Dr. K., der die Macht so sehr liebt

Vor 100 Jahren, am 27. Mai 1923, wurde in Fürth ein Junge namens Heinz- Alfred Kissinger geboren. Vater Louis unterrichtete Erdkunde und Geschichte am Gymnasium. Die Mutter, Tochter aus wohlhabender Familie, erzog die Kinder Heinz und Walter. Später erinnert sich Henry, wie er sich in Amerika nennt, an eine große Bibliothek, in der er schmökerte, wenn er nicht Fußball spielte, was er mit Hingabe tat, als Torwart oder im Mittelfeld.

Im Jahr 1923 stand Deutschland im Bann von Revolution und Gegenrevolution, vom Zusammenbruch der alten Ordnung und der instabilen neuen. Kissinger war kapp 10, als die Nazis an die Macht gerufen wurden, und 15, als seine Familie emigrierte. Seine Vorliebe für Metternich und das systematische Ordnungsdenken erklären sich biographisch aus diesem frühem Leid. Ein starker, zivilisierter, demokratischer Staat erschien ihm unabdingbar, um die Gesellschaft an Exzessen zu hindern, wie er sie erfahren hatte.

Das Exil für die Familie war Amerika. Für den hochbegabten, blitzschnell studierenden Jungen war es wie eine Traumlandschaft, in der ihm mehr gelang, als er sich vorgenommen hatte. Als Jude in Harvard eine Professur zu bekommen, war in den 1950er Jahren eigentlich nicht vorgesehen. Aber Dr. K., wie sie ihn nannten, war brillant und zog junge begabte Menschen wie ein Magnet an. Um die Teilnahme an seinen internationalen Sommerseminaren rissen sich die zukünftigen Professoren und Chefredakteure aus ganz Europa.

Dr. K. war ein Star. Er wollte nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart verstehen. In der Gegenwart standen sich zwei nuklear hochgerüstete Supermächte feindlich gegenüber und so befaßte er sich mit der Philosophie der Abschreckung zur Vermeidung wechselseitiger Vernichtung. Auch in Helmut Schmidt, seinem späteren Freund, fand er einen begierigen Leser.

Henry Kissinger dachte nicht nur über die Geschichte nach. Ihn drängte es, auch Geschichte zu machen. Wie sich zeigte, liebte er die Macht. Macht war für ihn ein Aphrodisiakum – als Bonmot gemeint, kam es der Wahrheit sehr

nahe. Auch ein demokratischer Staat war zu Exzessen fähig und dafür lieferte Dr. Kissinger als Nationaler Sicherheitsberater des Präsidenten Richard Nixon ein abschreckendes Beispiel.

Nixon kam 1968 an die Macht. Kissinger, der ihn gerade noch verachtet hatte, wurde sein wichtigster Mitarbeiter mit ungewöhnlichen Befugnissen. 1968 hätte es vielleicht die Möglichkeit gegeben, den Vietnam-Krieg zu beenden. Aber das Duo dachte sich eine erstaunliche Logik aus: Um einen ehrenhaften Frieden zu ermöglich, sollte der Krieg eskaliert werden – mit B-52-Bombern, die nordvietnamesische Dörfer auslöschten; mit Napalm, einer Brandwaffe mit dem Hauptbestandteil Benzin, das Menschen wie Fackeln brennen ließ; mit der Ausweitung des Krieges auf das neutrale Kambodscha, ein Bruch mit dem Völkerrecht.

58 000 US-Soldaten starben in diesem Krieg. 3 Millionen Vietnamesen, darunter 2 Millionen Zivilisten, starben. Und wofür? Im geschichtlichen Ringen der freien Welt mit dem Kommunismus, so sahen es Nixon und Kissinger. Ihn ihrer Paranoia trauten die beiden China und Russland, die hinter Nordvietnam standen, die Welteroberung zu. Was für ein gigantischer Irrtum: Vom ersten asymmetrischen Krieg verstand weder der kluge Professor noch der verklemmte Präsident auch nur das Geringste. Deshalb mutet es wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass Dr. K., der den Krieg barbarisch verschärft hatte, für dessen Beendigung den Friedensnobelpreis 1973 erhielt.

100 Jahre ist Dr. K. heute. Er hat sie alle überlebt, seine Gegner, seine Feinde, auch seine Verächter, die ihn zum Beispiel für den Tod Salvador Allendes in Chile 1973 verantwortlich machten. Er ist noch immer neugierig, er reist durch die Welt, er ist gefragt. Im Herbst kommt er nach Deutschland; seine Heimatstadt will ihn zum 100. ehren. Vor kurzem veröffentlichte er wieder einen dicken Wälzer, den er „Staatskunst“ betitelte. Darin beschreibt und beurteilt er die Großen seiner Zeit, von de Gaulle über Adenauer bis zu Lee Kuan Yew, den Begründer Singapurs.

Dem „Economist“ gab er gerade ein Interview, in dem er dafür plädiert, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Der Grund ist interessant, denn ihm geht es nicht um den Schutz vor dem Aggressor Russland, sondern um den Schutz Europas vor Zumutungen, weil dann nämlich die eingebundene Ukraine keine territorialen Forderungen an Russland erheben kann, zum Beispiel auf Reannexion der Krim. Aus Sicht Kissingers sollte die Ukraine nämlich freiwillig auf die Halbinsel verzichten, denn wenn sie es nicht tue, entstehe ein Gleichgewicht der Unzufriedenheit mit inhärenter Instabilität.

Da ist es wieder, das Metternichsche Ordnungsdenken, dem immer auch Macchiavelli innewohnt, für den Moral keine Kategorie war. Dieses Denken passt in unsere Gegenwart, in Europa, im Nahen Osten und in Asien. Und noch immer liebt Dr. K. die Macht, auf die es ankommt. Auf Einladungen ins Weiße Haus ist er wie eh und je erpicht, egal wer dort residiert, Obama oder Trump oder Biden.

Wer 100 Jahre alt ist, hinter dem liegt viel. Was er war und wo er irrte, verliert an Schärfe. Aber an dem großen Vergessen kann einer historischen Persönlichkeit wie Henry Kissinger nicht gelegen sein. Es nähme ihm die Größe.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Endlich wieder der BVB

Wenn es mit einigermaßen rechten Dingen zugehen sollte, wird der BVB heute deutscher Meister und die Südwand explodiert vor Freude und Hingabe. Ich war am Tag, als der BVB zum letzten Mal Erster wurde, im Stadion. Es war der 29. April 2012, drittletzter Spieltag, der Club (Nürnberg) war zu Gast, es stand schnell 2:0 und dann hörte das Spiel auf dem Rasen so gut wie auf. Alles lauschte nach Köln, wo Leverkusen spielte und verlor und damit war der BVB deutscher Meister. Robert Lewandowski, ein aufblühender Mittelstürmer. und Kevin Großkreutz, Klopps Allzweckwaffe schossen die Tore. Zur Erinnerung die Aufstellung: Weidenfeller/Pisczek/Subotić/Hummels/Schmelzer/Bender/Götze/Großkreutz/Gündogan/Kagawa/Lewandowski.

Heute also wieder ein Heimspiel und der Konkurrent spielt wieder in Köln. Ich hätte nichts dagegen, wenn die Spiele wieder so ausgingen wie vor 11 Jahren.

Mir geht es um etwas anderes. Heute sind die Bayern in der Krise, nicht alleine die Mannschaft, sondern der gesamte Verein, weil sie einen Trainer unter falschen Begründungen vom Hof gejagt haben und einen Trainer einstellten, der bald gemerkt hat: Huch, ich finde hier eine instabile Mannschaft vor, der es an Selbstbewusstsein, Moral und Kampfkraft mangelt. Thomas Tuchel ist der beste Beweis dafür, dass sich Brazzo und der Titan geirrt haben, als sie den Nagelsmann für die instabile Mannschaft verantwortlich machten und behaupteten, er hätte die Kabine verloren. Die Mannschaft ist das Problem gewesen und noch mehr zum Problem geworden, weil die Vereinsführung die Spieler überschätzte. Von wegen, bester Kader Europas! Ich hoffe, sie haben gesehen, wie ManCity Real im Rückspiel zerlegt hat. Das beste Spiel, das ich seit vielen Jahren gesehen habe.

Aus einem ähnlichen Grund blieb Borussia Dortmund jahrelang Stabilität versagt. Thomas Tuchel war ein junger, unbequemer Trainer. Er kam nach Klopp. Der BVB verlor vor Tuchels Amtsantritt die Achse Hummels/Gündogan/Mikhytarian. Einfach mal so, ohne adäquaten Ersatz. Dennoch schaffte der BVB nicht nur die Qualifikation für die Champions League, sondern wurde auch noch Pokalsieger. Nebenbei galt es, ein Attentat zu verkraften, was ja auch nicht so einfach ist. Die Mannschaft blieb unter diesem Trainer so intakt wie nur irgend möglich. Dennoch gefiel es Aki Watzke, den Trainer zu entlassen. Danach kamen Bosz/Stöger/Favre. Keine Stabilität im Verein. Die talentierte Mannschaft blieb unter ihrem Niveau, weshalb die Trainer gehen mussten. Dann durfte der junge Edin Terzić ran. Die Mannschaft qualifizierte sich für die Champions League und wurde Pokalsieger. Verdammt gut. Aber leider, leider hatte Aki Witzke längst schon Marco Rose verpflichtet.

Dass Tuchel inkompatibel mit Watzke war (geht ins Theater, spielt nicht Skat, ist einfach nicht Klopp), führte zu einem Fehler. Und Fehler in diesem Geschäft, in der die Psyche der Spieler mindestens so viel ausmacht wie die körperliche Ertüchtigung, haben Langzeitwirkung. Wäre Terzić nicht so ein grundtreuer und grundanständiger Trainer, hätte er eines der Angebote angenommen, die auf ihn eingeprasselt waren. So aber hatte Aki Watzke jemanden im Management, der den glücklosen Rose beerben konnte und wollte. Unverdientes Glück.

Terzić hat vieles richtig gemacht. Can (den ich nicht leiden kann, weil er gerne einen haarsträubenden Fehler pro Spiel macht) reaktiviert. Wolf zum Verteidiger gemacht. Einen meiner Lieblingsspieler, Guerrero, ins Mittelfeld gestellt. Adeyemi und Malen gestärkt. Haller Zeit gegeben. Reus zum Auswechselspieler überredet. Gute Trainer machen gute Spieler besser. Gute Trainer können eine Mannschaft zusammenstellen. Gute Trainer üben sich in Bescheidenheit.

Und gute Geschäftsführer wissen, wo sie warum geirrt haben.

Die Königin unserer Seelen

Die Königin ist tot. Lasst uns trauern und eine Scheibe auflegen oder eine CD reinschieben und dann tobt sie noch einmal über die Bühne, wie sie immer über die Bühne getobt ist, bis in ihr siebtes Lebensjahrzehnt hinein. Diese Explosion an Energie, diese kraftvolle Stimme, die wirbelnden Beine, die fliegenden Haare. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib. Sie gab immer alles und dafür liebte ihr Publikum sie bedingungslos.

Die Texte ihrer Lieder waren reines Leben, hartes Leben. „Private Dancer“ erzählt von einer Frau, die für Geld für geile Männer tanzt, die alle gleich aussehen und keinen Namen haben  – „du denkst an das Geld und du schaust die Wand an“, singt sie um Lakonik bemüht, aber eigentlich ist sie todtraurig. Auch „Proud Mary“ erzählt im Kern die Geschichte einer Frau, die miese Gelegenheitsjobs erledigt und erst die schönen Viertel der Stadt vom Fluss aus sieht, den sie im Dampfer herunterfährt.

Oder „Steamy Windows“: Angeschlagen sind die Fenster im Auto wegen der Körperhitze, die das Pärchen auf dem Rücksitz beim Sex erzeugt. Es ist, wie es ist, sie beschwert sich nicht. Der Mann, ihr Baby, hat kein Gesicht, keinen Namen. Nur seine Körperausdünstung ist erwähnenswert.

„Nice and easy“ ist in diesem Leben gar nichts, allenfalls „nice and rough“. Tina Turners Texte sind einem harten Leben abgerungen und natürlich singt sie Geschichten mit dem Erfahrungsschatz einer schwarzen Frau. 1939 ist sie in der Kleinstadt Brownsville geboren, im tiefsten Tennessee. Der Süden der Vereinigten Staaten vor 83 Jahren: Rassismus pur. Segregation in Schwarz und Weiß. Tina Turner war Mitte 20, als der Präsident, er hieß Lyndon B. Johnson, die Nationalgarde in den obstinaten Süden schickte, damit Frauen und Männer mit ihrer Hautfarbe in weiße Schulen gehen durften, im Bus nicht mehr hinten sitzen mussten usw.

Aus dieser bipolaren Welt rettete sie die Musik. Ein Mann namens Ike Turner hatte seit Jahren eine populäre Band und Anna Mae Bullock, das war Tinas Taufname, durfte zuerst Background singen und dann vorne am Mikrophon Leadsängerin sein. Aus zwei Autobiographien, die unter dem Namen Tina Turner erschienen, wissen wir zur Genüge über Ike Bescheid. Ein Schläger war er. Ein Tyrann.

Mit Ike & Tina Turner ist ein herrliches, bewegendes, aufwühlendes Lied untrennbar verbunden: River deep, mountain high. Die witzige Entstehungsgeschichte ist erzählenswert: Der Produzent Phil Specter, damals eine Größe in Los Angeles (und viele Jahre später als Mörder verurteilt) gab Ike 20 000 Doller, damit er dem Studio fern blieb. 5 Sitzungen brauchte es, 21 profilierte Studiomusiker machten mit, 21 Background-Sängerinnen halfen. Außerdem sprangen im Studio Dennis Hopper und Mick Jagger herum. Es wurde gemischt und gesampelt, bis einer der größten Songs der jüngeren Musikgeschichte auf Platte gepresst war.

Von da an ging es musikalisch bergauf mit Ike & Tina Turner. Sie wurden als Vorgruppe der Rolling Stones gebucht. Sie kamen in die Charts. Sie hatten Erfolg. Aber Tina war zu unglücklich, um den Triumph zu genießen. So unglücklich, dass sie 1976 die Steuerschulden des Gatten übernahm und sich scheiden ließ.

Nun war sie frei, 37 Jahre alt, hatte mehrere Kinder und musste wieder von ganz unten anfangen. Sie spielte vor wenigen Leuten in kleinen Klitschen. Ihre Alben verkauften sich schlecht. Andere wären daran zerbrochen. Frauen hatten es im Geschäft, das Männer beherrschten, ohnehin verdammt schwer. Tina Turner gab aber nicht auf. Und sie traf auf den Manager Roger Davies, der ihr Talent erkannte und aus ihr den umwerfenden Bühnenstar machte, die Königin unserer Seelen.

Erst einmal verschaffte ihr Davies Gastauftritte bei Tom Jones, Rod Stewart, David Bowie. Dann stand sie endlich auf ihrer eigenen Bühne. Knapp zehn Jahre hatte sie von unten nach ganz oben gebraucht. „What’s love got to do with it?“, singt sie jetzt, das Liebeslied einer Frau, die aus Erfahrung vorsichtig ist, denn „who needs a heart, when a heart can be broken“. Der Ton ist neu, die Geschichte ist anders, die Frau, von der Tina singt, denkt über die Liebe nach. Das Lied hat jetzt eine Metaebene. Tina Turner ist nun, eine Frau in ihren Vierzigern, auf dem Höhepunkt ihres Könnens.

Sie geht auf Touren. Füllt große Häuser, große Arenen. Sie geht ins Guiness’ Buch der Rekorde ein, als sie das Maracaña-Stadion in Rio mit 188 000 Zuschauern füllt. Fans hat sie weltweit. Ihre Platten und CD verkaufen sich. Sie trifft einen Mann, Erwin Bach aus Köln, Musikmanager ihrer Plattenfirma, 16 Jahre jünger, aber was soll’s.  In einer buddhistischen Zeremonie heiraten die beiden. Ein Musical über ihr Leben kommt heraus, von ihr autorisiert.

Sie lebt in der Schweiz, sie wird sogar Schweizerin. Aber die Krankheiten nehmen zu. Kurz nach der Hochzeit hat sie einen Schlaganfall. Sie ist nierenkrank; Erwin Bach lässt ihr seine Niere implantieren. An Auftritte ist nicht mehr zu denken.

Heute Abend ist sie gestorben. Wir denken an sie. An das Bühnengewitter! Die Alterslosigkeit! Ihre Stimme! An dieses Leben, das erst spät nicht mehr rough war. Sie bleibt die Königin aus Brownsville, eine große Kämpferin, vor der man sich nur verneigen kann.

Nachschub für den Fleischwolf

Bachmut ist gefallen. Bachmut ist nicht gefallen. Vielleicht fällt die Stadt, die nur noch eine einzige Ruine ist, in den nächsten Tagen, aber wer weiß das schon. 

Den Krieg politisch und/oder historisch einzuordnen, ist einigermaßen seriös möglich. Militärisch ernsthafte Prognosen zu fällen, ist dagegen verdammt schwierig. Bachmut ist erst zum Begriff geworden, seit dort tonnenweise gestorben wird. „Fleischwolf“ sagen die Experten dazu, ein grauenhafter Ausdruck, der aber leider der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Bachmut, sagt man uns aber auch, sei strategisch von keinem besonderen Interesse. Warum also wird dort dermaßen erbittert gekämpft, als ginge es um viel mehr als nur um diese in Trümmer gelegte Stadt, in der im Frieden Salz gewonnen wird und vor kurzem noch 74 000 Menschen lebten und jetzt nur noch 5 000? 

Weil Russland unbedingt einen Erfolg braucht, egal was es an Menschenleben kostet, weil Menschenleben dem Kriegsherrn im Kreml  ohnehin gleichgültig sind. Weil damit der Weg nach Kramatorsk frei würde, die 160 000-Einwohner-Stadt, die allerdings gut gesichert sein soll. Was soll man da glauben?

Kriege sind Fleischwölfe. Kriege fressen ihre Kinder. Kriege kennen keine Moral. Kriegen unterscheiden nicht Wahrheit von Propaganda. Man muss nur nach Syrien schauen, wo Russland an der Seite Baschar al-Assads steht, der seit vielen Jahren einen Krieg gegen seine eigenen Bürger führt. Ohne Russland und Iran wäre Assad längst irgendwo im Exil, so aber nahm ihn die Bruderschaft der arabischen Länder am Golf gerade wieder huldvoll in ihren Kreis auf. Seit 12 Jahren währt dieser Krieg, an dem noch die Türkei, Saudi-Arabien, Katar, die libanesische Hisbollah beteiligt sind und Israels Luftwaffe periodisch Angriffe fliegt.

Im März 2011 begann dieser Krieg. Jetzt neigt er sich dem Ende zu, weil sich die Interessen zweier Staaten verändert haben. Iran und Saudi-Arabien stellen ihre Feindschaft erst einmal ein. Und so könnte nebenbei auch der Krieg in Jemen ausklingen, woran neuerdings Saudi-Arabien gelegen ist.

Verglichen mit dem Nahen Osten ist der Krieg in der Ukraine überschaubar. Hier Russland, versorgt mit iranischen Drohnen und mit Belarus als zweitem Frontstaat. Dort die Ukraine, aufgerüstet vom Westen. Daraus folgt keineswegs, dass der Krieg nicht lange andauern wird. Russland sieht auf absehbare Zeit keinerlei Notwendigkeit, über ein Ende auch nur eine Sekunde lang nachzudenken. Wladimir Putin hat Geduld und kann noch viele neue Rekruten in den Fleischwolf schicken, in welcher Stadt auch immer der Fleischwolf stehen mag. Die Ukraine kämpft mit enormen Beharrungsvermögen um ihre Existenz als Staat. So schnell wird sich an dieser Grundkonstellation nichts ändern.

Wie viele Menschen in diesem Krieg schon gestorben sind, wie viele Kriegsversehrte es gibt, weiß niemand genau. Vielleicht haben die Geheimdienste in Amerika und England dank ihrer Satelliten so exakte Einblicke, wie sie nur haben können. Ansonsten sind Radio, Fernsehen und Zeitungen überall im Westen voller Mutmaßungen, ausgesprochen von militärischen Experten, von denen man den Eindruck gewinnt, dass gelegentlich die Meinung umgekehrt proportional zum verfügbaren Wissen ist. Journalisten sagen dazu: Kenntnis schwach, Stimme heben.

Von der bevorstehenden Offensive sagen die einen: Davon hängt vieles ab, womöglich das Ende des Krieges. Die anderen sagen. Die Offensive kann ja gar nicht die gesamte Front von 1 000 Kilometern Länge betreffen. Deshalb sind vielleicht Durchbrüche da und dort möglich, welche die Moral stärken, die aber nicht kriegsentscheidend sein werden. Beiderlei Prognosen sind schiere Glaubenssache. Ich schlage mich notorisch auf die Seite der Skeptiker.

Präsident Selenskij war auf Beutezug nach neuen Waffen in Berlin, Paris, London, Hiroshima. „Kampfjet-Allianz“ taufte er seinen Wunsch nach F-16-Jets aus amerikanischen Rüstungsfabriken. Die US-Luftwaffe wird nun ukrainische Piloten ausbilden, während europäische Verbündete, vorneweg Großbritannien und die Niederlande, das Allwetter-Mehrzweckkampfflugzeug liefern wollen. So schnell kommen die Jets allerdings nicht zum Einsatz. Die Frühjahrs-Offensive muss wohl noch ohne sie auskommen,

Militär-Experten sagen uns, dass die Gegenoffensive der Ukraine aus westlicher Sicht die lang ersehnte Entscheidung bringen muss. Warum? Weil der Angriff der letzte große Versuch sein dürfte, die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen. Und was, wenn der Versuch scheitert? Das wäre verhängnisvoll, heißt es, da im kommenden Jahr aus dem Westen keine Waffen in großer Zahl mehr geliefert werden könnten. Warum nicht? Weil ohne einen großen militärischen Erfolg der Glaube daran fehlen wird, dass die Ukraine irgendwann doch noch siegen könnte.

Tja, nicht ganz einfach, in dieser Kaskade der Vermutungen die Ruhe zu bewahren. Manchmal hilft am ehesten der gesunde Menschenverstand, der uns sagt, wir sollten die Ukraine nicht mit Erwartungen überfrachten. Denn die entscheidende Frage lautet: Kann es sich der Westen erlauben, die Ukraine fallen zu lassen? Die schlichte Antwort lautet: Kann er nicht.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

 „Der beste Treiber ist der eigene Geldbeutel“

Michael Geißler, 61, ist Geschäftsführer der Berliner Energieagentur und auch Vorstandsvorsitzender des Branchenverbandes. Seine Agentur berät Unternehmen und Privatleute darin, was sie auf dem Weg zur Klimaneutralität tun können. Privat ist Geißler ein überzeugter Anhänger von Alba Berlin.

t-online: Herr Geißler, welche Frage wird Ihnen momentan am häufigsten gestellt?

Geißler: Was kommt auf uns zu und welche Möglichkeiten haben wir? Denn die meisten Unternehmen und Gebäude-Eigentümer*innen wollen gerne in mehr Klimaschutz investieren. Jedoch treibt sie oft die Sorge, ob sie die Kosten am Ende nicht überfordern werden. Mit immer kürzeren Regelungsintervallen und -änderungen nimmt die Unsicherheit zwangsläufig zu und führt dann womöglich zu Verdruss und Resignation. Viele Menschen schreckt auch die Komplexität der gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Förderung ab. Deshalb brauchen sie vor allem Planungs- und Investitionssicherheit.

65 Prozent an erneuerbarer Energie soll Pflicht werden, wahrscheinlich schon ab nächstem Jahr. Sind solche strikten Vorgaben eigentlich sinnvoll?

Es muss der Politik in erster Linie gelingen, die Bürger:innen vom Mehrwert der Energiewende zu überzeugen. Denn natürlich müssen wir alles daran setzen, von fossiler Energie wegzukommen. Die Extremwetter-Ereignisse der letzten Jahre machen mehr als deutlich, dass die Folgen des Klimawandels auch bei uns angekommen sind und uns die Zeit zum Handeln zwischen den Fingern verrinnt. Eine Verschiebung auf später macht am Ende alles nur noch viel teurer, auch für jeden Einzelnen.

Umgekehrt könnte man argumentieren, dass in den Privathaushalten eben zu wenig gegen den Klimawandel passiert, wenn nicht der Staat gesetzliche Vorschriften erlässt.

Für die Transformation zur Klimaneutralität braucht es selbstverständlich gesetzliche Regelungen, wie wir sie aus allen anderen gesellschaftlichen Bereichen kennen und akzeptieren. Grundsätzlich sollte es dabei immer ein ausgewogenes Zusammenspiel aus Fordern und Fördern geben. Der beste Treiber ist dabei meistens der eigene Geldbeutel.

Als Allheilmittel für den Klimawandel gilt die Wärmepumpe. Ist diese Konzentration verständlich?

Grundsätzlich sollten wir uns alle Optionen offenhalten. Denn wenn wir uns aus den Fesseln der fossilen Energie-Abhängigkeit befreien wollen, dann sind vor allem dezentrale Ansätze sinnvoll. Dazu kann die Wärmepumpe einen wichtigen Anteil leisten, wenn auch weniger in den Städten, da hier die Besiedlung dann doch zu dicht ist. Gleichzeitig müssen wir aber auch verstärkt auf Abwärmenutzung und auf Nah- und Fernwärmenetze setzen, die dann zukünftig erneuerbar versorgt werden müssen.

Nehmen wir an, in ein älteres Haus mit betagtem Gaskessel soll im Jahr 2024 eine Wärmepumpe eingebaut werden. Was muss der Besitzer beachten?

Wichtig ist, dass zunächst für Effizienz im Haus gesorgt wird – dass zum Beispiel das Verteilungssystem der Heizung gut eingestellt ist und auch die technischen Voraussetzungen für die Wärmepumpe erfüllt sind. Die einzelnen Bestandteile müssen dann aufeinander abgestimmt und richtig dimensioniert sein.

Wenn die Pumpe mit Luft arbeitet und es ist draußen kalt, wird die Pumpe zur Elektroheizung. Ein entscheidender Nachteil?

Entscheidend ist die Jahresarbeitszahl. Sie gibt an, wieviele Einheiten Wärme in einer Kilowattstunde Strom erzeugt werden können. Je mehr der Energiebedarf des Gebäudes bereits durch Sanierung gesenkt worden ist, desto besser kann die Wärmepumpe ihre Wirkung entfalten. Auch bei einer Außentemperatur von -12°C liefert die Wärmepumpe bei 50°C Vorlauftemperatur noch eine Arbeitszahl von über 2 – es wird doppelt so viel Wärme erzeugt wie beim Heizen mit Strom. In älteren Gebäuden ist das oft schwierig umzusetzen, daher wird sicherlich der Einsatz von Hybridheizungen sinnvoll sein – beispielsweise eine Gasbrennwertheizung in Kombination mit einer Luft-Wasser-Wärmepumpe. Dann kann die Gasheizung einspringen, wenn es draußen besonders kalt ist.

Gehört ein Garten zum besagten Haus, könnte die Wärmepumpe mit Erdwärme arbeiten. Wie groß muss ein Garten sein und wie tief sollten die Sonden liegen?

Üblich sind knapp 100 Meter tief gebohrte Erdsonden. In Berlin muss dafür ein Abstand von 10 Metern zu Sonden der Nachbarn eingehalten werden. Für rund 30 Kilowatt an Heizleistung benötigt man 6 Bohrungen in 100 Meter Tiefe, die auf einer Fläche von circa 400 Quadratmetern angebracht werden sollten. Ein gut gedämmtes Einfamilienhaus kommt hingegen mit 100 Quadratmetern aus.

Lohnt sich die Solaranlage als Ergänzung auf dem Dach?

Im Sommer sowie in den Übergangszeiten auf das Frühjahr und den Herbst lässt sich der Wärmebedarf mit zusätzlicher Photovoltaik decken. Daher würde ich empfehlen, das Dach für den Einsatz einer PV-Anlage prüfen zu lassen.

Das Gesetz heißt ja Gebäudeenergiegesetz. Es geht also nicht nur um den Keller, sondern um das ganze Haus. Wo überall kann ein Haus gedämmt werden – an der Fassade, an den Fenstern?

Man muss ein Gebäude als einen Gesamtorganismus verstehen, bei dem die einzelnen Teile zusammenspielen. Daher ist es immer richtig zu prüfen, was kann ich energetisch verbessern und vor allem in welcher Reihenfolge. Dabei kann ein individueller Sanierungsfahrplan helfen, der genau aufzeigt, in welchen Schritten man vorgehen kann, um sein Haus fit zu machen. Dann weiß man auch, ob es sinnvoll ist, die Fenster auszutauschen, die Kellerdecke zu dämmen oder sogar die Fassade. Dabei sollte man natürlich auch die staatliche Förderung im Auge behalten. Übrigens wird sogar die Beratung bei einem Sanierungsplan vom Gesetzgeber gefördert.

Experten unterbreiten den Vorschlag, nicht immer nur von einzelnen Gebäuden auszugehen, sondern ein Quartier zu sanieren, dessen Häuser zum Beispiel in kommunaler Hand sind. Überzeugt Sie diese Idee?

Das Quartier ist der Schlüssel für eine erfolgreiche Umsetzung der Wärmewende. Daher begrüße ich es sehr, dass der Bundesrat sich dafür ausgesprochen, diesen Ansatz im Gesetz zu verankern. Das fordern wir Agenturen übrigens schon seit vielen Jahren. Denn nicht jedes einzelne Gebäude und nicht jede Immobilie kann die Klimaziele alleine erreichen. Es

ist oftmals leichter und wirtschaftlicher, eine Lösung für eine Gruppe von Gebäuden zu finden.

Wer Fernwärme bezieht, ist fein heraus. Lässt sich das Netz unschwer ausbauen?

Der Ausbau hängt von örtlichen Gegebenheiten und dem zukünftigen Energiebedarf der Häuser ab. Ein Ausbau kostet natürlich Geld, daher ist eine genaue Planung wichtig – und hier sind wir beim Punkt der kommunalen Wärmeplanung. Sie muss und wird eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob wir die Wärmewende umfassend und vor allem sozialverträglich umsetzen können. Denn die kommunalen Wärmepläne zeigen auf der Grundlage von Bestands- und Potenzialanalysen, wie das Netz bestmöglich ausgebaut werden kann. Sie schaffen damit eine belastbare Grundlage für die Planung und geben Planungssicherheit für die an der Wärmewende beteiligten Akteure. In Baden-Württemberg zum Beispiel ist das jetzt schon Pflicht. Eine bundesweite Regelung, die bereits bestehende Länderregelungen berücksichtigt, wäre wichtig.

Horrende Zahlen über die Kosten der Gebäudesanierung schwirren umher. Der bayerische Ministerpräsident, der bekanntermaßen im Wahlkampfmodus steckt, hat behauptet, auf Hausbesitzer kämen Kosten in Höhe von 300 000 Euro zu. Ist das mehr als Angstmache?

Die aktuelle Diskussion hat einfach zu großer Verunsicherung geführt. Da wird sicherlich auch mit Zahlen hantiert, die unpräzise sind. Denn jedes Gebäude muss individuell betrachtet werden. Entscheidend ist, wie die Förderung zum Gebäudeeenergiegesetz ausfallen wird. Und dabei ist auf eine Staffelung nach Einkommen zu achten, die finanziell schwache Haushalte besser unterstützt als stärkere. Niemand sollte über Gebühr belastet werden.

Momentan gibt es eine Jagd nach Gas- und Erdölbrennern. Ist das ein Kollateralschaden der hastigen Ankündigungen aus dem Wirtschaftsministerium?

Das ist eine Reaktion, wie sie oft im Zuge neuer Gesetze zu beobachten ist. Die Menschen wollen in erster Linie Planungssicherheit. Ihnen liegt daran, abschätzen zu können, welche Belastungen auf sie zukommen. Das geht beim Altbewährten oft einfacher als beim noch neuen Unbekannten. Vor diesem Hintergrund sehen viele Menschen den Einbau einer neuen fossilen Heizungsanlage als vermutlich sicheren Weg. Angesichts der perspektivisch steigenden Kosten für fossile Energie und der anwachsenden CO2-Preise

sind solche Vorsichtsmaßnahmen jedoch mit Vorsicht zu genießen. Denn steigt der CO2-Preis – wie von vielen Experten erwartet – auf über 100 Euro pro Tonne in den nächsten Jahren, dann kann es sein, dass über die Laufzeit einer neuen fossilen Heizung von 20 bis 25 Jahren eine fünfstellige Summe zusammen kommt. Solche Schnellkäufe sind eben ein Beleg dafür, dass wir mehr Zeit und Aufklärung benötigen.

Wenn in einigen Jahren Millionen Wärmepumpen laufen, viele Elektroautos fahren und die Industrie hohen Bedarf an grünem Strom hat, so dass dann ungefähr die vierfache Menge an Strom gebraucht wird: Muss dann der Stromverbrauch reguliert werden?

Sicher ist, dass der Strombedarf stark zunehmen wird. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien von derzeit knapp 240 Terrawattstunden auf 600 im Jahr 2030 gesteigert werden muss. Das setzt einen massiven Ausbau und vor allem einen effektiveren Einsatz voraus. Hierfür müssen zum Beispiel intelligente Steuerungssysteme die Voraussetzungen schaffen. Denn es geht vor allem um Steuerung, nicht um Regulierung. Dafür brauchen wir neben Speichern vor allem ein besseres Management, das auf die erneuerbaren Potentiale abgestimmt ist.

Also könnte eventuell dann vorgeschrieben werden, dass E-Autos nur nachts aufladen dürfen und Waschmaschinen, Trockner, Spülmaschinen nur zwischen 10 und 16 Uhr laufen dürfen?

Mit dem vor Kurzem verabschiedeten Gesetz zur Beschleunigung der Di- gitalisierung der Energiewende ist man hier einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Wir brauchen in der Breite intelligente Mess- und Steuerungselemente für unsere Strom- und Wärmeversorgung, die es einfach und unkompliziert ermöglicht, flexible Stromtarife zu nutzen. Bei den hohen Strommengen ist das unbedingt wichtig. Ich glaube nicht, dass man dann Strom nur zu bestimmten Zeiten nutzen darf, sondern dass über die variablen Strompreise die Nutzer*innen den für sie passenderen Tarif wählen werden.

An Robert Habecks Gesetzesvorlagen irritiert die Eindimensionalität. Dabei könnte die Lehre aus der einseitigen Abhängigkeit von russischem Gas sein, dass Optionen besser sind. Lassen Sie uns einige durchgehen. Ist Biogas eine Alternative?

Wir werden nur vorwärts kommen, wenn wir alle Optionen im Blick behalten. Das betrifft alle erneuerbaren Ansätze, also auch Holz, Biomasse und klimaneutrale Gase. Dafür muss das Gesetz Möglichkeiten eröffnen, denn

gerade im ländlichen Raum kann darin eine Alternative beim gleichzeitigen Aufbau regionaler Wertschöpfungsketten liegen.

Solarthermie, aus der Wärme entsteht, lässt sich sogar speichern. Warum ist davon so wenig die Rede?

Zu den Optionen gehört auch ein breiter Einsatz der Solarthermie, idealerweise ebenfalls im Quartier und vor allem zur Nutzung für die Erzeugung von Warmwasser. Die Solarthermie reduziert im Sommer den Energiebedarf für die Warmwassererzeugung und kann im Winter die Wärmeerzeugung effektiv unterstützen. Hierfür gibt es schon viele gute Beispiele aus der Praxis wie in Freiburg, wo im Quartier Gutleutmatten 500 Wohneinheiten, bestehend aus 39 Mehrfamilien- und zehn Reihenhäusern mit rund 1.300 Personen, von der nachhaltigen Energieversorgung profitieren.

Oder die Abwärme vom Warmwasser, das jetzt in der Kanalisation verschwindet. Wie ließe sich die Abwärme besser verwerten?

Auch hier kann der Quartiersansatz eine entscheidende Rolle spielen, denn es ist oft praktikabler, die Abwärme im unmittelbaren Umfeld direkt zu nutzen. Dabei geht es um sämtliche Formen der Abwärme, die etwa auch bei Produktionsprozessen anfällt. Die Wärme aus einem Rechenzentrum kann dann direkt für das Heizen der umliegenden Wohngebäude genutzt werden. Diese Potentiale sind riesig. In Frankfurt am Main gibt es zum Beispiel rund 60 Rechenzentren, die zusammen 1,6 Terrawattstunden Strom verbrauchen. Bei einer kompletten Nutzung der Abwärme bis 2030 können rein rechnerisch sämtliche Wohn- und Büroräume der Mainmetropole CO2- neutral geheizt werden. Auch in Berlin sind wir hier bereits intensiv unterwegs, denn hier kann die Abwasserwärme langfristig einen Beitrag von bis zu 5 Prozent des gesamten Wärmebedarfes decken.

Schließlich Wasserstoff. Ab wann könnte darin eine Alternative liegen?

Das kann heute niemand seriös sagen. Die Produktion von Wasserstoff ist aktuell noch sehr kostspielig und wird es auch in den kommenden Jahren bleiben. Zugleich ist es nach wie vor fraglich, wie groß die tatsächlich produzierbaren Mengen dann sein werden. Perspektivisch sehe ich eher die Schwerindustrie als Abnehmer. Wir sollten daher nicht allein auf denkbare Lösungen setzen, die wohl, wenn überhaupt, erst in vielen Jahren in Frage kommen. Wir müssen jetzt direkt ins Umsetzen kommen. Energieeffizienz und Energieeinsparung sind das beste Mittel zum Zweck.

Herr Geissler, danke für das Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Sonntag.

Vorbereitungen für das große Sterben

Vielleicht wird man später einmal sagen, dass dieser Krieg in der Ukraine Anfang Mai in einer ungewöhnlichen Phase steckte. Dazu tragen ein paar Ereignisse bei, die sich in Russland abspielen.

Drohnen wurden auf den Kreml abgefeuert – genauer gesagt, sollen auf Wladimir Putins Heiligtum abgefeuert worden sein, denn die Quelle der Behauptung ist russisch. Wilde Flüche spien daraufhin die Propagandisten im Fernsehen und forderten mal wieder dazu auf, Selenskyi umzubringen. Na ja, das wollen sie schon lange, eigentlich von Anfang an, ist also nichts Neues und gelingt ihnen hoffentlich auch nicht. Was aber  am Echo auf  diesen seltsamen Vorfall auffällt, ist eine merkwürdige Nervosität, die bis in höchste Ränge hinein zu reichen scheint. Und dazu wird die Ukraine neuerdings ernst genommen, so ernst, dass man ihr das Beschießen des Kreml mit Drohnen zutraut. 

Jewgenij Prigoschin ist ein russischer Oligarch, der die Wagner Gruppe finanziert und steuert. Bemerkenswert häufig meldet er sich mit exzentrischen Kommentaren zu den Ereignissen des Krieges zu Wort. Weil der Blutzoll hoch ist und die Ausrüstung schlecht, drohte er  damit, seine Soldateska aus Bachmut herauszuziehen. Davon ist er jedoch wieder abgerückt, da ihm Nachschub an Munition und Gerät samt Flankenschutz zugesagt worden sei, wie er behauptet. Erwähnenswert ist das Geplänkel, weil Prigoschin militärische Probleme unverblümt anspricht. Er nimmt sich Freimut heraus und kritisiert die russische Militärführung. Was sagt eigentlich Putin dazu?

Indes bereitet das ukrainische Militär die Offensive im Süden und Südosten vor, von der schon seit geraumer Zeit die Rede ist. Es dauert, weil der April verregnet war und die Wege daher verschlammt sind. Erst wenn die Frühlingssonne  für Trockenheit gesorgt hat, kann es los gehen. Bis zu 100 000 Soldaten sollen in die Gefechte ziehen. Die westlichen Partner haben, wie es heißt, so ziemlich alle versprochenen Waffen und Munition geliefert. Dazu gehören, so sagt es der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, 230 Panzer und 1 550 gepanzerte Feuerzeuge. Darunter sind auch 18 Leopard-2-Panzer aus Deutschland.

So viel man weiß, hat die russische Armee an möglichen Angriffspunkten Panzergräben und Schützengräben ausgehoben und Artilleriestellungen aufgebaut. Vor allem die Landbrücke auf die Krim ist eminent geschützt. Für die Vorsichtsmaßnahme gibt es Gründe. Ukrainische Drohnen hatten Treibstofftanks auf der Halbinsel in Brand gesetzt und angeblich einen Raketentransport auf Bahngleisen teilweise zerstört. Die Befreiung der Krim gehört zu den ukrainischen Kriegszielen.

Es ist alles gerichtet für den Start der Offensive, die ein großes Sterben auslösen wird. Leid und Kummer sind die unvermeidlichen Begleiter auch gerechter Kriege, denn in diese Kategorie gehört der Kampf der Ukraine um ihre Existenz als Staat. Wie viele Soldaten auf beiden Seiten schon gestorben sind, weiß niemand im Westen ganz genau. Die Zahlen sind  manipuliert und damit entweder übertrieben oder untertrieben. Vermutlich werden die Toten in der Ukraine auch nach dem Krieg in ehrenvoller Erinnerung bleiben. Und die Toten in Russland?

Heute ist es 78 Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg mit der deutschen Kapitulation gegenüber England und Amerika endete. Tags darauf holte die Sowjetunion die Unterzeichnung in Karlshorst nach. Die Siegesparade in Moskau findet morgen wiederum ohne ausländische Gäste statt und anscheinend mit weniger militärischem Gepränge als sonst üblich. Natürlich wird Wladimir Putin eine Rede halten und überall auf der Welt aufmerksame Zuhörer finden.

Am Ende dieser Woche will Wolodymyr Selenskyi in Deutschland sein. Ein schwatzhafter Berliner Polizist hat es jedoch der „B.Z.“ verraten; nach ihm wird nun intern gefahndet. Der ukrainische Präsident möchte kurz in Berlin vorbeischauen und dann in Aachen den Karlspreis entgegennehmen. Der Bundeskanzler hat ihn eingeladen. Ich nehme an, er wird kommen, sonst wäre es ein Treppenwitz, dass ein Berliner Polizist die Reise sabotieren konnte.

Der Krieg geht weiter. Das große Sterben geht weiter. Die Unsicherheit nimmt zu, sogar in Moskau, das offenbart sich in diesem Mai, in dem die Ukraine eine Offensive vorbereitet, von der sie sich viel erhofft.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wie eine Selbstauslöschung

Felix Schmidt , 89, gehörte zu den herausragenden Journalisten seiner Generation. Er war Ressortleiter beim „Spiegel“ und Programmdirektor beim SWR gewesen, bevor er einer von drei Chefredakteuren beim „Stern“ wurde. Er musste für die gefälschten Hitler-Tagebücher geradestehen, obwohl der Vorstandsvorsitzende von Gruner & Jahr im Glauben an eine Weltsensation den Rechercheur Gerd Heidemann mit Millionen für die Beschaffung der 62 Kladden versorgt hatte. Schmidt und Heidemann,91, sind die letzten Überleben der Katastrophe, die den „Stern“ um seinen Ruf brachte.

t-online: Vor 40 Jahren, am 28. April 1983, erschien der „Stern“ mit dem sensationellen Titel „Hitlers Tagebücher entdeckt“. Sie waren damals einer von drei Chefredakteuren. Was fällt Ihnen zuerst ein, wenn Sie an diese Tage denken, als Ihr Blatt die Welt in ungläubiges Staunen versetzte?

Schmidt: Ich habe mitgestaunt und gehofft, dass alles gut geht. Denn in Wahrheit hatte ich kein gutes Gefühl bei der Sache, hatte aber nicht den Mut Zweifel zu äußern. Die immer wieder übermäßig bekundete Gewissheit der Vorstandsvorsitzenden Gerd Schulte-Hillen in die Echtheit der Tagebücher ließ keine Zweifel mehr zu.

Und die unfassbare Schmach, als sich herausstellte: 62 Kladden mit schwarzer Tinte – gefälscht?

Meinem Freund Thomas Schröder habe ich kurz vor Drucklegung der Tagebücher meine Zweifel mit dem Satz anvertraut: „Wenn wir einer Fälschung aufgesessen sind, ist die tiefste Stelle der Alster nicht tief genug uns aufzunehmen“. Als die Tagesschau am Samstag, dem 7. Mai, den Rücktritt der beiden Chefredakteure Koch und Schmidt meldete, klang das in meinen Ohren wie eine Selbstauslöschung.

Skurril war ja, dass Gerd Heidemann an der Chefredaktion vorbei mit dem Verlag den Ankauf der Tagebücher abgesprochen hatte. Sie und Ihre beiden Kollegen wurden erst nach geraumer Zeit eingeweiht. Das muss Sie doch fürchterlich geärgert haben.

Ich wollte zurücktreten, aber mein Co-Chefredakteur Peter Koch bat mich um der Loyalität willen zu bleiben. Er sagte: „Wenn die Sache für den ‚Stern‘ ein Erfolg wird, dann ist doch gleichgültig wie wir dazu gekommen sind.“

War der kollektive Wahn, die tollste Geschichte auf dem Erdkreis zu haben, so stark, dass auch Sie Heidemann auf den Leim gingen?

 Offensichtlich ja.

Heidemann bekam die Tagebücher angeblich über einen General der DDR-Volksarmee auf abenteuerlichen Wegen, versteckt in transportierten Klavieren für den Westen. Warum glaubte die gesamte „Stern“-Führung diese wilde Geschichte?

Die Fundgeschichte in der DDR-Gemeinde Börnersdorf, wo im April 1945 tatsächlich ein Flugzeug mit Gegenständen aus dem Besitz Hitlers, darunter angeblich die Tagebücher, auf dem Weg nach Salzburg abgestürzt war, klang glaubwürdig. Denn der Absturz ist nachprüfbar richtig. Die Tagebücher und den Volksarmee-General, der die von Bauern aus den Trümmern geborgenen Kladden im Verwahr habe, wurde von Heidemann in die Geschichte hineingeschmuggelt. Ich kann seinen Namen nicht nennen, sagte Heidemann immer wieder, denn der Mann ist doch hochgefährdet, wenn ich mehr über ihn preisgebe, dann fliegt alles auf. Das war immer schon die Methode Heidemann, seine Stories zu verkaufen. Ein Teil war wahr, ein anderer dazu fantasiert.

Waren Sie zu vertrauensselig? Haben Sie gedacht, wer so viele Millionen ausgibt, wird schon für hinreichende Prüfung sorgen?

Ich habe mich nicht dem Argument verschlossen, dass der Vorstandsvorsitzende von Gruner & Jahr doch erst nach reiflicher Prüfung einem derart riskanten und teuren Ankauf der Tagebücher zugestimmt habe.

Waren Sie informiert darüber, mit welchen Schrift- und Papiersachverständigen und welchen Historikern der „Stern“ die Tagebücher prüfen ließ? 

Peter Koch war der für Politik und Zeitgeschichte zuständige Chefredakteur, ich war für Unterhaltung und Kultur im weitesten Sinne verantwortlich. Im Groben war ich jedoch über die überaus positiven Ergebnisse der einzelnen Prüfungen der Tagebücher informiert. In der „heißen Phase“ war es Koch, der das Verfahren dann bestimmte.

Ihr Kollege Peter Koch, ein studierter Historiker, riss die Geschichte an sich, reiste nach Amerika für die Weltrechte und trat in der berühmten Pressekonferenz als omnipotenter Mr. „Stern“ auf. Wie war Ihre Rolle in diesem Prozess, der sich über zweieinhalb Jahre zog? 

Zum Prozess gegen Kujau und Heidemann wurde ich als Zeuge nicht zugelassen. Das Gericht glaubte, mich meinem Anwalt gegenüber als „kleines Licht in der Angelegenheit Hitler-Tagebücher“ einstufen zu müssen. 

Pünktlich zum 40. Jubiläum erschien eine dreiteilige Dokumentation des SWR, in der Gerd Heidemann im Mittelpunk steht, der Mann, der 9,3 Millionen Mark für die Fälschungen ausgab. Erklären Sie uns diesen Mann in seiner Sonderrolle im „Stern“.

Heidemann, der einst ein Star beim „Stern“ war, ist für die Hitler-Tagebuch-Geschichte kräftig geprügelt und wegen Betrugs verurteilt worden. Ich habe keinen Anlass die Keule erneut herauszuholen. Nur soviel:  Dem Bekunden seines Ressortleiters Thomas Walde zufolge, hatte Heidemann Angst, mit einem höllischen Gelächter abgefertigt zu werden, wenn er mit so einer brisanten Nazi-Geschichte bei den Chefredakteuren auftauche.

Heidemann weigerte sich beharrlich, den Namen seines Kontaktmannes zu nennen. Das ist ungewöhnlich, im Normalfall erfährt zumindest die Chefredaktion, wer die Quelle ist. Warum musste er den Namen Ihnen nicht herausrücken?

Heidemann hat immer wieder bekundet, dass er Menschenleben in Gefahr bringe, wenn er Namen nennen würde. Das wiederholte er auch immer wieder, bis er unter dem Druck der aufgedeckten Fälschung am Samstag, dem  7.Mai, um fünf Uhr morgens mit dem Namen des Fälschers herausrückte: Dr. Konrad Fischer aus Bietigheim-Bissingen. Nach drei Stunden haben wir herausbekommen, dass Dr. Fischer identisch ist mit Konrad Kujau. Später wird zutage gefördert, dass Thomas Walde den Namen Fischer frühzeitig gekannt hat.

Was ein Welterfolg werden sollte, entpuppte sich als Räuberpistole. Wie lange hat es gedauert, bis Sie nicht mehr auf die Selbsthypnose einer ganzen Gruppe von Führungsfiguren unter dem Einfluss eines Rechercheurs mit Nazi-Sentimentalität angesprochen wurden?

Wie dieses Interview zeigt: bis auf den heutigen Tag. Diese Geschichte hängt den Beteiligten ein Leben lang an. Die meisten von ihnen haben den Vorzug, schon tot zu sein.

Die Verlagsführung trug eigentlich die Verantwortung, weil sie die Hitler-Tagebücher zur geheimen Kommandosache erklärt hatte. Aber keiner aus diesem Kreis verlor seinen Job, wohl aber die Chefredakteure, also auch Sie. Löst das in Ihnen heute noch Bitterkeit aus?

 Ja. Über m

ich. Noch wenige Stunden vorher hatte ich in einem selbsthypnotischen Anfall in einer Konferenz verkündet: „Ich war nie sicherer, dass die Tagebücher echt sind.“ Wenn ich auf diese Worte angesprochen werde, möchte ich so schnell wie möglich im Boden versinken.

In der Dokumentation ist immer wieder Gerd Heidemann, 91, in seinem Archiv inmitten von Nazi-Memorabilia zu sehen. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf? 

Was für ein großartiger Museumswärter!

Am 28. April 1983 erschien der „Stern“ in einer Auflage von 2,4 Millionen mit einer Geschichte, in die er 9,3 Millionen Mark investiert hatte. Es waren die goldenen Zeiten des „Stern“, der danach abstürzte. Lässt sich heute jüngeren Menschen erklären, was sich damals ereignete?

Ich kann es nicht. Denn ich müsste erklären, wie leicht Wahn, Mystifikation und Geld die Vernunft erwachsener, halbwegs gebildeter Menschen außer Kraft gesetzt hat. Und ich müsste über meine unverzeihliche Mutlosigkeit gegenüber übergriffigen Vorgesetzten sprechen.

Herr Schmidt, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Was soll das?

Es ist ja nicht weiter verwunderlich, dass etliche Menschen Gedanken wälzen, wie es mit der Ukraine weitergehen wird. Je länger der Krieg andauert und je weniger sich Land mit den jeweiligen Offensiven erobern lässt, desto drängender stellen sich Fragen nach der Zukunft dieses geschundenen Landes.

Wie es seine Art ist, prescht Emmanuel Macron furios vor. Der Vorzug besteht darin, dass seine Urteile und Ideen immer blitzblank ausfallen. In seiner klirrenden Klarheit ist er dem auf Konsens bedachten Pragmatismus deutscher Provenienz haushoch überlegen. Entweder hat er groß recht oder er liegt groß falsch. Gehirntot nannte er die Nato vor dem Einfall der russischen Armee in die Ukraine. Egal, jedenfalls hat Putin sie wach geküsst. Nach seiner China-Reise riet Macron ultimativ  Europa von einer Einmischung in die künftigen Konflikte zwischen China und Amerika ab. Na ja, an militärische Intervention in einen Krieg um Taiwan war ohnehin nicht gedacht, oder? Aber an moralischer und politischer Unterstützung käme Europa dann wohl kaum vorbei.

Auch Macrons neueste Initiative hat es in sich. Der französische Präsident drängt Xi Jinping zur Friedensvermittlung in der Ukraine. Aber warum sollte der neue Mao ihm den Gefallen tun? Der Krieg in der Ukraine hat den angenehmen Nebeneffekt, dass Russland noch mehr auf China angewiesen ist als zuvor. Und aus Xis Sicht liegt der Vorteil des Krieges darin, dass die USA in Europa gebunden sind. Worin sollte also Chinas Interesse an einem  Frieden liegen, der womöglich eine Demütigung Putins mit sich brächte? 

Macrons Vorschläge haben zwei Gemeinsamkeiten: Darin äußert sich der politische Primat, den französische Präsidenten in der Europäischen Union beanspruchen. Deutschland mag eine ökonomische Macht sein, aber politisch hält es sich seit je her zurück, von Helmut Schmidt über Angela Merkel bis hin zu Olaf Scholz. Ist das klug? Im Prinzip ja, in der Wirklichkeit immer weniger, zumal mit einem Irrlicht wie Emmanuel Macron im Élysée. Die zweite Gemeinsamkeit betrifft die Skepsis gegenüber Amerika, die in Frankreich stärker ausgeprägt ist als in Deutschland.

Man kann sich vorstellen, dass Wolodymyr Selenskyji wenig amüsiert über Frankreichs Sonderwege ist. Nicht nur aus seiner Perspektive nimmt Xi Partei für Russland und ist schon deshalb als Vermittler kompromittiert, wenn nicht diskreditiert. Selenskyjis Mantra fällt nach wie vor maximal aus: Rückeroberung aller okkupierter Gebiete im Süden und Osten plus der Krim. Ob dieser Kompromisslosigkeit eigentlich Wirklichkeitssinn innewohnt oder nicht, ist eine andere Frage. Denn für die Motivation seiner Soldaten ist bedingungsloser Optimismus unbedingt nötig, vor allem für die Eingekesselten in der Geisterstadt Bachmut.

Die neueste ukrainische Gegenoffensive gegen die neueste gescheiterte russische Offensive steht bevor. Zudem werden ukrainische Soldaten in Amerika auf die M1-Abrams-Panzern eingeschworen, die früher als vorgesehen ausgeliefert werden sollen. Lettland will außerdem sämtliche Stinger-Raketen, mit denen sich Flugzeuge und Hubschrauber abschießen lassen, dem ukrainischen Militär überlassen. Und zur Abwechslung bombardierte die russische Armee mal die eigene 400000-Einwohner-Stadt Belgorod – und gestand den Irrtum sogar ein, was die eigentliche Sensation ist.

Indes haben die G7-Außenminister aufs Neue den russischen Angriffskrieg scharf verurteilt und als krassen Verstoß gegen das Völkerrecht angeprangert. Sie würden die Ukraine so lange wie nötig unterstützen, sagten sie, inklusive der französischen Außenministerin, die Zweifel an der Haltung ihres Landes zerstreuen wollte.

Worte und Taten halten sich im Westen momentan einigermaßen die Waage, immerhin. Zugleich schleicht sich Unbehagen ein, da ja im nächsten Jahr in Amerika ein Präsident gewählt wird, der vielleicht wieder Joe Biden heißt, auch wenn der in seiner zweiten Amtszeit ins Greisenalter hinein wachsen würde. Schlimmer kann es immer kommen, egal ob der alte Donald Trump oder einer seiner jungen Klone ins Weiße Haus einzieht. Auch wegen dieser Unsicherheit sagen Geostrategen in vielen Ländern, dass dieses Jahr entscheidend für die Ukraine ist. Was sie 2023 nicht erreichen kann, lässt sich vielleicht nicht mehr erreichen. Mit der USA lässt sich leichter optimistisch sein als ohne sie.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Ginge es nach der Ukraine, wäre sie heute schon Mitgliedsstaat in der Nato und der Europäischen Union. Natürlich ist sie de facto noch lange nicht reif für die EU, aber ein politisches Signal ginge selbstverständlich vom Einstieg in die Beitrittsverhandlungen aus. Solidarität dieser Art lässt sich der Ukraine nur schwerlich abschlagen. Aber unten, wo das Leben konkret ist, wird es schwierig. Die Ukraine ist ein im Frieden ertragreiches Agrarland, das billiges Getreide und andere Agrarprodukte auf den gemeinsamen Markt werfen kann. Davon sind Polen, Ungarn und die Slowakei nicht begeistert. Schon jetzt haben sie teilweise Einfuhrverbot für ukrainische Getreide verhängt, um ihre eigenen Bauern zu schützen.

Nicht viel anders steht es um die Nato. Beitritt heißt Selbstverpflichtung der Nato auf militärische Hilfe im Falle eines Angriffskrieges wie im Februar 2022.Davor schreckt sie zurück, so ist das. Deshalb muss sich das westliche Bündnis gut überlegen, welche Garantien für die Souveränität des Landes unterhalb eines Blankoschecks so überzeugend ausfielen, dass die Ukraine damit leben kann, ohne in Ressentiments gegenüber dem wankelmütigen Westen zu verfallen.

Die Politik rückt uns mächtig auf den Leib

Endlich bricht der Frühling aus. Feiertag reiht sich an Feiertag. Die Familien finden generationenübergreifend zusammen, womöglich erfreuen sie sich sogar aneinander. Vielleicht reden sie über wesentliche Dinge miteinander – wem es in der Verwandtschaft gut geht und wem nicht, gesundheitlich oder beruflich. Wer nicht mehr mit wem redet und warum nicht. Ja, und vermutlich kreisen Diskussionen auch darum, was uns drohen mag: von Putin, der Nuklearwaffen in Belarus aufstellt, von Trump, wenn er wieder Präsident ist, von der deutschen Regierung, die mehr denn je in unser Leben eingreift.

In diesen Tagen machen sich in Deutschland ziemlich viele Haus- oder Wohnungseigentümer kundig über Wärmepumpen und fragen sich, wie viele Sonden sie wohl im Garten in welcher Tiefe verlegen müssen, um künftig mit Erdwärme die Pumpe zu betreiben, damit sie demnächst auf die 65 Prozent Alternativenergie kommen, die Robert Habeck ihnen abverlangt. Energieberater sind momentan gefragt wie nie und geben geduldig Auskunft darüber, in welcher Himmelsrichtung ein Dach liegen sollte, damit sich Photovoltaik oder Solarthermie wirklich rentieren. Und natürlich interessiert brennend, wie viel so eine Modernisierung wegen des Klimawandels kostet und wie hoch die Zuschüsse vom Staat ausfallen.

Politik ist uns seit einiger Zeit mächtig auf den Leib gerückt und der Klimawandel zwingt zu Konsequenzen tief ins Private hinein. So ist das, so muss das sein, sagt die Regierung, und natürlich hat sie nicht unrecht damit. Aber auf diese Bewegung mitten hinein in die Lebenswirklichkeit der Menschen folgt fast automatisch eine Gegenbewegung gegen diese Zumutungen. Dazu gehört der freie Fall der drei Regierungsparteien, der sich in Meinungsumfragen niederschlägt. Dazu vor allem das Ressentiment gegenüber den Politikern, die Entscheidungen treffen, die ins Private zielen. Robert Habeck, gerade eben noch bewundertes Vorbild für Nachdenklichkeit, dient inzwischen als Feindbild. Olaf Scholz schlägt amüsierte Verachtung entgegen und Christian Lindner legt mit seiner Kombination aus Professionalität und Arroganz ohnehin wenig Wert auf übergroße Popularität.

Ich teile diese Ressentiments nicht, aber die handelnden Personen tun gut daran, sie ernst zu nehmen. Der Bundeskanzler tut es offensichtlich, so erklärt sich seine Sorge, dass sich in Deutschland organisierter Zorn auf der Straße entlädt und sich in Gelbwesten symbolisiert. Dazu müssten sich Gewerkschaften wie Verdi, die das Land mit Streiks lahm legen können, mit der Wut der Menschen über teure Klimawandel-Gebote verbünden und die Gegner westlicher Aufrüstung der Ukraine aus Angst vor russischen Atomschlägen müssten sich anschließen.

Zum Glück zeichnet sich so ein aggressives Anti-Regierungsbündnis wie in Paris nicht ab. Noch macht jeder seins. Verdi will so viele Prozente wie möglich aus den Verhandlungen mit den Arbeitgebern herausholen und übt ansonsten Solidarität mit der Ukraine. Dass die österliche Friedensbewegung die Regierung dazu auffordert, keine Waffen mehr an die Ukraine zu liefern, und nach Frieden sofort verlangt, ist sogar verständlich und war zu erwarten. Diese Einseitigkeit hatte jedoch Konsequenzen. Der DGB wie die Partei Die Linke, beide traditionelle Ostermarschierer,  hielten sich diesmal wegen der politischen Schlagseite fern.

Russland ist die Trennlinie, wie sich schon an den verschiedenen Friedens-Manifesten ausgewählter Prominenter wie Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht zeigte. Schon wahr, Solidarität für die Ukraine und Sorge vor der Eskalation des Krieges halten sich in der Bevölkerung die Waage. Aber nicht zufällig zögert Sarah Wagenknecht mit der Gründung einer Partei nach ihren Vorstellungen. Unterschriften zu sammeln ist nicht besonders schwierig. Es ist so schön unverbindlich, schriftlich für Frieden und gegen den Atomkrieg einzutreten. Aber eine Partei aus dem Boden zu stampfen, ist eine ganz andere Sache. Parteien entwickeln sich langsam von unten, nicht schnell von oben, das lehrt die Erfahrung.

So bleibt es fürs Erste dabei, dass die Regierung für ungeschicktes Vorgehen demoskopisch abgestraft wird. Aber ihre Zumutungen sollten Scholz/Habeck/Lindner besser als bislang erklären, sonst schüren sie das frei flottierende Ressentiment. Es geht ja um ziemlich viel, in jeder Hinsicht.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Oh Bayern, oh BVB

In dieser Woche habe ich mir beide Pokalspiele angeschaut, in denen der Beste und der Zweitbeste der Bundesliga spielten. Am Dienstag war der FC Bayern gegen den Freiburger SC zugange, am Mittwoch spielte mein BVB in Leipzig. Dass der BVB verlor, lag von vornherein im Bereich des Möglichen. Dass der FC Bayern verlor, hätte vorher niemand geglaubt.

Die Spiele fielen völlig unterschiedlich aus. Bayern war maßlos überlegen. Der BVB maßlos unterlegen. Bayern schoss immerhin ein irreguläres Tor, das der Video-Schiedsrichter, falls er nicht gerade in sein Vesperbrot gebissen haben sollte, monieren musste, aber nicht monierte. Der BVB schoß in der vorletzten Minute zum ersten Mal gefährlich auf das Tor. Herzlichen Glückwunsch.

Die Gründe für beide Niederlagen sind nun wirklich old school. Die Mannschaften mögen Spielzüge so lange üben, bis sie zu Automatismen werden, wie es in der Techniker-Sprache der Trainer heißt. Die Trainer mögen sich etwas einfallen lassen, womit der gegnerische Trainer überrascht wird. Kurze Ecken können einstudiert werden, um die Standards, wie es auch so schön heißt, unberechenbar zu machen. Der Video-Trainer mag Szenen zusammenstellen, aus denen sich die Taktik der generischen Truppe plastisch ergibt, so dass sie auch noch der letzte Hirnbeiß versteht. Alles schön und gut, aber manchmal kommt es eben auf anderes an.

Bayern vermochte aus seinem Powerplay nur wenige ernsthaft gefährliche Spielzüge zu entwickeln, mit denen sie dem Tor der Freiburger nahe gekommen wären. Effizienz entsteht durch die Wucht, die aus dem Willen kommt, jetzt unbedingt ein Tor zu schießen und zwar egal wie. Aus dem Willen entsteht die Kraft, die dem verteidigenden Gegner allmählich die Kraft raubt und ihn zu Fehlern zwingt. Deshalb fallen so viele Tore innerhalb der letzten zehn Minuten oder in der Nachspielzeit. Die Wucht lässt dann nicht nach. Die Mannschaft glaubt daran, dass irgendwie irgendwann noch ein Tor fallen wird und hört nicht damit auf, über die Außen Flanken schlagen zu lassen, die im Zentrum ein Zufallstor produzieren.

Freiburg kämpfte aufopferungsvoll, schlug die Bälle blind nach vorn, wo kein eigener Stürmer stand, weil sie alle mit verteidigten auf Teufel komm raus. Sie wollten nicht schon wieder 5:0 verlieren, so sah es für mich aus. Sie wollten ihre Haut so teuer wie möglich verkaufen. Wie aus Zufall waren sie höllisch effizient. Und wie es sich in Pokalspielen eben manchmal fügt, hatten sie Glück für fünf Spiele und bekamen in den letzten Sekunden einen berechtigten Elfmeter zugesprochen, den Lucas Höler sicher verwandelte.

Am Ende läuft die Ursachenforschung darauf hinaus, dass es den Bayern, vielleicht aus Überheblichkeit, vielleicht in Fehleinschätzung ihrer Form nach dem geschenkten Sieg über den BVB, an Esprit und Wucht mangelte. Sie spielten, als könnten sie nicht glauben, dass Freiburg gewinnen kann. Freiburg warf sich ins Spiel in der Hoffnung, eine Packung vermeiden zu können und mit dem Hintergedanken, Chancen zu nutzen, falls sie sich ergeben sollten. Der Unterschied bestand darin, dass die Bayern in Routine erstarrten, während Freiburg erst ein Sonntagstor schoß und dann eben den Elfmeter, den ihm das Schicksal bescherte, dankend verwandelte.

In München brachte sich der BVB selber aus dem Rhythmus, als sein Torwart ein Luftloch schlug. So ein Tor schwächt ungemein, ist eine Demütigung für die gesamte Mannschaft und raubt den Anfangsschwung. Der BVB erholte sich nicht davon.So ein Luftloch-Tor baut den Gegner auf, dem das Schicksal an diesem Abend wohl gesonnen ist. In Leipzig ließ sich der BVB überwältigen, brachte keinen sicheren Spielaufbau zustande, rannte immer hinterher, verlor ständig Bälle im Mittelfeld und bezog noch ein verhängnisvolles Tor, als Kobel bei der Ecke in der letzten Minute der Nachspielzeit im generischen Strafraum auftauchte. Das 0:2 bedeutete dann wieder so ein demütigendes Tor, von dem sich eine Mannschaft bis zum nächsten Spiel erholen muss, sonst setzt es gleich noch eine Niederlage.

Leipzig wollte unbedingt die Negativserie mit drei Niederlagen ohne eigenes Tor beenden. Der Trainer, der den BVB aus eigener Erfahrung kennt, hatte sich eine erfolgreiche Taktik ausgedacht: Greift sie sofort an, gleich hinter dem Strafraum, lasst sie nicht zur Entfaltung bringen, nehmt ihnen den Atem, bringt sie aus der Fassung. Der Dortmunder Trainer hatte auf Defensive gesetzt, aber mit Spielern wie Öczan oder Can lässt sich nur bedingt ein feines Angriffsspiel aufziehen, das ist nicht ihre primäre Aufgabe. Sie sollen Angriffe im Mittelfeld unterbinden und Gegenangriff ermöglichen, die dann Brandt und Reus und Malen ins Laufen bringen. Nichts davon klappte. Der BVB ging unter. War chancenlos. Brachte einen gelungenen Angriff in der vorletzten Minute zustande, doch den satten Schuss meisterte der Leipziger Torwart.

Was lernt uns das? Der Kader der Bayern ist lange nicht so gut, wie er von Kahn und Brazzo eingeschätzt wird. Tuchel muss wie Nagelsmann erkennen, dass zu wenig Leben in der Mannschaft steckt und Leute wie Mané vermutlich gar nicht zu ihr passen. Hinter dem BVB liegt womöglich die beste Phase dieser Saison. Die Bayern bieten geradezu an, dass eine andere Mannschaft Meister wird, aber dieser BVB wird es nicht sein. Malen passt wie Mané nicht recht zur Mannschaft und solange Brandt seiner Form hinterher läuft, fehlt der entscheidende Faktor hinter dem Zentrum. Zwar bietet sich Reyna als Ersatz an, der aber unter Terzić auf der Ersatzbank verhungert.

Der BVB spielt morgen gegen Union. Bayern in Freiburg, wie seltsam, und dann am Mittwoch gegen ManCity, oha.