Weisst Du noch, damals in Hamburg

Vor einigen Tagen starb jemand, den ich in meinem früheren Leben in Hamburg gekannt hatte. Er gehörte zu einer Freundes-Clique, in die wir am Rande integriert waren. Die anderen kannten sich schon seit dem Studium, wenn nicht aus der Schule; außerdem gehörten sie alle demselben Club an der Alster (Hockey/Tennis) an. Mir schien darin das Hamburg-Syndrom zu liegen: Kindergarten, Grundschule, Gymnasium, Studium möglichst in Hamburg. Im Studium allenfalls ein Auswärts-Semester, meinetwegen in Freiburg oder irgendwo sonst, dann aber zurück in die Stadt und in die Kanzlei einsteigen, die dem Vater, dem Schwager oder dem Freund der Familie gehört oder auch in die Holding, in der das Vermögen der Ehefrau steckt.

Die Freunde in der Clique waren samt und sonders Juristen, auch so ein Phänomen. In meinem Studium (Germanistik/Geschichte/Philosophie) in Heidelberg und Mainz hatte ich einen exotischen Freund, der Theoretische Mathematik als Assistenzprofessor lehrte, ein Mann von nüchternstem Pragmatismus. Alle anderen Freunde studierten Geisteswissenschaften. Juristen sind ein eigener Menschenschlag habe ich damals in Hamburg gelernt. Genauer gesagt: Juristen aus Hamburger Bürgerfamilien bilden ein eigenes Milieu, sozial wie kulturell.

Um das Bild abzurunden, muss man auch deren Frauen erwähnen. Auch sie stammten zumeist aus wohlhabenden Familien, behielten jedoch ihre Privilegien für sich – ich dachte mir, aus Scham, verstand es aber überhaupt nicht, dass sie ihre Herkunft geschwiegen, während sie über das Verschweigen der deutschen Schuld mit Zitaten aus Mitscherlich und Adorno räsonnierten. Ihr typischer Beruf war Lehrerin. Sie wohnten in schönen Altbauwohnungen, führten lange Grundsatzdiskussionen, wie oft eine Putzfrau in der Woche kommen sollte, und gingen regelmäßig in die Therapie, wahlweise Analyse. Will sagen: Sie waren weitgehend mit sich selber beschäftigt und der Therapeut/Analytiker wurde zum Freund, der sich wie selbstverständlich als Ratgeber in die Ehe einmischte. So war das in den 1980er Jahren.

Die Frau des Mannes, der gerade verstorben ist, hatte vier Kinder und studierte Medizin. Die anderen Frauen mokierten sich über sie. Ihnen war sie wie ein lebender Vorwurf; so ging es also auch. Nicht nur Männer wollten Karriere machen, sondern auch einzelne Frauen aus dem Hamburger Milieu der Bürgertöchter. Ich mochte sie gerade wegen ihres Ehrgeizes, mit dem sie aus der Rolle fiel. Ihr Alltag war eine große Anstrengung, das konnte man sehen. Was sollte falsch daran sein? Sie hätte es nicht nötig gehabt, denn Ihr Mann hatte von Haus aus viel Geld und dazu ein goldenes Händchen bei seinen beruflichen Projekten. Seine Freunde nannten ihn, den Ältesten unter ihnen, einen herausragenden Juristen. Ich fand ihn hochfahrend und staunte über das Urteil seiner Freunde. Wir spielten Skat, zusammen mit seinen Eltern, die ich mochte.

Wir kamen uns nicht nahe. Wir verloren uns aus den Augen, als wir aus Hamburg 13 etwas weiter aus dem Zentrum gezogen waren. Für die Juristen, die rund um die Alster wohnten, war es undenkbar, zu uns nach Schnelsen zu fahren. So viel Dünkel musste sein.

Der Grund, weshalb der Verstorbene in meinem Leben eine entscheidende Rolle spielte, ist kompliziert und soll hier der Diskretion anheimfallen. Jedenfalls trug er in einer dramatischen Lebensphase dazu bei, dass mein Leben genau die Wendung nehmen konnte, die ich anstrebte. Dafür schulde ich ihm beileibe nicht Dank; er hatte keine Ahnung von meinen Überlegungen. Aber die frühe Hamburger Zeit in einer Clique, in die ich nicht passte, mit einer merkwürdigen Langzeitwirkung über die Freundschaft hinaus, tauchte in meinem Gemüt wieder auf, als ich von diesem Tod erfuhr.

Das Orakel verstummt

Wenn ich ihn in seinem New Yorker Büro aufsuchte, redeten wir immer erst einmal über Fußball. Mit Fußball war Henry Kissinger aufgewachsen, Fußball wurde zu seiner Leidenschaft, zum Ärger seiner orthodoxen Eltern. Die Spvgg Fürth, die Mannschaft seiner Geburtsstadt, die dreimal Deutscher Meister geworden war, blieb lebenslang sein Lieblingsverein. Er selber war auf dem Bolzplatz ein Allrounder gewesen: mal Torwart, mal Verteidiger, mal Mittelfeld. 

Im Alter besaß er eine tiefe, vibrierende Stimme, die ihr eigenes Echo im Leib zu erzeugen schien. Er formulierte bestechend, er war klar im Kopf bis zu seinem Tod. So lange es ging, flog er um den Erdkreis, denn viele Staats- und Regierungschefs wollten mit ihm reden, seinen geschichtlichen Ableitungen lauschen, seine Einschätzungen hören.

Er saß dann unbewegt in tiefen Sesseln, ziselierte seine Gedanken, seine Augen huschten hin und her, mal ernst, mal belustigt, mal genervt. Denken und Reden ermüdeten ihn nicht. Er war das ultimative Beispiel dafür, dass der Geist noch sprühen kann, selbst wenn der Körper verfällt. Und immer blieb sein Englisch vom Fränkischen seiner Heimat gefärbt.

Henry Kissinger war einer klügsten Menschen, die je politische Ämter innehatten. Er war ein Gelehrter, den es zum Handeln drängte. Ein Professor, der über Macht und Ordnung kluge Bücher geschrieben hatte und als Politiker 1973 den Friedensnobelpreis erhielt, weil er den Vietnam-Krieg beenden half. 

Er wurde geliebt und gehasst. Für die Presse, die er großzügig bediente, war er das seltsame Phänomen, das sie ausdauernd umkreisten. „Time“ und „Newsweek“ widmeten ihm zahllose Titelgeschichten. Die bunten Blätter Interessierten sich brennend dafür, mit welcher Frau, welchem Model, welchem Filmstar er in welchem Restaurant gesehen worden war. Er war der Rockstar der Regierung Nixon – ausgerechnet er, der Gelehrte mit der goßen Brille und dem starken Akzent, der bestimmt nicht nach Hollywood aussah.

Auch für Verschwörungstheoretiker war Kissinger ein gefundenes Fressen: Sie erklärten ihn wahlweise zu einem Sowjetspion oder zu einem britischen Agenten, gerne aber auch zum Protagonisten einer jüdischen Weltverschwörung. Joseph Heller verewigte ihn in seinem Roman „Good as Gold“, Woody Allen drehte einen Kurzfilm, in dem er ihn Harvey Wallinger taufte und ins Lächerliche zog. Einige Biographen fanden es angemessen, ihn einen „Hofjuden“ zu nennen. 

Antisemitismus schwang nur zu oft bei den Kissinger-Verächtern mit. Das muss seltsam gewesen sein für einen Juden, der als Kind Deutschland verlassen musste und später erfuhr, dass die Nazis 23 Verwandte umgebracht hatten.

Mit den Eltern und seinem kleinem Bruder Walter kam Kissinger 1938 in New York an. Ein ausgewanderter Cousin seiner Mutter bürgte für die Familie. Der ältere Sohn war 15, hieß eigentlich Heinz-Alfred, und amerikanisierte sich zu Henry.

Er studierte in Harvard, er war brillant, wusste es und ließ es spüren. Er liebte Kant, der ihn mit seiner Denkungsart stark beeinflusste. Geschichte verstand er politisch und interessierte sich vorrangig dafür, wie sich Macht bildet und wie sie Ordnung in das Chaos bringt: nach dem Dreißigjährigen Krieg, nach den Napoleonischen Kriegen, nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert. Seine erste große Arbeit als Student trug in schönster Unbescheidenheit den Titel: „The Meaning of History“ – „Der Sinn der Geschichte“.

Geschichte wollte er jedoch nicht nur analysieren, sondern auch gestalten. Er war noch keine 40, da beriet er schon John F. Kennedy und danach Lyndon B. Johnson. Aber ausgerechnet Richard Nixon, über den er abfällige Bemerkungen gemacht hatte, holte ihn als Nationalen Sicherheitsberater ins Weiße Haus und lieh ihm sein Ohr. Das war im Januar 1969 und Amerika führte einen schrecklichen Krieg in Vietnam.

Vietnam war nicht Nixons Krieg. Er erbte ihn. Henry Kissinger hatte ihn schon Jahre zuvor falsch und verhängnisvoll für Amerikas Stellung in der Welt genannt. Zu gewinnen war dieser Krieg 1969 nicht mehr, weder militärisch noch moralisch. Die Verbündeten in Saigon waren korrupt und schwach. In Amerika gingen Studenten in Massen auf die Straßen, verbrannten amerikanische Flaggen und zerrissen Einberufungsbescheide. Joan Baez und Bob Dylan sangen die Antikriegslieder der Gegenkultur. 

Vietnam war der Sündenfall der Supermacht Amerika. Dieser Krieg, der nur aus der Paranoia der bipolaren Welt zu verstehen war, spaltete Amerika und schwächte die westliche Supermacht ungemein. Die Folgen reichen bis in die Gegenwart.

Nixon wie Kissinger wollten den Krieg beenden, aber auch Amerikas Niederlage begrenzen. Daraus entstand eine Doppelstrategie, die nur in der Theorie schlüssig war, aber in der Praxis scheitern musste. Sie weiteten den Krieg auf Kambodscha aus und betrieben gleichzeitig Geheimdiplomatie, um Friedensgespräche einzuleiten. Sie eskalierten den Krieg mit Napalm und B-52-Bombern, um ihn zu beenden. Diese Paradoxie verlängerte das Leid und Amerika wurde irre an sich selber.

Der Urheber der Strategie, Henry Kissinger, wurde verteufelt. Wahlweise nannten sie ihn Dr. Evil oder Mephisto oder die Reinkarnation von Machiavelli.  Für das linke Amerika war er eine höchst verachtenswerte Person, die für das Böse in der Welt verantwortlich war, sei es Vietnam, sei es die Ermordung Salvador Allendes, seien es die Morde der Militär-Junta in Argentinien.

Sechs Jahre lang regierte das seltsame Duo Kissinger/Nixon die Supermacht Amerika. Dann war es vorbei. Nixon stürzte 1975 nicht über Vietnam, sondern über Watergate, den Einbruch in das Hauptquartier der Demokraten. Wie sich Präsident und Sicherheitsberater voneinander verabschiedeten, war bezeichnend für ihr Verhältnis.

Der Präsident wird am nächsten Tag zurücktreten, das Land fiebert danach. Das Weiße Haus ist wie ausgestorben, Henry Kissinger räumt seinen Schreibtisch auf. Nixon ruft ihn zu sich. Die beiden unterhalten sich darüber, was gewesen ist und was bleiben wird. Kissinger tröstet Nixon damit, dass ihn die Geschichte freundlicher beurteilen werde als die Gegenwart. Er steht auf, will sich verabschieden, da bittet ihn Nixon, noch kurz zu bleiben und mit ihm zu beten. Sie beten zusammen, der paranoide Präsident und der erste Einwanderer, der je in ein so hohes Regierungsamt berufen wurde.

Henry Kissinger ist alt genug geworden, um zu erleben, dass ihn die Geschichte besser behandelt als die Gegenwart. Dafür sorgte er natürlich auch selber: mit seinen zahlreichen Büchern über die Regierungsjahre, in vielen Interviews, die auf YouTube erhalten sind, und mit seinen Memoiren. Er war sein eigener Geschichtsschreiber, sein eigener Homer.

Die Jahre im Weißen Haus liegen nun schon ewig lange zurück, 44 Jahre. Die alten Kämpfe sind verblichen und neuen gewichen. Viele Feinde, viele Verächter von ehedem sind tot und vergessen. Henry Kissinger überlebte sie alle und meißelte beharrlich an seinem Standbild in der Geschichte. Jeder Präsident  suchte seinen Rat, jede bedeutende Konferenz schmückte sich mit ihm. Er verstand es im Gespräch zu bleiben, er blieb eine überragende Figur der Zeitgeschichte, denn er trug immer Substantielles zu den großen Zeitfragen bei.

China und Amerika? Ein Konflikt sei unvermeidlich und die Katastrophe, die daraus entstehen könne, „schlimmer als die beiden Weltkriege“ – es sei denn, die beiden Weltmächte brächten es fertig, ihre Konflikte einzudämmen. Ordnung in der Welt, doziert er immer wieder, entsteht nur durch die Selbstbeschränkung der Großmächte, woraus ein Gleichgewicht hervorgeht, das kleine, begrenzte Kriege nicht zu großen Vernichtungskriegen werden lässt – wenn es hoch kommt für 50 Jahre, vielleicht sogar für 100 Jahre. Denn Geschichte, das war für Henry Kissinger der immerwährende Rhythmus aus Anarchie und Ordnung, aus Krieg und Befriedung, aus Aufstieg und Niedergang der Kulturen.

Wer so alt wird, dem sieht man vieles nach. Am Ende seines Lebens war Henry Kissinger wie ein antikes Orakel, das seine Kenntnisse aus einer Tiefe schöpft, die anderen Zeitgenossen verschlossen bleibt. Nun ist das Orakel verstummt. 

Veröffentlicht auf t-onöone.de, heute.

Ampelfußball

Normalerweise freue ich mich bei einem Fußballspiel der deutschen Nationalmannschaft über gelungene Szenen und fluche über misslungene. Gestern Abend aber war ich still. Fassungslos. Apathisch. 

Grausam schlecht der Sturm, das Mittelfeld und die Abwehr. Keine einzige Torchance in fast 100 Minuten. Die Österreicher schienen überrascht von der armseligen Vorstellung zu sein, sonst hätten sie leichthin 4:0 oder 5:0 gewonnen. Auch hinterher zeigten sie Mitleid mit uns, das ist die Höchststrafe. Wir sind im freien Fall in die Bedeutungslosigkeit.

Nun lässt sich der Sport immer auch als Spiegelbild des Landes verstehen, das er repräsentiert. Der Vergleich trifft mal  mehr, mal weniger ins Schwarze, aber selten traf er dermaßen ins Schwarze wie in diesen Tagen.

Eigentlich gibt es ja keine einzige Sphäre der Gesellschaft, die frei von Krisenerscheinungen wäre. Deutschland ist das einzige Land in Europa in der Rezession. Konzerne kommen nur dann ins Land, wenn Milliarden Euro an Subventionen winken. In der Digitalisierung sind viele Länder viel weiter als Deutschland. Am Krieg in der Ukraine werden die üblichen Talk-Show-Gäste allmählich müde, ohne die Folgen zu bedenken. Der Krieg im Gaza treibt Künstler und  Schriftsteller in verschiedene Lager, als ließe sich dagegen nichts tun. Die antikoloniale Grundstimmung an den Universitäten richtet sich eher gegen Israel als gegen die Hamas. Dazu der grassierende Antisemitismus in der arabischen Community, aber auch unter deutschen Linken, während die Rechte es aus Islam-Feindseligkeit mit Israel hält: Ziemlich viel auf einmal, ziemlich peinlich, verkehrte Welt.

Deutschland war ehedem berühmt für seine verlässliche Fähigkeit zum Konsens, der auch schon mal biedermeierlich ausfiel. Die Deutschland AG war eine Symbiose aus Wirtschaft und Politik; dazu waren die Gewerkschaften notorisch kompromissbereit. Verfassungspatriotismus war die philosophisch begründete Übereinkunft nach dem Zweiten Weltkrieg.

Deutschland, ein langweiliges, gefestigtes Land? Vorbei, verweht.

Dissens ist heute der Normalfall. Rechthaberei und Verweigerung von Diskussionen, vor allem an Universitären. Minderheiten beharren auf ihrem Recht, was ja in Ordnung ist, aber wo bitte geht es zum Konsens, der ja keinesfalls ein Luxusprodukt ist? Jeder macht seins und stellt Ansprüche an Staat und Regierung, die ansonsten gering geschätzt sind.

Deutschland ist weder ein langweiliges, noch ein gefestigtes Land. Es gibt nur einen Nutznießer am Auseinanderdriften der gesellschaftlichen Sphären, das ist die Rechte, die AfD.

Nun zur  Bundesregierung: Wie lange hält sie durch? Genauso ratlos wie Julian Nagelsmann antworten Christian Lindner, Robert Habeck und Olaf Scholz auf berechtigte Fragen nach dem Wie-kommen-Sie-jetzt-aus-dieser-Falle-heraus.

Auch an weniger bitteren Tagen haben sich die drei Parteien zuverlässig in ihre Einzelteile zerlegt. An etwaiger Einigkeit, ausgelöst durch die Angst vor dem Machtverlust und die Folgen fürs politische System, glauben nur fröhliche Optimisten. In der FDP rufen sie nach dem Austritt aus der Regierung. Machtversessen und machtvergessen, als käme es auf sie an, ist diese schrumpfende Partei.

Die verschärften Schwierigkeiten für die Regierung und damit fürs ganze Land rühren vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Interessant wäre es herauszufinden, ob die Richter über die Konsequenzen ihres Urteils genau Bescheid wussten oder davon unangenehm überrascht wurden.

Die vielen Milliarden aus dem verworfenen Klima- und Technologiefonds sollten ja in die Modernisierung Deutschlands fließen: ökologische Gebäudesanierung, Elektromobilität und neue Wasserstoff-Technologien, Investitionen in Mikroelektronik und Chipindustrie. Da folglich auch der zweite Buchhaltungstrick, der Wirtschaftsstabiliserungsfonds, nicht verfassungskonform sein kann, fällt das ganze Gebäude, das sich die Dreier-Koalition gegönnt hat, geräuschvoll in sich zusammen. Und somit ist die  Transformation des Landes und seine Zukunftsfähigkeit ernsthaft bedroht.

Was für ein Drama, an dem wir Zeugen sind. Wie endet es? Wir müssen an uns arbeiten, sagt Julian Nagelsmann, der unglückliche Bundestrainer. Was aber sagt der unglückliche Bundeskanzler, wie er den Ausgang des Dramas beeinflussen will? Wird höchste Zeit, dass er sich dazu äußert.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Penis-Colada mit Mr. Brexit

Lange nichts gehört von Nigel Farage, dem bunten Vogel, dem Großbritannien einiges zu verdanken hat, zum Beispiel den Austritt aus der Europäischen Union. Vermutlich langweilt er sich, seitdem er nicht mehr sein Land aufmischen darf. Vielleicht sucht er diese herrliche Aufmerksamkeit, die ihm vor nicht allzu langer Zeit zuteil geworden war, oder er braucht schlichtweg Geld wie Eike Immel. Egal warum, ab diesem Sonntag bevölkert Farage die Mutter aller Dschungelcamps auf dem Sender ITV und damit ist er natürlich die Sensation der neuen Staffel. Eine Million Pfund bekommt er dafür, nicht schlecht, oder?

Auf deutsche Verhältnisse übertragen ist das ungefähr so, als würde Alexander Gauland ins Dschungelcamp einziehen und dann ein angebrütetes Entenei verspeisen oder am Penis-Colada teilnehmen. Bizarre Vorstellung, ich weiß und will sie gar nicht vertiefen, auch wenn sich die beiden Herren in ihrer Wirkmächtigkeit auf die politischen Verhältnisse durchaus ähnlich sind. Gauland ist der Gottvater der AfD, Farage der Gottvater des Brexit.

Großbritannien muss in diesen Tagen gleich zwei halbwegs vergessene Wiedergänger verkraften. Der Zufall fügt es, dass auch David Cameron aus dem Nirwana zurückkehrt. Er war mal konservativer Premierminister und ließ es sich im Jahr 2016 einfallen, ein für allemal das leidige Problem Europa durch ein Referendum zu erledigen, denn er war felsenfest davon überzeugt, dass er es gewinnen würde, wobei er freilich nicht mit Nigel Farage gerechnet hatte, der einen fulminant hysterischen Wahlkampf hinlegte. Cameron trat daraufhin zurück, Farage triumphierte, bevor er sich wenig später auch aus der Politik zurückzog. Warum, verstand so ziemlich niemand außer ihm. Aber die Tories sind ja heutzutage genauso selbstvergessen radikal wie es Farage war. Sie sind seine Memes.

Cameron bekommt es jetzt mit Annalena Baerbock und Tony Blincken zu tun. Farage darf sich mit Britney Spears Schwester Jamie Lynn verlustieren, die von sich sagt, sie sei bestens bekannt als Sängerin und Schauspielerin. Na ja, lässt sich vorsichtig einwenden, wenn überhaupt, kennt man sie als Schwester. Dazu begegnet Farage im Dschungel Nella Rose, einer belgisch-britischen Größe aus der Welt der Social Media, was ihm schwerfallen dürfte, weil er ja das weiße Großbritannien eindeutig dem farbigen vorzieht, wobei ihn allerdings die polnischen Klempner und die deutschen Ärzte noch mehr gestört hatten.

Farage ist schon in Australien gelandet, um sich seelisch und ästhetisch auf die kulinarischen Herausforderungen einzustellen. Natürlich hat er ausschließlich Hehres im Sinn. Nicht am staffelüblichen Lästern über abwesende Eherauen möchte er teilhaben und auch das Nacktduschen mit einer reizenden Kandidatin liegt ihm fern. Nein, am Kontakt zu den jungen Wählern liegt ihm, denen er seine politischen Überzeugungen nahe bringen möchte, so sagt er uns. Welche Überzeugungen waren das noch mal? Ah ja.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Sie hoffen auf einen permanenten Krieg

Die israelischen Streitkräfte werden also täglich vier Stunden die Waffen ruhen lassen, mit denen sie den nördlichen Teil des Gaza-Streifens an der Küste ohnehin in eine Trümmerwüste verwandelt haben. Das Ziel ist es, die Hamas soweit zu schwächen, dass sie nicht mehr imstande sein wird, dieses Gebiet zu regieren.

Von der Hamas wissen wir, dass sie Tausende ihrer Kämpfer zum Ermorden möglichst vieler Zivilisten hinüber nach Israel schickte. Dass sie ihre Stellungen mitten unter ihren eigenen Zivilbevölkerung aufgebaut hat, sei es in Tunneln, sei es in der Nähe von Krankenhäusern. Ansonsten ist die Hamas  eine anonyme Größe.

Nicht mehr gänzlich anonym allerdings, denn einige ihrer politischen Führer, die sich erstaunlicherweise in Doha aufhalten, haben sich jetzt zu Wort gemeldet. Dabei geben sie einen Einblick in ihre Denkweise und die Begründung für diesen Krieg.

Dass Israel Rache für das Inferno am 7. Oktober üben würde, war ihnen nicht nur klar, sondern es war sogar die erwünschte Konsequenz. Dass jetzt viele Tausende Männer, Frauen, Kinder im Gaza sterben, hilft ihnen beim Erreichen ihres Zieles – den Status quo im Nahen Osten zu zerschmettern. Es sei notwendig gewesen, die ganze Gleichung auf den Kopf zu stellen, anstatt nur einen der üblichen Konflikte zu provozieren, sagt Khalil al-Hayya, der zum engsten Führungszirkel der Hamas gehört, und ergänzt: „Uns ist es gelungen, das palästinensische Problem wieder in den Vordergrund zu rücken. Jetzt ist die ganze Region aus ihrer Ruhe gerissen.“

Versteht man Hamas-Anführer wie al-Hayya recht, sind sie froher Hoffnung, dass der Krieg mit Israel zum Dauerzustand wird, so dass sich die Aussicht auf Koexistenz mit arabischen Staaten zerschlägt. „Ich erhoffe mir, dass ein permanenter Krieg an allen Grenzen Israels tobt und die arabischen Länder an unsere Seite zieht,“ sagt Taher el-Nounou, ein Hamas-Berater.

„Die New York Times“ hat den mörderischen Überfall am 7. Oktober rekonstruiert. Ihn habe eine kleine Gruppe aus Kommandeuren im Gaza ersonnen – ohne Abstimmung mit der Führung in Doha oder der Hisbollah im Libanon, den Brüdern im Geiste, welche die Juden aus dem Nahen Osten vertreiben wollen. Offenbar waren die Gleitflieger und Kämpfer aus den Tunneln selber überrascht, wie leicht sie nach Israel eindringen konnten und auf welch geringen Widerstand sie dort stießen. Die israelische Führung hatte, in maximaler Fehleinschätzung der Gefahrenlage, mehrere Divisionen ins Westjordanland verlegt.

Oberflächlich gesehen, herrschte ja tatsächlich Ruhe im Gaza in den Monaten vor dem 7. Oktober. Israel war dabei, das Verhältnis zu Saudi-Arabien zu normalisieren – ausgerechnet Saudi-Arabien, das die Palästinenser als ihren Patron ansahen. Zwei Jahre zuvor hatten Bahrain und die Vereinten Arabischen Emirate Friedensverträge mit Israel geschlossen. Auch Katar und Oman haben mittlerweile Israel anerkannt. Die Region war drauf und dran, sich mit Israels Existenz auszusöhnen.

Keines dieser Länder bezog die Palästinenser bei ihren Verträgen ein, genauso wenig wie Jahrzehnte zuvor Jordanien und Ägypten Rücksicht auf sie genommen hatten. Für arabische Länder sind die Palästinenser kein Machtfaktor, sobald es um ihre eigenen Interessen geht. „Nur eine gewaltige Aktion konnte diese Entwicklung unterbrechen,“ sagt Hamas-Führer al-Hayya.

Die entscheidende Figur innerhalb Gaza ist seit 2017 Yaya Sinwar. Er ist 61 Jahre alt und gründete die Kassam-Brigaden, die berüchtigt dafür waren, Selbstmordattentäter nach Israel zu schicken, vorzugsweise an Bus-Haltestellen. Im Jahr 1989 wurde Sinwar verhaftet und wegen Mordes an vier Palästinensern, die er für israelische Spione gehalten hatte, auf lange Zeit ins Gefängnis geschickt. Im Jahr 2011 kam er dann frei. Sinwar war einer von mehr als Tausend Gefangenen, die im Austausch mit Gilad Shalit, einen entführten israelischen Soldaten, zurück nach Gaza durften.

„Für mich ist es eine moralische Pflicht, alles dafür zu tun, dass diejenigen Gefangenen, die noch in israelischer Haft sind, bald freikommen,“ sagte Sinwar in einem Interview im Jahr 2018. Aus diesem Grund ließ er am 7. Oktober so viele Menschen wie möglich nach Gaza verschleppen. Mehr als 240 sollen es sein. 

Mit dieser Hamas ist kein Ausgleich denkbar. Insoweit liegt es nahe, ihre militärische Führung auszuschalten. Dass daraus kein Krieg in Permanenz entsteht, wie es sich al-Hayya und die anderen erhoffen, ist mehr als zu wünschen. Aber wie geht es weiter?

In nicht allzu großer Ferne müssen die arabischen Länder, die diplomatische Beziehungen mit Israel unterhalten, ihren Beitrag zu einer politischen Lösung leisten. Dabei kommt es auf die USA an, das jetzt schon zu Mäßigung aufruft und Vorschläge für eine Zukunft der Region unterbreitet. Gut möglich, dass sich der israelische Premier Benjamin Netanjahu gegen das Unvermeidliche am längsten sträuben wird.

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

„Die Armee geht gut und gründlich vor“

Dror Moreh, 62, ist ein international erfolgreicher israelischer Dokumentarfilmer, der mit „The Gatekeepers“, einer Serie über sechs frühere Inlandsgeheimdienstchefs, 2013 für einen Oscar nominiert war. Vor einem Jahr veröffentlichte er die Serie „The Corridors of Power“ über den Westen im Umgang mit Genoziden wie in Bosnien und Ruanda. Moreh lebt in Tel Aviv und Berlin.

t-online:Herr Moreh, wie geht es Ihnen und wo leben Sie?

Moreh: Ich lebe in Tel Aviv und Berlin. Israel ist mein Heimatland. Nie zuvor habe ich eine derartige Gefühlsmischung aus Traurigkeit und Frustration, Angst und Ungläubigkeit empfunden. Vor allem habe ich Zorn auf die Hamas wegen dieser Unmenschlichkeit am 7. Oktober – der Grausamkeit an Babies, Kinder, Frauen, Jugendlichen, Alten und Holocaust-Überlebenden. Sie haben sie massakriert und bei lebendigem Leib verbrannt. Acht Jahre lang hab ich an meiner Serie „The Corridors of Power“ gearbeitet, die sich mit den Antworten des Westens auf Genozide und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit dem Fall der Berliner Mauer befasste – von Bosnien bis Ruanda, von Darfur bis Syrien. Dafür habe ich hunderte Stunden Archivmaterial angeschaut. Nichts davon glich der Abscheulichkeit der Hamas.

Sind Freunde oder Bekannte unter den Geiseln?

Ja, einige unter ihnen kenne ich. Und wissen Sie, sämtliche Geiseln gehören zu meiner erweiterten Familie, so empfinde ich das.

Sind Freunde unter den Soldaten, die Krieg im Gaza führen?

Ja, auch Verwandte von mir sind jetzt dort.

Jaffa, wo Sie wohnen, ist der Teil Tel Avivs, in dem Araber neben Israelis wohnen. Nimmt die Spannung wieder zu wie damals vor zwei Jahren beim letzten Gaza-Konflikt?

Nein, kein Vergleich mit vor zwei Jahren. Ich weiß, dass viele Araber die Barbarei der Hamas verabscheuen; am 7. Oktober wurden ja auch etliche Araber getötet. Es stimmt zwar, dass es Stimmen gibt, die glücklich über den 7. Oktober sind, aber die Mehrheit der arabischen Israelis ist weit davon entfernt.

Sie haben international renommierte Dokumentationen über die israelischen Geheimdienste gemacht. Hat Sie das Versagen am 7. Oktober überrascht?

Ich war geschockt. Denn was an diesem Tag an Gräueltaten geschah, sollten sie kommen sehen, sollten sie verstehen und verhindern. Sie haben kläglich versagt und sie wissen es.

Wie erklären Sie sich, dass weder der Mossad noch Shin Bet wahrnahmen, was sich anbahnte?

Vor allem beim Shin Bet und der militärischen Aufklärung, die für die Beobachtung der Hamas verantwortlich sind, liegt das Versagen. Der Mossad trägt geringere Verantwortung, da er für Aufklärung außerhalb Israels zuständig ist.

Aber was ist der Grund für das Versagen?

Es gibt einen berüchtigten Begriff im Establishment der Dienste: Das Konzept. Damit ist gemeint, dass die Geheimdienste gemeinsam ein Konzept aus den Informationen erarbeiten, die sie gesammelt haben. An diesem Konzept halten sie dann fest. An dieser Starrheit litten wir im Krieg 1973, als der militärische Geheimdienst Informationen und Zeichen besaß, dass ein Krieg bevorstand, aber da gab es eben das Konzept, das besagte, dass Syrien und Ägypten nicht angreifen würden. Tatsächlich brach der Krieg aus. Dasselbe passierte am 7. Oktober. 

Die Chefs von Mossad und Shin Bet entschuldigten sich für ihre Blindheit, im Unterschied zu Premier Benjamin Netanjahu. Kann er politisch überleben, wenn nach dem Krieg die Schuldfrage gestellt wird?

Ich glaube, Netanjahu hat sich vollkommen isoliert von dem, was wirklich in Israel los ist – von der enormen Wut, dem Zorn und dem Abscheu, der ihm und seiner Familie entgegenschlägt. Meiner Ansicht nach ist das schon lange so. So sieht es auch die Mehrheit im militärischen Establishment. Netanjahu ist die größte Gefahr für das Überleben Israels und er sollte so schnell wie möglich aus dem Amt entfernt werden. Ich hoffe, dass er den Rest seines Lebens in einer kleinen Gefängniszelle verbringt.

In einer Ihrer Dokumentationen interviewten Sie sechs ehemalige shin-Beth-Chefs, die Kritik daran übten, was sie selber getan hatten.

Sie rügten, dass die Politiker nicht imstande waren, militärische Erfolge des Verteidigungsapparates in politische Lösungen umzusetzen, zumal in Zeiten relativer Ruhe ohne Terrorismus – oder es gar nicht wollten. Netanjahu ist der Premierminister, der die meiste Zeit seit der Ermordung von Jitzak Rabin regiert hat. Er tat immer wieder alles dafür, jede Hoffnung auf Frieden erstickte. Er förderte die Hamas, indem er zuließ, dass ihr hunderte Millionen Dollar zuflossen, während er die Autonomiebehörde im Westjordanland demütigte. Diese Politik ist am 7. Oktober auf schreckliche Weise explodiert.

Die Bodenoffensive ist weniger umfassend als erwartet. Das Ziel ist das Eliminieren der Hamas-Führung. Ist dieses Ziel realistisch?

Ich glaube, dass die Armee gut und gründlich vorgeht. Gaza ist ein hoch kompliziertes Kriegsgebiet. Die Hamas versteckt sich hinter und unter der Zivilbevölkerung. Sie macht das genauso wie der IS in Syrien. Nicht nur kümmern sie sich nicht um die Zivilisten, vielmehr ist ihnen daran gelegen, dass möglichst viele von ihnen sterben. Babies, Frauen und Kinder dienen ihnen als menschliche Schutzschilder. Wenn viele Zivilisten sterben, das ist die Logik, wird die internationale Gemeinschaft Israel stoppen.

Vorgestern hat Moussa Abu Marzouk, einer der Hamas-Anführer, in aller Schamlosigkeit gesagt, worum es geht: „Die Tunnel in Gaza dienen dem Schutz der Hamas-Kämpfer, nicht dem der Zivilisten. Der Schutz der Zivilisten liegt in der Verantwortung der Vereinten Nationen und Israels.“

Und erreicht die Armee das Ziel?

Das Ziel ist es, die Hamas-Führung auszuschalten, so dass sie künftig Gaza nicht mehr regieren kann. Der Preis wird hoch und schrecklich sein, aber er ist notwendig nach allem, was wir am 7. Oktober erlebt haben. Ich hoffe darauf, dass der Krieg dazu führt, dass sich danach eine neue Führung im Gaza um die Zivilbevölkerung kümmert. Die Hamas ist auf Zerstörung Israels und der Auslöschung des Volkes aus.

Bei einer Invasion fragt sich immer, wie die Armee wieder herauskommt. Sie waren ein Elite-Soldat: Wie sollte die Exit-Strategie Ihrer Meinung nach aussehen?

Na, da muss ich Sie enttäuschen, ich habe nur wie jeder Israeli meinen Wehrdienst geleistet. Aber Ihre Frage will ich mit einem Zitat des ehemaligen Inlandsgeheimdienstchefs Ami Ayalon beantworten, der in meinem Film „The Gatekeepers“ sagte: „Clausewitz, ein weiser Mann, sagte vor fast 200 Jahren, dass der Sieg schlicht darin besteht, eine bessere politische Wirklichkeit herzustellen.“ Nach der politischen und militärischen Eliminierung der Hamas hoffe ich darauf, dass in Israel eine neue Führung eine bessere politische Wirklichkeit mit moderaten arabischen Staaten in der Region erschaffen kann. Es wird schwer, es wird hart, aus heutiger Sicht erscheint es so gut wie unmöglich, aber dazu gibt es keine Alternative.

Präsident Macron schlägt vor, dass Israel zur Zwei-Staaten-Lösung zurückkehren sollte. Hat er recht?

Recht hat er schon, aber es würde Jahrzehnte dauern, bevor wir dieses Ziel erreichen könnten. Statt dessen sollten wir uns nach meiner Meinung bescheidenere Ziele für die Zukunft setzen. Aus heutiger Sicht ist Koexistenz eine Utopie. Dafür muss sich viel auf beiden Seiten ändern, in der Führung, aber auch in Erziehung und Bildung.

Der israelische Philosoph Omri Böhm schlägt eine Ein-Staat-Lösung vor, aber mit einer Föderation aus den sieben Millionen Israelis mit sieben Millionen Arabern.

Ich bin Pragmatiker. Das ist eine unrealistische Utopie ohne jede Chance auf Erfolg in der realen Welt.

Herr Moreh, vielen Dank für das Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

„Bloss nicht zündeln!“

Wolfgang Ischinger ist ein deutscher Diplomat und leitete jahrelang die Münchner Sicherheitskonferenz. Heute sitzt er deren Stiftung vor.

t-online: Herr Ischinger, offenbar sind viele Vermittler im Nahen Osten unterwegs, allen voran der US-Außenminister Tony Blinken, um eine Ausweitung des Krieges im Gaza auf die ganze Region zu verhindern. Haben Sie den Eindruck, der Versuch gelingt?

Ischinger: Das hoffe ich sehr, denn eine Ausweitung wäre eine militärische und humanitäre Katastrophe. Schon jetzt handelt es sich um eine gefährliche Krise, die sich global auswirkt. Denn nicht nur im Verhältnis zwischen Palästinensern und Israelis ist ein Tiefpunkt erreicht, sondern auch die westliche Iran-Politik und Nahost-Politik liegt blank. 

Was kann zum Beispiel die Hisbollah daran hindern, eine zweite Front zu eröffnen?

Erstens hoffentlich die Abschreckung durch die Präsenz der US-Marine in der Region und zweitens hoffentlich der iranische Einfluss, denn Iran kann aktuell eigentlich nicht an einem großen Krieg gelegen sein. Aber sicher kann man sich da nicht sein, denn Hass ist stärker als Vernunft.

Iran ist die entscheidende Macht, die Hamas und Hisbollah in jeder Hinsicht alimentiert. Haben Sie den Eindruck, dass es Versuche gibt, mit dem Regime in Teheran zu reden?

Natürlich gibt es solche Versuche. Die USA waren gerade auf gutem Wege, mit Iran einen Kompromiss über die Begrenzung und Überwachung des Atomprogramms auszuhandeln. Dazu gab und gibt es viele Gespräche, aber natürlich auch zwischen Iran und anderen Mächten wie Russland und China.

Welche Botschaft sollte Iran mitgeteilt werden?

Bloß nicht zündeln! Wenn Iran in dieser Lage Zurückhaltung und Verantwortungsbereitschaft zeigen sollte, könnten unter Umständen einige Sanktionen in der Folge erleichtert werden. Mir fehlt allerdings, was die Mullahs anbelangt, der Glaube an der Bereitschaft zur Mäßigung.

Welches Land könnte am ehesten in Teheran Gehör finden

China hat es geschafft, Iran und Saudi-Arabien zum Händeschütteln zu bewegen; darauf lässt sich aufbauen. Die USA besitzen die Sanktionswaffe. Wir Europäer haben nichts.

Was kann Diplomatie in Zeiten von Krieg eigentlich erreichen?

Diplomatie kann auch schon im Krieg eine wichtige Rolle übernehmen. Aber um Krieg führende Parteien zum Frieden zu bewegen, reicht Diplomatie allein oft nicht aus. Konfliktdiplomatie ohne militärische Machtoption bleibt meistens ein zahnloser Tiger. Das wollten wir in Deutschland mit unserer Vorliebe für „Frieden schaffen ohne Waffen“ allzu lange nicht wahrhaben. 

Wie lässt sich Vertrauen aufbauen, wenn doch Hass und Rachsucht überwiegen?

Vertrauen, so sagt man unter Diplomaten, ist die Währung der Diplomatie. Vertrauen ist leicht zu verlieren – siehe Putins Lügengespinst um den Großangriff auf die Ukraine. Vertrauen ist nur sehr schwer zurück zu gewinnen und dauert oft Jahre. Mein Rezept für Unterhändler lautet so: Ganz klein anfangen. Der Getreide-Deal wäre ein guter Beitrag für Vertrauensbildung gewesen, wenn Russland ihn dauerhaft respektiert hätte.

Wie kann Vertrauen entstehen, wenn doch Misstrauen aus Erfahrung tief verwurzelt ist?

In der Rüstungskontrollpolitik sagt man: Vertraut nicht, verifiziert! Das konkrete Handeln muss überprüft werden, zum Beispiel mit Satellitendaten. Daraus kann das Pflänzchen Vertrauen erwachsen. Doch das ist mühsam und langwierig.

Sie haben Erfahrung im Umgang mit Mächten im Krieg. Was würden Sie Ihren Kollegen heute empfehlen?

Wir haben bei früheren Konflikten gute Erfahrungen mit Kontaktgruppen aus mehreren respektablen Ländern gemacht. Ich empfehle dringend, sowohl im Fall der Ukraine wie im Nahen Osten, die Bildung einer solchen Gruppe – zum ersten Mal unter Beteiligung Chinas. China will nicht mehr vom Spielfeldrand zuschauen, soviel ist klar.

Welche Länder, welche Diplomaten betrachten sowohl Israel als auch Hamas als respektable Vermittler?

Jedenfalls leider nicht die in sich zerstrittene Europäische Union und auch dem Uno-Generalsekretär verfügt wegen des dysfunktionalen Sicherheitsrates nicht über die notwendige Glaubwürdigkeit und Autorität, jedenfalls nicht in Israel. Als Vermittler kommen die USA wegen ihrer militärischen Präsenz in der Region in Frage, aber eben auch eventuell China. Russland und die Türkei würden gerne eine hervorgehobene Rolle übernehmen, geniessen aber weder in Israel noch im Westen das nötige Vertrauen. Europa? Fehlanzeige.

Uno-Generalsekretär António Guterres hat einen humanitären Waffenstillstand empfohlen. Auf welcher Grundlage fusst sein Vorschlag?

Gegen eine Feuerpause aus humanitären Gründen ist eigentlich nichts einzuwenden. Aber sowohl für Gaza als auch für den Donbass gilt: Wer verhindert dann den Nachschub an Soldaten in der Ukraine und Terroristen im Gaza? Wer verhindert den Nachschub mit Waffen und Munition? Was wäre gewonnen, wenn nach der Feuerpause der Krieg umso erbitterter geführt wird und umso länger dauert? Nichts wäre gewonnen

Dass die Europäische Union einen erbärmlichen Eindruck hinterlässt, gilt als ausgemacht. Warum entsteht fast zwangsläufig dieses Bild in Krisen und Kriegen?

Weil sich die EU nicht vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschieden konnte. Sie verhandelt in grotesker Kleinstaaterei wie im 19. Jahrhundert. Wir brauchen neben der wirtschaftlichen Integration, eine zweite Idee für Europa – ein Europa, das schützt, wie Emmanuel Macron sagt, ein wehrhaftes Europa.

Ob sich der Krieg im Gaza zu einem großen Krieg ausweitet, hängt auch von der erwarteten Bodenoffensive ab. Momentan bleibt sie aus, weil die Hamas immer mal einige wenige Geiseln freilässt.

So ist es, aber vielleicht ist die Bodenoffensive gar nicht im strategischen Interesse Israels, denn militärisch könnte es in die Falle der Hamas tappen. Die Hamas hofft auf möglichst blutige Bilder aus Gaza, das ist nach dem genozidartigen Terror am 7. Oktober natürlich der Gipfel des Zynismus. Vergeltung allein aber macht noch keinen strategischen Sieg aus. Die Führung der Hamas kann vielleicht liquidiert werden, aber der Hydra wachsen sicherlich neue Köpfe, wenn dem Krieg kein politisches Konzept folgt.

Die Hamas kann noch wochenlang immer einige wenige Geiseln freigeben. Wie lange, glauben Sie, macht Israel dieses Geduldsspiel noch mit?

Hoffentlich so lange, bis alle Geiseln frei sind. Mir ist sehr wohl bewusst, wieviel Mäßigung und Zurückhaltung Israel abverlangt wird, fast zu viel. Das alles ist nach dem Hamas-Massaker vor allem für die Angehörigen der zahllosen Terror-Opfer unendlich bitter.

Reichen die täglichen Luftschläge im Gaza, die Zerstörung der Tunnels und die Tötung von Hamas-Kommandeuren als Vergeltung für den Mord an so vielen israelischen Zivilsten aus?

Nichts, aber auch gar nicht reicht aus, um Vergeltung zu üben. Aber bestimmte Maßnahmen wie die Zerstörung des Tunnelsystems sind vermutlich zwingend notwendig, um die Wiederholung eines solchen Massenmordes zu verhindern. Israel darf, kann und muss seine Bevölkerung schützen. Da gibt es nichts zu relativieren. Dem Argument, dass sich Israel nicht an Uno-Resolutionen gehalten hat, ist entgegenzuhalten, dass Terror-Organisationen wie die Hamas die totale Auslöschung Israels zum Ziel haben. Mit Terroristen verhandelt man nicht. Eine Ausnahme kann es allenfalls zum Zweck der Befreiung der Geiseln geben.

In Amerika kursiert der Vorschlag, dass Israel die Bodenoffensive mit dem Vorschlag zur Rückkehr über die Zwei-Staaten-Lösung begleiten sollte. Eine gute Idee?

Wann wäre ein klug gewählter Zeitpunkt für einen neuen Friedensplan? Im Prinzip je früher dest besser. Aber mit schnellem Vorpreschen ist niemandem gedient. Ein Friedensplan muss sehr sorgfältig mit vielen Akteuren abgestimmt sein, wenn daraus kein Rohrkrepierer hervorgehen soll. Denn was am 7. Oktober 2023 geschehen ist, so hat es Richard Chaim Schneider geschrieben, erschüttert Israel grundsätzlicher und nachhaltiger als alles, was Juden seit 1945 widerfahren ist. Schlagartig macht sich wieder das Gefühl der Schutzlosigkeit breit. 

Benjamin Netanjahu macht sich den Vorschlag wohl kaum zu eigen. Wer dann?

Ob Netanjahu diesen Epochenbruch übersteht, bleibt abzuwarten. Viele Israelis machen ihn persönlich dafür verantwortlich dass er mehr an den Erhalt seiner Macht als an die Zukunft seines Landes gedacht hat.

Wie beurteilen Sie das Verhalten des amerikanischen Präsidenten Joe Biden in diesen Tagen?

Fehlerlos. Gottseidank haben wir in Joe Biden einen erfahrenen Kenner des Nahen Ostens und Europas. Kein Anzeichen von Senilität! 

Im Irak, im Libanon und in Syrien hat sich der amerikanische Einfluss dezimiert. Wie viel Gewicht bleibt den USA im Nahen Osten?

Immer noch sehr viel. Im Falle des Falles wären die USA die einzige Macht in der Region, die militärische glaubwürdig abschrecken und intervenieren könnte. Russland ist wegen des verfehlten Krieges gegen die Ukraine militärisch geschwächt und politisch angeschlagen.

Zugleich bleibt Amerika in alten Konfliktzonen gefangen, obwohl es sich seit vielen Jahren auf den Systemwettbewerb mit China konzentrieren will, auch militärisch. Ist das nicht ein ziemlich großes Dilemma?

Ja, das ist es. Es entsprach sicherlich nicht dem Kalkül der USA, ihre militärische Präsenz im Nahen Osten und in Europa zu verstärken. Es rächt sich eben, das ist das Fazit, Konflikte ungelöst vor sich hindämmern zu lassen in der Hoffnung, sie erledigten sich allmählich von selber. Tun sie aber nicht, siehe Nahost, siehe aber auch Kosovo oder Nagorny-Karabach.

Hegen Sie, wie so viele, die Befürchtung, dass Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt und die amerikanische Außenpolitik auf den Kopf stellt?

Ich bleibe Optimist und sehe Trump eher vor Gericht als im Weißen Haus.

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online, heute.

I

Der perfekte Sturm zieht auf

Vor ein paar Tagen fiel mir ein Büchlein in die Hände, das den erstaunlichen Titel trägt: Das Vergnügen am Hass. Geschrieben im Jahr 1826 hat es ein Brite namens William Hazlitt in der Zeit nach der Französischen Revolution mit ihren Exzessen und dem Wirbel der napoleonische Kriege. Der zentrale Satz lautet: Liebe verwandelt sich, bei einer gewissen Nachgiebigkeit, in Gleichgültigkeit oder Abscheu. Der Hass aber ist unsterblich.

Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, dann ist der Hass seine Triebfeder. Die Geschichte ist voll davon und die Ereignisse im Nahen Osten seit jenem Samstagmorgen, als die Hamas Zivilisten abschlachtete, inklusive Babys und Kleinkinder, und Menschen entführte, vom einjährigen Kind bis zur 85 Jährigen, sind ein trostloses Beispiel für den Hass, der nicht aufhört und Schreckliches anrichtet.

Aber das ist ja nur der Anfang, der sich beliebig steigern kann. In den letzten Tagen waren viele Warnungen zu hören, dass aus dem Krieg im Gaza ein großer Krieg in der gesamten Region hervorgehen könnte. Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian sagte, die Region sei wie ein Pulverfass und alles sei möglich. Damit hat er zweifelsohne recht, denn niemand weiß besser als er, dass sein Land andere Milizen vorschickt und alimentiert, die Hamas wie die Hisbollah. Die Nummer 2 der Hisbollah sagte, „wir sind im Herzen der Schlacht“, womit er wohl meinte: Wir würden gern mitmischen, liefert uns bitte den Vorwand. Der Sprecher der israelischen Streitkräfte wiederum sagte, sein Land werde mit unvorstellbarer Härte zuschlagen, wenn die Hisbollah im Libanon eine zweite Front eröffnen sollte.

Jeder traut hier jedem alles zu. Jeder macht sich riesengroß. Jedermann gibt vor, dass er sich vor Weiterungen des Krieges überhaupt nicht fürchtet, sondern auf alles, was da kommen möge, optimal vorbereitet sei. Die Verachtung, der Hass, die Rachsucht sind auf allen Seiten übermächtig. Die schlafwandlerischen Voraussetzungen, dass aus einem begrenzten ein großer Krieg entsteht, sind vorhanden.

Da braut sich etwas zusammen. Da baut sich womöglich ein perfekter Sturm auf, von dem niemand wissen kann, wen er am Ende wegfegen wird und was danach übrig bleibt.

Die Hamas hat jedes Interesse daran, so viele Akteure in ihren Krieg hineinzuziehen wie möglich. Das ist die Falle, von der Weitsichtige schon  gewarnt haben, als Israel 300 000 Soldaten zusammenzog – das Bombardement auf Gaza würde viele zivile Opfer töten, was in den Augen der arabischen Welt die Schuld der Hamas mehr als aufwiegen könnte. Der Beschuss des Krankenhauses mitten in Gaza kam der Hamas denn auch zupass, weil sie in Jordanien oder Ägypten, in Paris oder Berlin sowieso nicht hören wollen, dass eine irregeleitete Rakete aus Gaza die Ursache für die vielen Toten gewesen ist.

Zum Hass gehört es, dass jeder sich als Opfer versteht. Die wahren Opfer sind allerdings diejenigen, die im Gaza leben und mit der Hamas nichts am Hut haben. Oder die Menschen im Libanon, die den Todeskult der Hisbollah ablehnen. Von den Menschen in Iran, denen das Regime ein Mühlstein am Halse ist, ganz zu schweigen. Und selbstverständlich sind die Israelis die Opfer eines beispiellosen Überfalls.

Ein zwangsläufiges Opfer ist wie immer die Wahrheit. Iranische Diplomaten streuen das Gerücht, sie seien genauso wie der Rest der Welt vom Angriff der Hamas überrascht worden. Auch aus Katar ist zu hören, dass die Hamas ohne Anleitung oder Absprache gehandelt hat. Selig, wer es glaubt. Anders gesagt: Selbst wenn es stimmen sollte, würde man es aus der Erfahrung mit dieser Region nicht glauben.

Natürlich sind viele Diplomaten permanent darum bemüht, dass noch mehr Lastwagen voller Lebensmittel aus dem ägyptischen Raffah hinein nach Gaza fahren dürfen. Zahllose Vermittler pendeln von Amman über Doha nach Kairo und Riad, um mehr Geiseln als die beiden Amerikanerinnen freizubekommen. Wie man hört, hat der amerikanische Präsident Joe Biden den israelischen Premier Benjamin Netanjahu beschworen, mit der Bodenoffensive zu warten und vor allem darum, kühlen Kopf zu bewahren. Amerika hat nach 9/11 schlechte Erfahrungen mit schnellen Entscheidungen aus Rachsucht gemacht.

Die Bemühungen um Beschwichtigung stehen neben den Vorbereitungen zum perfekten Sturm. Noch während die Welt auf die Bodenoffensive wartet, fliegt die israelische Luftwaffe Angriffe auf Damaskus und Aleppo, um den iranischen Einfluss in Syrien zu stören. Weitere 14 Dörfer in der Nähe der Grenze zu Libanon ließ die Armee räumen. Auf die Raketen aus den Stellungen der Hisbollah antwortet Israel mit Artillerie und Drohnenangriffen. Die USA schickt, zusätzlich zu den beiden Flugzeugträgern, ein Raketenabwehrsystem vom Typ Thaad und weitere Boden-Luft-Raketen vom Typ Patriot in die Region, in der es an vielem mangelt, aber nicht an Waffensystemen jedweder Art.

Was könnte den perfekten Sturm beruhigen? In Amerika kursiert de Empfehlung an die Israelis zu einer Doppelstrategie, die so aussehen könnte: Wenn schon Bodenoffensive, dann sollte sie von einem neuen Anlauf zur Zwei-Staaten-Lösung begleitet sein. Davon wollte Netanjahu bislang nichts wissen. Im Gegenteil lieferte ihm die Hamas das Alibi zu sagen: Mit denen ist kein Friede zu machen, genauso wenig wie auf die Palästinensische Autonomiebehörde Verlass ist. Die Siedlungen im Westjordanland haben sich seit Netanjahus erstem Amtsantritt 1996 verdreifacht.

Netanjahu hat versagt und nach dem Krieg wird Gericht über ihn gehalten. Und dann? Viele Israelis halten die Siedlungspolitik und die Verachtung, den Hass gegenüber den Palästinensern als Mittel der Politik für einen verhängnisvollen Irrweg, aber sie haben die Mehrheit im Land an die nationalistische Rechte verloren. Wer also könnte den Faden aufgreifen und die Zwei-Staaten-Lösung aus der Versenkung holen?

Erst einmal herrscht Krieg. Herrscht Hass. Für den perfekten Sturm ist vorgesorgt. In diesem Teil der Welt wird in vielen Zungen zu Gott gebetet. Er sollte zur Abwechslung mal ein Einsehen haben.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

„Nichts bleibt, wie es war“

Alon Liel, 74, ist ein israelischer Karrierediplomat, diente als Botschafter in Südafrika und der Türkei, war Berater mehrerer Premierminister und wird noch immer als Vermittler herangezogen, zum Beispiel gerade von Familien der Entführten. In der Woche vor dem Krieg war er in Pforzheim, wo die Familie Löbl bis 1939 gelebt hatte. In einer Zeremonie wurden Stolpersteine für seine Großeltern eingeweiht.

t-online: Herr Liel, wie geht es Ihnen und wo leben Sie in Israel?

Ich lebe in Herzlyia, zehn Kilometer nördlich von Tel Aviv. Am Samstagmorgen um 6.30 Uhr weckten meine Frau und mich die Sirenen und wir rannten in den Bunker. Seitdem waren wir sechs- oder siebenmal dort. Gerade kam ich von einem Begräbnis eines liebenswerten Studenten zurück. Wie die meisten Israelis stehe ich wahrscheinlich immer noch unter Schock.

Sind Verwandte oder Freunde unter den Geißeln der Hamas?

Ja, Vivian Silver, eine gute Freundin und Friedensaktivistin. Sie ist 76 Jahre alt und gemeinsam setzen wir uns seit mindestens dreißig Jahren für Frieden ein. Sie lebt im Kibbuz Be’eri, ihr Haus haben sie am 7. Oktober niedergebrannt und sie ist nicht aufzufinden. Die unabweisbare Schlussfolgerung lautet, dass die Hamas sie entführt hat.

Ausländer – zum Beispiel Deutsche und Amerikaner – sind unter den Geißeln. Sie sind ein erfahrener Diplomat: Glauben Sie, dass es Geheimgespräche mit Iran oder Ägypten gibt, die Einfluss auf die Hamas haben? Und wem vertrauen Sie am meisten – immer noch den USA?

Soweit ich es überblicke, besitzen etwa ein Drittel der Entführten einen ausländischen Pass. Übrigens hat Vivian auch die kanadische Staatsbürgerschaft. Deutsche gehören zu den Geißeln und der deutsche Botschafter traf einige ihrer Familien. Sie suchen nun den direkten Kontakt zum Außenministerium in Berlin und ich wurde um Hilfe gebeten. Einige Regierungen haben sich als Vermittler angeboten, genießen aber nicht das Vertrauen beider Seiten.

In der Vergangenheit galt Deutschland als verlässlicher Vermittler. Was kann unsere Regierung in dieser Situation tun?

Deutschland kommt eine Schlüsselrolle zu. Katar hat keine diplomatischen Beziehungen mit Israel und der türkische Präsident Erdogan wird in Jerusalem nicht als ehrlicher Makler betrachtet.

Es galt als ausgemacht, dass Israel rasch eine kompromisslose Bodenoffensive nach den schrecklichen Überfällen starten würde. Allerdings scheint eine Invasion fast unmöglich zu sein, solange die Hamas ungefähr 150 Geißeln in Händen hält.

Eine Bodenoffensive braucht Zeit zur Vorbereitung. Die Luftwaffe flog schon bisher routinemäßig Angriffe, besonders in Syrien. Es war uns klar, dass auch die israelische Vergeltung im Gaza aus der Luft beginnen würde. Wo die Geißeln sich befinden, weiß Israel nicht. Wir vermuten, dass die Hamas sie gut versteckt hält und auf Austausch wartet. Für die Hamas sind sie ein strategischer Trumpf.

Offenbar verlangt eine Mehrheit der Israelis nach Vergeltung. Erwarten Sie auch Rache?

Danach ist die allgemeine Stimmung im Land, auch in der Führungsriege und den Generälen der Reserve, die sich in den Medien äußern. Netanjahu hat das Wort Rache in den Mund genommen. Nur einige zivilgesellschaftliche Organisationen verlangen nach Zurückhaltung und warnen davor, vor lauter Rachegelüsten die Sicherheit unbeteiligter Zivilisten im Gaza zu vernachlässigen.

Augenscheinlich erwartete weder die Regierung noch die Militärführung oder der Geheimdienst einen Angriff aus Gaza. Beruht diese Fehleinschätzung auf Hochmut?

Zweifellos war die Ahnungslosigkeit ein kolossales Versagen. Die Haltung war,: Wir sind unschlagbar und die Hamas ist gar nicht fähig, uns ernsthaften Schaden zuzufügen. Deshalb wurden während der Feiertage Truppen aus Gaza ins Westjordanland verlegt, um die Siedler zu schützen. Unsere politischen Führer werden nach dem Krieg nicht an der Macht bleiben. Sie müssen den Preis für ihre unverzeihlichen Fehler bezahlen. 

Für Europäer sind der Mossad und Shin Beth die besten Geheimdienste unter den Besten. Finden Sie eine Erklärung, weshalb sie nicht geahnt haben, was auf das Land zukommt?

Nein, ich habe keine Erklärung. Keiner versteht es. Neue Informationen besagen, dass es Warnungen gab, aber sie wurden nicht nach oben weiter gereicht. Netanjahu wachte wie wir alle um 6.30 am Samstagmorgen auf. Die Informationen aus den unteren Ebenen hatten ihn nicht erreicht. Ein gewaltiges Versagen.

Arabische Länder fordern Israel zur Mäßigung auf.  Hört man in Israel unter den gegebene Umständen auf sie?

Ich glaube nicht, dass Israel momentan bereit ist, auf solche Forderungen zu hören.

Was ist ihr bestes Szenario: Dass die Geißeln freigelassen werden und Israel auf eine Bodenoffensive verzichtet?

Ich glaube nicht, dass eine voll entfaltete Bodenoffensive unter Garantie kommen wird. Viel hängt von der Wirkung der Luftschläge und allerlei technologischen Operationen ab, auf die Israel zunächst zurückgreifen kann.

Was ist ihr schlimmstes Szenario:  Ein großer Krieg nicht nur gegen Hamas und Hisbollah, sondern auch mit Iran?

Das Schlimmste ist schon passiert, der 7. Oktober ist der schlimmste Tag für Israel seit der Gründung und der schlimmste Tag seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist, als ob wir uns schon in einem Krieg mit Iran befänden, da die Hamas Unterstützung von dort bekommt.

Wie beurteilen Sie Benjamin Netanjahus Verhalten vor dem Samstag und seither?

Netanjahus politische Rolle ist vorbei, auch wenn er noch da ist. Er und seine Regierung waren besessen davon, die Siedler im Westjordanland zu verteidigen. Er ist für das Desaster am 7. Oktober verantwortlich. Sein Rücktritt wird als ein weiterer Sieg für die Hamas verstanden werden. Auch deswegen ist es noch nicht passiert.

Jetzt hat sich ein Kriegskabinett aus fünf Mitgliedern etabliert, zu denen auch Vertreter der Opposition wie Bobby Gantz gehören. Liegt darin eine Chance, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden?

Ist der Krieg vorbei, ist es auch mit dem Kriegskabinett vorbei. Die Einheit Israels wird auch nur so lange vorhalten, wie Krieg herrscht. Die Kluft wird sofort wieder aufreißen, wenn die Frage nach der Schuld für den 7. Oktober aufgerollt wird.

Das Westjordanland war ein beständiger Unruheherd, weil die Siedler ihre arabischen Nachbarn drangsalierten und Teile der Regierung die Auseinandersetzungen noch anheizten. Geht das nach dem Krieg genauso weiter?

Meiner Meinung nach waren die Siedlungen schon immer eine Bürde für Israel und kein Trumpf. Ich war immer davon überzeugt, dass der Rückhalt in der Regierung das Land auseinander reißen wird. Noch immer sehe ich darin ein Hindernis für Frieden und verstehe nicht, warum Europa die Expansion und die Brutalität schweigend hinnimmt.

Israel ist ins Mark getroffen, weil Israel mit sich selber im Übermaß beschäftigt war. Was folgt aus dieser Heimsuchung?

Nichts wird so bleiben, wie es war. Der Sieg über Israel am 7. Oktober wird wie ein Damoklesschwert über uns hängen, selbst wenn die Hamas zerstört werden sollte. In der Geschichte Israels, des Zionismus und Judaismus wird für immer diese eine schreckliche Seite geschrieben stehen und uns dazu zwingen, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dafür ist es noch zu früh in diesem Krieg, aber die langfristigen Auswirkungen werden von enormer Tragweite sein. Ich hoffe sehr, dass wir imstande sein werden, den Dingen eine konstruktive Richtung zu geben. 

Vor vielen Jahren haben Sie einen Fußballklub gegründet, dessen Mannschaft aus Israelis und Arabern besteht. Bilden sie heute trotz allem noch ein Team?

Aber sicher doch. Die Spieler haben eine WhatsApp-Gruppe gegründet, in der die arabischen Spieler ihren Abscheu über die Brutalität der Hamas äußern. Meine palästinensischen Freunde, die sehr kritisch gegenüber Israel sind, befürchten jetzt, dass die Barbarei der Hamas ihnen schaden wird. Ich erhoffe mir, dass der israelisch-arabische Dialog, um den ich mich sehr bemüht habe, einschließlich einer palästinensischen Liste für die Gemeindewahlen in Jerusalem, die Stimmung beeinflussen kann.

Herr Liel, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Liebesgaben aus Teheran

Zehn junge Leute quetschten sich in ein Auto und rasten im Zickzack davon. Palästinensische Kommandos, die wahrscheinlich durch Tunnels aus Gaza in den Süden Israels gekommen waren, schossen ihnen hinterher. Die Zehn, die das Musikfestival nahe dem Grenzstreifen besucht hatten, schafften es.

Drei Mädchen rannten und rannten, als die Kommandos das Festival stürmten und um sich schossen. Sie rannten mehr als zwei Kilometer lang. Sie schafften es in eine Siedlung, die Einwohner nahmen sie mit in den Schutzraum im Keller. Palästinenser aber drangen ein und ermordeten alle Menschen, die sich dort gerade noch sicher geglaubt hatten.

Diese Geschichten erzählten uns Freunde und Verwandte. Viele israelische Familien beklagen den Tod eines Kindes, eines Neffen, eines Freundes. Schreckliche Geschichten aus dem Echoraum des Irrsinns, der Naher Osten genannt wird. Der Überfall der Hamas wird ins Geschichtsbuch eingehen. Die Hamas berauscht sich daran. Für die Israelis ist der 7. Oktober 2023 ein Alptraum. 7/10 ist ihr 9/11.

Das Datum ist kein Zufall. Am 6. Oktober waren es 50 Jahre, dass Ägypten Israel angriff und Israel völlig überrascht davon war. Damals hatte der Geheimdienst gewarnt und kein Politiker wollte es hören. Diesmal haben die über alles geschätzten Mossad und Shin Beth offenkundig nichts gehört und nichts gesehen und folglich komplett versagt. So konnte das Unerhörte, das Unbegreifliche sich entfalten. Nicht vom Westjordanland, wo die Siedler die palästinensischen Nachbarn mit heller Freude provoziert hatten, ging der Krieg aus, sondern vom sogenannten Gaza-Streifen, der in Wahrheit ein doppeltes Gefängnis ist, abgeriegelt von Israel und beherrscht von der Hamas, die Blut säen will.

Die Hamas ist, genauso wie die Hisbollah im Libanon, abhängig von Iran. Ohne das Einverständnis, ohne die Aufforderung zum Handeln, wären die Kommandos nicht aus der Luft und auf dem Boden nach Israel eingedrungen und hätten einen Krieg verursacht. Die erstaunlich hohe Anzahl an Raketen, die für die bewunderte Flugabwehr der Israelis eine echte Herausforderung darstellen, sind wohl auch eine Liebesgabe aus Iran. Gut möglich außerdem, dass entführte israelische Soldaten nach Teheran gebracht werden. So hielt es die Hisbollah in den 1980er Jahren, als sie CIA-Agenten in Beirut gekidnappt hatte. Wer im Gewahrsam der Revolutionsgaden ist, kann nicht befreit werden, das ist die Logik.

Denn natürlich wird die israelische Armee in aller Brutalität zurückschlagen, weil sie überrumpelt worden ist und viele Tote, viele Verwundete und dazu viele Geiseln zu beklagen hat. Auge um Auge, Toter um Toter, so halten sie es hier. Das Erbarmungslose, das Unmenschliche gehört wie selbstverständlich zum Nahen Osten. Dass junge Menschen Musik hören wollten, wie junge Menschen auf der ganzen Welt es tun, machte sie für die Hamas zu willkommenen Opfern. Ein Zivilist, so denken sie, lässt sich leicht ermorden, weil er unbewaffnet ist und arglos. 

Was im Alltag als Spannung in Israel, im Westjordanland und nahe dem Gaza zu spüren ist, als Bombe, die nur gezündet werden muss, explodiert nun mit aller Gewalt. Auf eine Intifada, bei der Kinder und Jugendliche Steine und Molotowcocktails werfen, waren sie in Israel eingestellt. Der kriegerische Überfall am frühen Samstagmorgen hat sie kalt erwischt. Dass Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nun die Zivilisten im Gaza auffordert, von dort wegzugehen, ist purer Zynismus. Wohin sollten sie denn gehen? 

Gerade noch war Israel gespalten. Die radikale Regierung unter dem Manipulations-Artisten Netanyahu will das Land entdemokratisieren. Damit hat er Reservisten und Teile des Geheimdiensts und das halbe Land gegen sich aufgebracht. Irgendwann wird Israel danach fragen, wer Schuld am Versagen der hochgelobten Institutionen trägt und auf Netanyahu kommen.

Aber zuerst einmal tobt der Krieg gegen Gaza, der große Rachefeldzug, gesteigert noch durch die unerwartete Invasion der Hamas. Darauf muss dieser Krieg allerdings nicht beschränkt bleiben. Warum sollte Iran nicht auf die Idee verfallen, die Hisbollah nicht nur vereinzelt angreifen, sondern eine zweite Front eröffnen lassen? Wer sollte die Mullahs daran hindern – Amerika etwa? Und wer könnte Netanyahu davon abhalten, ausgiebig Rache zu üben? Auch im Gaza werden viele Zivilisten sterben, während sich die Hamas-Führung in Sicherheit bringt.

Der Nahe Osten ist eine Region zum Verzweifeln. Schlimmer kann es nimmer werden, gilt nicht, sondern das Gegenteil. Das Schlimmstmögliche lässt sich hier beliebig steigern. Die nächsten Tage und Woche werden Beispiele ohne Ende liefern.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.