eine Zwischenlösung. Schiffe mit Hilfsgütern sollen in Zypern losfahren. Momentan wartet dort ein Schiff mit 200 Tonnen an Reis, Mehl und Proteinen auf Genehmigung für das Ablegen. Da der einzige Hafen in Gaza nicht genug Tiefgang besitzt, muss die Fracht auf kleinere Boote umgeladen werden. Dieses Vorhaben unterstützen die Vereinten Arabischen Emirate und Großbritannien, Deutschland will sich daran beteiligen.

Allzu lange haben etliche Regierungschefs und auch die Uno darauf hingewiesen, dass Menschen im Gaza an Hunger leiden, dass ihnen das Nötigste fehlt, dass die Krankenhäuser dringend Medikamente und Apparate brauchen. Es stimmt ja auch, nach Maßgabe des Völkerrechts ist die Besatzungsmacht dazu verpflichtet, die Versorgung der Zivilbevölkerung zu gewährleisten. Die Besatzungsmacht ist in diesem Fall Israel. Zuerst riegelte sie den Streifen an der Küste vollkommen ab. Seither lässt sie über zwei Grenzübergänge bedingt Hilfe passieren.

Die israelische Armee kontrolliert die Lastwagen peinlich genau. Die Vorsicht ist nach dem Massaker vom 7. Oktober verständlich, es könnten ja auch Waffen geschmuggelt werden. Weshalb aber die Soldaten zum Beispiel Schlafsäcke und Zeltstangen zurückweisen, bleibt ein Rätsel. Genauso wenig dürfen Beatmungsgeräten und Wasserfilter durch. Die Vorsicht geht, wie es scheint, in Schikane über.

Besonders der amerikanische Präsident Joe Biden wird nicht müde, begütigend auf Premierminister Benjamin Netanjahu einzureden. Nun fordert er ihn dazu auf, auch den Grenzübergang Erez im Norden Gazas zu öffnen. Momentan fahren wenig mehr als 100 Lastwagen mit Hilfsgütern hinein. Das ist viel zu wenig für die zwei Millionen Einwohner. Viele von ihnen hungern, etliche Kinder sind schon an Unterernährung gestorben.

Im Netz kursiert das erschütternde Foto, auf dem Yazan Kafarneh, ein zehnjähriger Junge, in einem Bett liegt, angeschlossen an ein Infusionsgerät. Sein Kopf ähnelt einem Totenschädel, weil die bleiche Haut sich kaum noch über Wangen, Nase und Stirn wölbt. „Sein Fleisch ist eingefallen und geschrumpft, das Leben beschränkt sich auf wenig mehr als eine dünne Maske vor dem nahenden Tod,“ schrieb die „New York Times“, die sein Sterben mit Einverständnis der Eltern begleitete. „Die Bilder, die Yazan zeigen, zirkulieren in den sozialen Medien und machen ihn zum Gesicht des Hungertods in Gaza,“ schreibt das Blatt.

Ich habe schon am vorigen Montag über Leiden und Sterben im Gaza geschrieben und angemerkt, dass Kriege sich wandeln. Dass Israel nach dem Massaker am 7. Oktober gegen die Hamas mit aller Härte vorging, war verständlich. Mittlerweile ist jedoch die Zivilbevölkerung die Hauptleidtragende in diesem Krieg. Mehr noch ist die Hungerblockade ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ein Leser schrieb mir daraufhin eine lange Mail mit kritischen Bemerkungen. Er bezweifelte, dass 30 000 Zivilisten gestorben sind und monierte vor allem eine bestimmte Haltung: „Was mich aber bei all diesen Artikeln stört, die immer wieder das Leid der Palästinenser in Gaza uns näherbringen wollen, ist die Unterschlagung der zumindest theoretischen Möglichkeit, dass die Hamas mit weißen Fahnen aufgibt, ihre Waffen niederstreckt und sich den Israelis  ausliefert.“

Es stimmt, das wäre am besten. Dann wäre der Hunger, der Schrecken und das Leid vorbei. Vielleicht gibt es sogar Versuche, Ismail Haniyya, den Anführer der Hamas im Gaza, zur Aufgabe zu bewegen. Aber ernsthaft glaubt niemand daran, dass Haniyya und die anderen militärischen Anführer klein beigeben. Der Krieg ist ihr Leben, die Vernichtung Israels ihr Ziel. Dafür opfern sie eben auch Zehntausende Männer, Frauen und Kinder im Gaza. Und Bilder wie die vom sterbenden Yazan sind ihr zynisch willkommen, weil sie dort draußen in der Welt Mitleid bewirken.

Der Nahe Osten ist eine Region getränkt mit Hass, mit Tod, mit Leid. So wie du mir, so ich dir und zwar noch schlimmer, das ist die bittere Logik, die sich in wirklichkeitsgesättigten Serien wie „Fauda“ widerspiegelt. Fauda heißt auf Deutsch übrigens Chaos. Chaos ist der Leitfaden für diese Weltgegend.

Zur Wahrheit gehört, dass die Palästinenser im Nahen Osten nur eine politisch dienende Rolle spielen – für den Iran. Denn an der Besserung der herrschenden Verhältnisse für die Menschen gibt es weder für die Hamas noch für die Hisbollah im Libanon noch anderswo in dieser Region großes Interesse.

1947, als Israel gegründet wurde und der Krieg mit der Vertreibung Hunderttausender Palästinenser endete, standen Saudi-Arabien und die Emirate am Golf oder Jordanien noch nicht einmal am Anfang ihrer erstaunlichen Entwicklung. Seither aber sind Saudi-Arabien oder Abu Dhabi oder Dubai oder Katar zu gewaltigem Reichtum gelangt und kaufen verschwenderisch ein, was es anderswo gibt, Taylor Swift und die Fußballweltmeisterschaft inklusive.

Die Palästinenser aber leben zu Zehntausenden immer noch in Flüchtlingscamps und sind der Hamas und der Hisbollah ausgeliefert, die sich nicht um Wohlfahrt scheren, sondern auf ihren militärischen Kampf zur Vernichtung Israels fixiert sind. 

Und Israel? Benjamin Netanjahu macht sich wenig aus den Mahnungen aus Washington oder New York, aus Paris, London und Berlin. Irgendwann mag er den Krieg im Gaza zum durchschlagenden Erfolg erklären, was aber mit Vorsicht zu genießen sein wird. Denn in Israel erwartet man, dass Netanjahu dann gegen die Hisbollah im Libanon vorzugehen gedenkt. Denn solange Krieg herrscht, bleibt er unantastbar.

Der Nahe Osten ist harthörig, resistent gegen Aufrufe zu Frieden und Besinnung. Mit Menschlichkeit dringt man hier nur schwerlich durch. Gerade deshalb ist es ein Segen, dass Amerika unter Joe Biden eine Seebrücke gegen den Hunger bauen lässt. Und wir können nur hoffen, dass ihn dieser Akt der Humanität nicht um die Wiederwahl bringt.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.