Mich beschäftigt schon länger ein seltsames Phänomen der europäischen Politik. Es betrifft die Herren Emmanuel Macron, Keir Starmer und Friedrich Merz. Sie sind einerseits unentbehrlich und stehen andererseits vor dem Abgrund.
Unentbehrlich sind sie im internationalen Konzert der Kräfte. Dabei arbeiten sie sogar ungewöhnlich gut zusammen und zwar auch noch im übergeordneten Interesse. Ohne dieses Trio wäre die politische und militärische Unterstützung für die Ukraine abgeebbt. Ohne sie hätte Donald Trump nicht eingesehen, dass Wladimir Putin ihn zum Narren hält. Ohne sie wäre die Europäische Union nicht daran gegangen, sich für den Eventualfall zu rüsten.
Am Abgrund stehen diese Drei im eigenen Land. Sie leiden unter einem Mangel an Popularität. In Grossbritannien wie Frankreich wie Deutschland ist es schwer bis unmöglich, nötige Reformen durchzusetzen. Hier wir dort haben ziemlich viele Wähler ihre Wertschätzung für die Demokratie eingebüßt. In allen drei Ländern warten autokratische Figuren auf die Gelegenheit, an die Macht gewählt zu werden.
Emmanuel Macron ist ein Auslaufmodell. Im April 2027 wird sein Nachfolger gewählt. Frankreich besitzt zwar Übung darin, die Rechte aus dem Elysée-Palast fern zu halten. Diesmal aber läuft sich Jordan Bardella warm, der dann 30jährige Jungstar der Nationalen Sammlungsbewegung. Marine LePen darf nicht antreten, was unerfreulich für sie sein mag, aber für die Partei gut, weil Bardella deren neues Gesicht ist; ihm hängt die faschistische Vergangenheit der Familie Le Pen nicht wie Schwefelgeruch an.
Der Erdrutschsieg der Labour Party, der Keir Starmer zum Premierminister machte, liegt erst 16 Monate zurück. Er ist kein Charismatiker, aber wer in Europa besitzt schon diese Gabe. Deshalb aber mosert seine Partei jetzt schon an ihm herum. Diese Tradition teilt sie mit der SPD, die immer auch unglücklich ist, wenn sie regieren muss.
Die Alternative zu Starmer ist nach derzeitigem Stand Nigel Farage. Er hatte die Brexit-Kampagne angeführt, verschwand in der Versenkung und ist jetzt wieder da. Er muss jetzt ganz schnell sagen, was er will, denn groß ist er nur im inbrünstigen Nein zur Immigration.
Friedrich Merz ist ein halbes Jahr im Amt. Er selber ist unpopulär, seine Partei auch; sie liegt nur noch knapp vor der AfD. Das Echo, das ihm entgegenschallt, ist das große Ja-Aber.
Ja, außenpolitisch macht er es gut, aber innenpolitisch macht er es nicht gut. Ja, der Handelskrieg zwischen China und den USA schwächt die deutsche Wirtschaft, aber er hat doch einen baldigen Aufschwung versprochen. Ja, es ist richtig, die Bundeswehr aufzurüsten, aber Wehrpflicht kommt nicht in Frage.
Von der Ampel-Regierung, angeführt vom stillen Olaf Scholz, sind wir die Selbstvergessenheit der Regierung gewohnt. Die Union geführte Koalition mit der SPD leidet unter zweierlei Selbstvergessenheit.
Erstens die SPD: Die interne Bewegung gegen die Reform des Bürgergeldes, organisiert von einer ehemaligen Juso-Vorsitzenden, ist die neueste Variante der Opposition in der Regierung. Lars Klingbeil schaut noch schweigend zu, als ginge es um nichts. Geht es aber, etwa um Glaubwürdigkeit von Partei und Regierung.
Zweitens die organisierten und unorganisierten Moralisten: Die Kreuzberger Grünen erstatten Strafanzeige gegen den Bundeskanzler wegen Rassismus bei seiner Bemerkung über das Stadtbild. Die Zeitungen schicken Reporter in die Städte, unter anderem nach Düsseldorf, die mal schauen sollen, wie die Wirklichkeit aussieht.
Schon richtig, dass die Formulierung eher wirr als klar ausfiel und Abschiebungen eigentlich nichts mit dem Stadtbild zu tun haben. Immerhin löste nach der ersten Empörungswelle die Diskussion das eine vom anderen. Das ist ehrenwert. Und dass es dauerhafte Problemzonen in den Städten gibt, die unabhängig von der Ausweisung von Immigranten sind, ist ja kein Geheimnis.
In den Ruhrgebietsstädten häufen sich die Schwierigkeiten aus historischen Gründen jeweils im Norden. Die Empörung über Merz’ irritierende Formulierung hält sich dort denn auch in Grenzen. Im Übrigen lassen sich die Problemzonen nicht ethnisch aufteilen. Einfach mal Rassismus zu unterstellen, kommt politisch bei der eigenen Blase gut an, aber die Probleme liegen tiefer. Die Merz-Verächter haben nicht zufällig keine Studie über die Sozialstruktur der Städte zur Hand. Denn Verwahrlosung und Unachtsamkeit als strukturelles Problem wäre das Ergebnis.
Berlin ist auch politisch jederzeit für Exzentrisches zu haben. Der Senat lässt jetzt eine Million Bäume pflanzen. Kann man nichts dagegen haben, denkt man sich. Finanziert werden soll die Begrünung aber aus dem Sondervermögen der Bundesregierung. Die vielen Milliarden Euro sind eigentlich dazu da, Schulen zu sanieren, Brücken zu reparieren etc. – für die angeschlagene Infrastruktur.
Der nationale Aufschrei über die Berliner Zweckentfremdung ist ausgeblieben. Warum eigentlich? Weil die Idee nicht von Friedrich Merz stammt? Weil in Berlin eh alles egal ist?
Nehmen wir noch einen kurzen Blick ins Innere der Demokratie, dem Parlament. Schon vergessen, dass Merz zwei Wahlgänge brauchte, um Kanzler zu werden? Wer hat da wohl sein Mütchen gekühlt? Die Grünen sind gottfroh, dass sie vom Regieren erlöst sind. Endlich dürfen sie mal wieder Fundamentalopposition sein.
Ich halte wenig von Vergleichen zwischen der Gegenwart und der fernen Vergangenheit, zum Beispiel der Weimarar Replik. Es genügt der gesunde Menschenverstand, um zu wissen, dass es nicht gut gehen kann, wenn sich die demokratische Mitte gegenseitig bekämpft, wenn die regierende Koalitionen lahmt und die selbstvergessenen Wähler den Antidemokraten zulaufen.
Die AfD hat keine charismatische Figur und braucht sie auch nicht. Sie meint, was sie sagt – Deutschland zuerst, raus aus der Europäischen Union, Aussöhnung mit Russland. Und natürlich soll eine Autokratie an der Stelle der Demokratie treten. Ist das wirklich in naher Zukunft die gewünschte Alternative?
Weder in Großbritannien oder Frankreich oder Deutschland hat die Demokratie noch ein festes Fundament. Aber die Wähler in allen drei Staaten sollten sich rechtzeitig überlegen, ob es richtig ist, die Demokratie fallen zu lassen.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.