Merz muss die Linke fürchten

Friedrich Merz wird Bundeskanzler, der zehnte seit 1949. Eine geringe Zahl, ein Zeichen der Stabilität für dieses Land, das sollten wir nicht gering achten. Italien bringt es auf 31 Regierungschefs im selben Zeitraum, Großbritannien auf 15.

Der Gegenwärtige, mit dem sich der Künftige gestern Abend ein ebenso lebhaftes wie zähes TV-Duell lieferte, wird dann Vergangenheit sein. Olaf Scholz gehört mit Ludwig Erhard (1963-66) und Kurt-Georg Kiesinger (1966-69) zu den Kurzkanzlern der Nachkriegsrepublik.

Wie lange wir mit Friedrich Merz leben werden, hängt einerseits von ihm selber ab, andererseits von der Koalition, die er bilden darf. Man kann ihm nicht vorwerfen, dass er säumig geblieben wäre. Der Hau-Ruck-Versuch, schärfere Immigrations-Gesetze mit Hilfe der AfD durch den Bundestag zu jagen, schlug fehl, stürzte ihn aber nicht unter 30 Prozent in den Meinungsumfragen wie befürchtet. Der Zweck des Manövers bestand darin, der AfD übergelaufene CDU-Wähler abspenstig zu machen.

Jetzt möchte Merz die FDP fleddern, die ziemlich sicher unter 5 Prozent bleiben wird. Mit einer gewissen Schnödigkeit empfiehlt er den liberalen Restwählern, ihre Stimmen doch bitte gleich der CDU zu geben, damit sie nicht verloren gehen.

Das Graben an anderen Parteien ist ebenso verständlich wie auch eine Verlegenheitslösung. Denn der Bald-Kanzler erfreut sich als Persönlichkeit keiner hinreichenden Popularität. Er zieht nicht freischwebende Wähler an, die jeder Kandidat dringend benötigt. Er ist nur unwesentlich beliebter als Olaf Scholz. Darin liegt ein großes, womöglich wahlentscheidendes Problem.

Es kommt also darauf an, ob er mit einer oder zwei Parteien eine Koalition bilden kann. Einem neuen Dreier-Bündnis fehlen sowohl Charme als auch Überzeugungskraft. Nach der Ampel will das niemand mehr. Wird Merz dazu gezwungen, ist sein Radius als Kanzler gering und der Binnenkonflikt in der Regierung programmiert. In Österreich ging dieses Experiment so schief, dass die FPÖ jetzt den Kanzler stellen kann.

Merz’ Möglichkeiten hängen also letztlich davon ab, wie viele Parteien im Bundestag vertreten sein werden. Die Höchstzahl wäre 7 (Linke/BSW/FDP/Grüne/SPD/AFD/Union). Die geringste Zahl wäre 4 (Grüne/SPD/AfD/Union). Wonach sieht es derzeit aus?

Die FDP kann man getrost abschreiben. Christian Lindner scheint sich so gut wie sicher verzockt zu haben. Ihm kommt das Verdienst zu, seine Partei einst aus dem Nirwana zurück ans Licht geführt zu haben. Nun kehrt sie zurück ins Dunkle. Sie wird sich zur Rehabilitation neu erfinden müssen.

Das BSW hat seinen Höhenflug vielleicht schon hinter sich. Es wäre kein Wunder, denn Sahra Wagenknecht ist weniger eine Parteiführerin als eine Egomaschine. Sie versteht es blendend, ihre schlichten Botschaften – USA böse, Russland gut, Immigranten nicht gut – in Talkshows als Endlosschleife zu verbreiten. 

Gesetzt dem Fall, es bliebe bei 4 Parteien im Parlament, entsteht ein trickreiches Rechenexempel, unter welchen Umständen Union und SPD überhaupt eine Koalition bilden könnten. Denn dann müsste der Abstand zwischen CDU/CSU und AfD größer sein als der Abstand zwischen SPD und AfD. Nach der neuen Umfrage liegt Merz 9 Prozentpunkte vor Weidel, die SPD aber nur 7 Prozentpunkte hinter der AfD. Nur unter diesen Umständen könnten Union und SPD gemeinsam regieren.

Auf ein Ergebnis dieser Art muss Friedrich Merz hoffen. Einzig die Nach-Scholz-SPD bietet sich ja zum Bündnis an. Die Grünen fallen aus Gründen, die nur Markus Söder versteht, als Option aus.

Aber da gibt es eine Partei, die das ganze schöne Vierer-Gebilde zum Einsturz bringen kann. Mit ihr hat eigentlich niemand mehr gerechnet. Sie war abgeschrieben, gerupft durch die Renegatin Sahra Wagenknecht, als Resterampe zurückgeblieben.

Es handelt sich um die Linke, die gerade eine seltsame Wiederauferstehung feiert. Ihr laufen scharenweise neue Mitglieder zu. Sie hat in Sabine Reichinnek plötzlich eine Spitzenkandidatin, die Reden hält, die im Gedächtnis bleiben und auf TikTok viral gehen. Und da ist ja auch noch das Trio aus Silberlocken, das auf Rettungsmission ausschwärmt.

Gregor Gysi (77), Bodo Ramelow (68) und Dietmar Bartsch (66) bemühen sich um drei Direktmandate, die ihre Partei auf jeden Fall in den Bundestag hieven würden. Ihre Auftritte sind amüsant, selbstironisch und egogetrieben, was denn sonst. 

20 Tage noch bis zur Wahl. Viel kann da passieren. Ein neuer Anschlag, ein schwerer Fehler,  ein Lachen am falschen Ort, weitere Krisenbotschaften aus Wirtschaft und Industrie. Aber auch ohne neuerlichen Erregungs- und Empörungszyklus sieht es nicht danach aus, als bekäme Deutschland die starke Regierung, die es  dringend braucht.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wozu das Ganze?

Dieser Wahlkampf wird in die Geschichte eingehen, weil er eine verquere Dramatik entwickelt. Friedrich Merz hat sicherlich nicht abgesehen, dass er mit seinem Coup so viele Menschen gegen sich auf die Straße bringen würde. Und die Demonstranten müssten sich eigentlich fragen, wo sie in den letzten Monaten gewesen sind und warum sie nun gegen die CDU anrennen, anstatt gegen die AfD.

Wäre das Gesetz zur Verschärfung der Migration ein kühler Akt mit dem Hintergedanken gewesen, dass es unter den derzeitigen Umständen eher durchgehen würde als mit einem Koalitionspartner (zum Beispiel der SPD) nach der Wahl, dann stünde Friedrich Merz besser da. So aber versteht man im Grunde nicht recht, wozu das Manöver gut gewesen sein sollte.

Ja, schon wahr, da ist diese 30-Prozent-Mauer, welche die Union niederreißen muss, will sie nicht zu einem Dreier-Bündnis wie die Ampel gezwungen sein. Natürlich hat sich die CDU auch Merz erwählt, um die AfD kleiner zu machen. Und offensichtlich sind die Morde der letzten Wochen dazu geeignet zu sagen: Genug ist genug, jetzt muss was passieren. Kontrollverlust führt nun mal zu Zweifeln an der Demokratie.

Aber so richtig durchdacht wirkte der Umschwung eben nicht. Vielleicht ist Merz ja der Typus Sponti, der dem verständlichen Impuls folgt, dass etwas passieren muss, egal was, die Hauptsache, es passiert was. Jetzt lässt sich darüber spekulieren, was eigentlich schlimmer ist: Das erfolgreiche Zusammenwirken mit der AfD am einen Tag und das Scheitern mit der AfD am anderen oder dieses All-In-Gehen mit dem absehbaren Risiko, an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

Beim heutigen Parteitag lässt sich absehen, ob wenigstens die CDU ihrem Kanzlerkandidaten den Rücken stärkt. Wie lassen sich Henrik Wüst und Daniel Günther ein? Erfahrung mit Querschlägen hat die CDU vor dreieinhalb Jahren gemacht. Sie führten zum Machtverlust. Und diesmal?

Viel hängt von den nächsten Meinungsumfragen ab, welche die Wirkung des Zusammenwirkens mit AfD/FDP/BSW abbildet. Gewinnt die Union hinzu, ist Merz der mutige Wer-wagt-gewinnt- Held. Rutscht die Union in die Zwanzig-Prozent-Region ab, ist er der Dumme, der willentlich ein unnötiges Wagnis einging. Führt aber das Experiment mit der AfD zu einem Nullsummenspiel und die Union bleibt bei 30 Prozent hängen, war das Mühen vergeblich. 

Zur verqueren Dramatik dieses Wahlkampfs gehört die Reaktion der Konkurrenz auf Friedrich Merz’ Aktion. Die AfD hat kurz triumphiert, was man ihr nicht verdenken kann. Der Pariah im politischen System zu sein ist kein Spaß. Deshalb ist Alice Weidel auch Elon Musk ungemein dankbar, dass er ihr Beachtung schenkt. Dass die CDU ihr dazu unverhofft die Gelegenheit bot, zweimal mit ihr zu stimmen, verschaffte Weidel & Co einen Hauch an Legitimität.

Wenig erquicklich ist auch das Verhalten der SPD. Olaf Scholz liegt auf der Lauer nach einem Thema, das ihn tragen könnte. Er hat drei Jahre lang regiert und damit reichlich Zeit gehabt, dem Land seinen Stempel aufzudrücken. In der Europäischen Union sorgte der Kanzler zuverlässig für die Entschärfung der Migrationsgesetze. Was bleibt? Das Bürgergeld. Wer ist die SPD und was will sie? „Mit Sicherheit mehr Netto“ steht auf den Plakaten. Aha.

Nach dem 23. Februar sind die empörungsbereiten Sozialdemokraten von heute ohnehin Vergangenheit. Wer dann auf Scholz/Esken/Heil etc. nachrückt, steht in den Sternen. Jedenfalls ist keineswegs ausgeschlossen, dass diese Post-Ampel-Generation eine Koalition mit der CDU/CSU eingeht. Was heute undenkbar erscheint, lässt sich morgen wieder denken.

Die FDP hat sich am Freitag in der 2. Lesung in Ja-Sager und Nein-Sager geteilt, so dass Friedrich Merz die Mehrheit auch deswegen versagt blieb. Nur Wirtschaftspartei à la Lindner zu sein, garantiert aber nicht die Existenz. „Alles lässt sich ändern“ steht auf FDP- Plakaten. Spätestens nach der Wahl wird  sich die Partei neu orientieren, aber wohin? Eher illiberal wie die österreichische FPÖ, die den Kanzler stellen kann?

Mein abschreckendes Beispiel für das Ausfransen des Parteiensystems ist das BSW, das dem Zustrombegrenzungsgesetz (was für ein Wort!) ebenfalls zustimmte. Ansonsten bietet diese Partei Antiamerikanismus plus Anbiedern an Russland und Aufruf zur Abrüstung in Deutschland – schlichter und schamloser geht’s nicht, auch wenn es Sara Wagenknecht rhetorisch geschickt intoniert.

Die Grünen haben seltsamerweise die geringsten Sorgen. Sie wissen, dass ihnen nur die Opposition bleibt. Robert Habeck leidet unter dem Mangel an Popularität, hielt aber gerade die klügste Rede über Friedrich Merz und die Folgen für die Demokratie. Darauf lässt sich aufbauen.

Drei Wochen noch bis zur Wahl. Drei Wochen, in denen die Demokratie, geht es so weiter, keinen guten Eindruck hinterlassen wird. Aber Demokratien wandern nach rechts, wenn Koalitionen sich in Krisenzeiten im Kreise drehen und die konsequente Behandlung offensichtlicher Probleme vernachlässigen.

Es wäre eine schwere Hypothek für den Kanzler Merz, wenn er geschwächt ins Amt einziehen würde. Und es wäre ein Menetekel für das Land, das dringend eine starke Regierung für das Lösen seiner Probleme braucht.

„Netanyahus Spiel geht nicht auf“

t-online: Herr Stein, der amerikanische Präsident hat den Vorschlag unterbreitet, dass die Palästinenser aus dem Gaza auf Ägypten und Jordanien verteilt werden sollen. Was halten Sie davon?

Stein: Donald Trump ist grundsätzlich unberechenbar und erratisch. Er überlegt nicht lange, wenn er etwas sagt. Auch in diesem Fall ist sein Vorschlag für eine Neuordnung im Gaza nicht durchdacht. Ich halte seine Idee, die Palästinenser in Nachbarländer umzusiedeln,  für unrealisierbar, auch wenn er auf Begeisterung bei den radikalen Rechten in Israel stößt. Bedauerlicherweise sitzen sie sogar in der Regierung  und Ministerpräsident Netanyahu ist von ihrer Unterstützung abhängig.

Wie reagieren Ägypten und Jordanien auf die Idee, die Palästinenser aufzunehmen?

Die Reaktion in der gesamten arabischen Welt ist Ablehnung. Die Frage ist natürlich, mit wie viel Energie Trump seinen Plan vorantreiben wird – ob er überhaupt dran bleibt. Will er aber wirklich das Palästinenser-Problem auf Kosten von Jordanien und Ägypten lösen, dann wird es schwierig für diese beiden Länder. Denn die ägyptische und die jordanische Straße werden die Verwirklichung des Vorschlags nicht tolerieren. Insofern handelt es sich um eine Schnapsidee. Ich muss Ihnen aber sagen, dass ich Trump als Game Changer für den gesamten Nahen Osten betrachte. Welche Folgen seine Einstellung haben wird, bleibt abzuwarten.

Sie meinen, er kann die Verhältnisse in der Region ändern?

Er ist der Mann, der gesagt hat, ich will Kriege beenden, nicht anfangen. Er hat während seiner ersten Amtszeit einen Nahost-Plan verfasst, der sogar die Gründung eines palästinensischen Staates vorsah, mit dem Ziel, ein Gegengewicht zum Iran aufzubauen. Mal sehen, wie entschlossen Trump den Plan wieder aufnimmt. Sein Sonderbotschafter Steve Witkoff ist jetzt wieder auf Pendeldiplomatie unterwegs. Er war es, der am 20. Januar Netanyahu den Wunsch Trumps nach Waffenpause und Geiselaustausch überbrachte. Und Netanyahu unterzeichnete das Abkommen, das er bis dahin entschieden abgelehnt hatte.

Hatte er eine Alternative?

Er spekuliert darauf, dass er in der Lage sein wird, an seine unrealistische Ziele anzuknüpfen, wenn der erste Teil des Abkommens hinter uns liegt und die 33 Geiseln zurück in Israel sind – 25 von ihnen sind noch am Leben, 8 sind tot. Dann hofft er darauf, dass er den Krieg fortsetzen kann, da seine Mission noch nicht erfüllt ist. Denn die Hamas gibt es noch, Hamas ist nach wie vor in Gaza präsent. Dafür trägt Netanyahu die Verantwortung, weil er nicht für eine Alternative gesorgt hat. Denn eines muss nach dem 7. Oktober klar sein: Hamas darf nicht Teil der Zukunft Gazas sein. So unmissverständlich hatte sich Joe Biden geäußert. Ich hoffe, dass auch die deutsche Regierung diese Haltung teilt.

Wenn Sie Recht damit haben, dass Trump den Krieg beenden will, könnte Netanyahu in Schwierigkeiten kommen, wenn er den Krieg wieder aufnimmt.

Er glaubt, dass er damit durchkommt, selbst wenn Trump auf Beendigung insistiert. Am Ende wird aber Netanyahus Spiel nicht aufgehen. Israel kann es sich nicht leisten, vier Jahre in Dauerkonflikt mit Trump zu leben, der ja nicht verzeihen kann, wenn man sich seinem Willen nicht beugt. Israel ist politisch und militärisch von Amerika abhängig. Und man darf nicht vergessen, dass der Präsident eben eine Vorstellung davon hat, wie der Nahe Osten aussehen sollte. 

In der ersten Amtszeit vermittelte Trump das Abraham-Abkommen mit den Emiraten am Golf und Bahrain, die Israels Existenz anerkannten. Darauf will er nach Ihrer Ansicht aufbauen? 

Das war der erste Schritt. Der zweite sollte damals schon mit der Normalisierung der Beziehungen zu Saudi-Arabien folgen. Das Massaker am 7. Oktober und der Gaza-Krieg kamen jedoch dazwischen. Seitdem geht es mit der Neuaufstellung in der Region nicht weiter. Deshalb ist es aus Trumps Sicht wichtig, den Krieg zu beenden.

Aber wegen des Krieges ist es nicht leicht, an die Verhandlungen von damals anzuknüpfen.

Ja, denn die Saudis vor dem Gaza-Krieg und nach dem Gaza-Krieg sind nicht dieselben. Damals mussten sie nicht Rücksicht auf die Palästinenser nehmen. Jetzt müssen sie es aber oder zumindest den Anschein erwecken, deren Interessen nicht zu ignorieren. Wenn es zu diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien kommen soll, muss der Anfang in Gaza liegen.

Und zwar wie?

Netanyahu muss gegen seine Überzeugung zulassen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde auch im Gaza eine wichtige Rolle übernimmt. Gaza ist der erste Stein für die Anerkennung Israels durch Saudi-Arabien. Und dann bekommt Israel eine neue Aufstellung mit den Emiraten, mit Oman, mit Saudi-Arabien, Ägypten und Jordanien als Gegengewicht zu Iran.

Eigentlich eine erfreuliche Entwicklung, könnte man meinen. Sind Sie Optimist oder Pessimist?

Noch ist der Weg lang und steinig. Es ist durchaus möglich, dass Israel wieder in den Gaza einrückt und ihn besetzt. Das wäre dann das Modell Westjordanland, wo es eine Behörde gibt, die regiert, während Israel die militärische Hoheit ausübt.

Der große Verlierer der Veränderungen ist Iran. Halten Sie es für möglich, dass der Kriegsbeender Donald Trump Israel freie Hand für einen Angriff auf die Atomanlagen gibt?

Was Iran betrifft, sind seine Vorstellungen nicht sehr klar. Unter Umständen wäre er bereit, mit Iran in Verhandlungen einzutreten, um diesen Konflikt zu beenden. Ob es schon so weit ist, weiß ich nicht, aber es bleibt eine Möglichkeit. In der Tat ist Iran die letzte Station, auf der Amerika auf die eine oder andere Art und Weise in diesem Jahr etwas erreichen möchte – sei es durch Diplomatie oder durch eine militärische Aktion. Was die militärische Option betrifft, ist es mir bewusst, dass es für Israel schwer wird, die Nuklearanlagen ohne amerikanische Beteiligung zu zerstören.

Lassen Sie uns auf Deutschland kommen. Im Bundestag fügte es sich, dass auf eine Gedenkstunde an die Befreiung von Auschwitz eine Antrag der CDU/CSU folgte, dem die AfD zu einer Mehrheit verhalf. Wie wirkt diese Duplizität der Ereignisse auf Sie?

Die Gedenkstunde ist zu einem Ritual geworden, bei dem sich das Vokabular Jahr für Jahr wiederholt. Ich lehne Rituale keineswegs ab, sie spielen eine wichtige Rolle, nur muss man sie mit verpflichtendem Inhalt füllen. Zugleich tritt aber in der deutschen Erinnerungskultur eine Zeitenwende ein, da die Zeitzeugen, die aus persönlicher Anschauung berichten können, wie sie in Auschwitz gequält wurden und was dort geschah, allmählich von uns gehen. Nun haben sie uns zwar genügend historisches Material überlassen, aus dem wir schöpfen können, aber die persönliche Wirkung ist nun mal anders. Ich habe gerade eine Studie der Claims Conference gelesen, die mich über das deutsche Bildungssystem nachdenken lässt. Eine große Anzahl der deutschen 18 bis 29jährigen, steht dort zu lesen, hat noch nie von Auschwitz gehört.

Halten Sie das Zusammenwirken von Union und AfD für eine „katastrophale Zäsur“ wie Michel Friedmann?

Es war ja immer schon so, dass am Rande der politischen Landschaft solche extreme Parteien standen. Auch insofern gab es nach dem Zweiten Weltkrieg keine Stunde Null. Was im Laufe der Zeit bedauerlicherweise passierte, ist diese Erosion, die langsam auch die Mitte der Gesellschaft erreicht. Nicht nur Spinner machen sich heute für die AfD stark, sondern auch Menschen, die man dem Bürgertum zurechnet. Übrigens gehören auch Juden der AfD an, was ich überhaupt nicht verstehe. 

Also lehnen Sie das Vorgehen von Friedrich Merz ab?

Solche Tabu-Brüche passieren ja nicht über Nacht. Sie fangen auf der Landesebene in Ostdeutschland an, wo die AfD Bürgermeister und Landräte stellt. Ja, die AfD hat der Union im Bundestag zur Mehrheit bei diesem Antrag verholfen und, ja, für sein Gesetz bekam Merz dann nicht die Mehrheit zustande. Aber da stelle ich mir die Frage, wo die anderen demokratischen Parteien geblieben sind. In der Not hätten sie ja, nach Verhandlungen meinetwegen, zustimmen können.

Herr Stein, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-onlin.de, gestern.

Ein anständiger Mann mit Eigensinn

Horst Köhler wohnte bei uns um die Ecke, ging mit seiner Frau spazieren, unterhielt sich mit dem Besitzer des indischen Restaurants über Philosophie und besuchte privat organisierte Konzerte. Er trat nicht auf, er kam vorbei. Er verzichtete auf Leibwächter, ein bescheidener Mann mit großer Neugierde, was andere Menschen machten und dachten.

Dass er im Februar 2004 Bundespräsident werden sollte, hat ihn selber am meisten überrascht. Am Morgen seines Abflugs nach Berlin habe ich ihn in seinem riesigen Büro im Internationalen Währungsfonds abgeholt, in dem er ein bisschen verloren wirkte. Die Aktentasche am Arm verabschiedete er sich von der Garde an Sekretärinnen und sagte: „Good people.“ Das klang komisch, aber er meinte es so. Sie waren nicht nur professionell untadelig, sondern auch menschlich loyal. Beides war ihm wichtig.

Als Präsident fiel er aus dem Rahmen. Präsidenten leben von ihren Reden, die andere für sie schreiben, und wenn es gut geht, bleiben Sätze im kollektiven Gedächtnis haften. Richard von Weizsäcker bleibt der Inbegriff des Staats-Rhetorikers. Seine Bemerkungen über die Dualität von Katastrophe und Befreiung am 8. Mai 1945, als Hitler-Deutschland bedingungslos kapitulierte, gehört ins Poesiealbum der liberalen Demokratie.

Horst Köhler erinnerte die Politik daran, auf die Menschen zu hören und zu achten. Was ihnen wichtig sei und was sie bedrücke, müssten Regierungen berücksichtigen und bedenken. Damals ärgerte sich Angela Merkel, die ihn zum Präsidenten gemacht hatte, über solche Mahnungen, wie man sich denken kann. Heute versucht Friedrich Merz verzweifelt, das Versäumte nachzuholen.

Im Gedächtnis bleibt auch ein Besuch im Gefängnis bei einem der prominenten RAF-Terroristen. Christian Klar hatte im Jahr 2007 Begnadigung beantragt, wofür der Bundespräsident zuständig war. Köhler sprach mit Opfern der RAF, mit Juristen, studierte die Akten über die Morde, an denen Klar beteiligt war. Unter wüster Kritik der CSU besuchte er Klar im Gefängnis, der weder Reue noch Einsicht zeigte und deshalb auch nicht begnadigt wurde.

Horst Köhler konnte sperrig sein, ließ sich nicht reinreden und hatte seinen eigenen Kompass. Fragte man ihn nach den Gründen für den Eigensinn, der manchmal an Starrheit grenzte, erzählte er seine komplizierte Familiengeschichte.

Er war der Sohn einer Bauernfamilie aus Bessarabien, angesiedelt ursprünglich im heutigen Moldau. Gegen Kriegsende flohen die Eltern mit den Kindern zuerst in die Nähe von Leipzig und dann 1953 in den Westen. Ein verständiger Angestellter des Lagers, in dem die Köhlers bis 1957 lebten, sorgte dafür, dass der Junge aufs Gymnasium kam, ein Schritt, der den Köhlers eigentlich fremd war. Das sei ein schwerer Anfang mit einem erstaunlichen Ende gewesen, sagte Köhler im Rückblick.

Horst Köhler war kein Politiker. Er hatte keinen Sinn für Auftritte, wirkte dabei eher gehemmt. Aber er war ein stolzer Mann mit enormer Sachkenntnis, der sich nichts vormachen ließ.

In seiner besten Zeit war er Staatssekretär im Wirtschaftsministerium zur Zeit der Wiedervereinigung. Auf seine Anregung ging der Bau von Zehntausenden Wohnungen für die heimkehrende Rote Armee in Russland zurück. Dabei spielte sich eine kleine Episode ab, die Köhler privat erzählte: Als er das Vorhaben in Moskau auf einer Konferenz skizzierte, fragte ihn ein General: „Meinen Sie das ernst?“ – „Ja, ernst“, antwortete Köhler. Der General schaute ihn lange an und sagte: „Ich glaube Ihnen.“

Für Horst Köhler waren einfache Tugenden ausschlaggebend: Zuverlässigkeit, Anstand, Fairness, Rücksichtnahme, Demut, auch eine gewisse Arglosigkeit, die ihn gelegentlich schutzlos machte. So ein Charakter schlägt keine hohen Wellen, sucht nicht den Mittelpunkt, meidet rote Teppiche.

Horst Köhler war konservativ mit liberalen Zügen. Ein Ökonom, kein Philosoph. Er setzte sich als Präsident für die Schwachen ein, zum Beispiel für Afrika, das auch deshalb in Krisen versank, weil Großmächte wie Frankreich, USA, Russland oder China ihre Eigeninteressen rücksichtslos durchdrückten.

Ein Jahr nach seiner Wiederwahl trat er zurück. Auf dem Rückflug aus Afghanistan gab er dem Deutschlandfunk ein Interview, das Anstoss erregte, was man heute kaum noch versteht. Köhler machte zunächst Bemerkungen über die mangelnde Unterstützung für die Bundeswehr in der Heimat, „obwohl die Soldaten dort so eine gute Arbeit machen“. Offenkundig beeindruckt vom Erlebten fuhr er fort, „dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren“. Als Beispiele nannte er freie Handelswege und regionale Instabilität.

Die Aufregung war groß. Der Bundespräsident hatte gesagt, was er dachte – was andere auch denken mochten, ohne es auszusprechen. Die Kanzlerin, unangenehm berührt von seinen Mahnungen, machte keinen Finger krumm. Vor allem Jürgen Trittin von den Grünen wählte pomadige Vergleiche („Kanonenboot-Politik“). Gregor Gysi, Fraktionschef der Linken machte zynische Bemerkungen, CDU-Vertreter warfen ihm unglückliche Formulierungen vor. 

Horst Köhler fand das Echo in Öffentlichkeit und Politik absurd. Es verstieß gegen sein Gerechtigkeitsgefühl. Er hatte gesagt, was ihm wichtig erschien, ohne Netz und doppelten Boden. Allein gelassen, trat er zurück und verschwand ohne Brimborium im Privatleben in Charlottenburg.

Kurz vor seinem 82. Geburtstag ist Horst Köhler heute gestorben. Wir sollten uns an einen anständigen Menschen mit Eigensinn erinnern. 

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

Wildern bei der AfD

Natürlich gibt es gute Gründe für Friedrich Merz, alles auf eine Karte zu setzen – „all in“ zu gehen, wie er angelsächselt. In den Umfragen steckt die Union bei 30 Prozent fest. Vier Wochen vor der Wahl liegt darin ein bedrohlicher Befund. Denn wie die Dinge liegen, müsste Merz dann mit zwei Parteien koalieren: Union plus SPD plus Grüne. Will  irgendjemand eine Variante der Ampel?

Der zweite Grund für eine Verschärfung der Migration ist der Anschlag in Magdeburg. Wenn in einer Serie von Attentaten auch noch Kinder umgebracht werden, ist es so gut wie unmöglich, zur Tagesordnung überzugehen. Übrigens liegt Aschaffenburg in Bayern, dessen Ministerpräsident immer überlebensgroß auftritt, wenn anderswo, zum Beispiel in Mannheim oder Solingen, Menschen umgebracht werden.

Der dritte Grund heißt Donald Trump. Die Machttechnik, wüste Maximalforderungen zu stellen, welche die Dinge auf den Kopf stellen, ist nicht nur für die AfD ein Vorbild. Man muss nur Jens Spahn in irgendeiner Talkshow zuhören, um zu wissen, wen er nachahmt: Steht das Recht im Wege, wird es beseitigt, basta! Disruption nennt sich der Vorgang – hau weg, was dir nicht passt.

Wenn sich der Union eine Chance bieten soll, mit nur einer Partei zu regieren, muss sie auf 35 Prozent kommen. Diese Marge zu erreichen, wäre auch anders möglich, als eine Brandmauer niederzureißen. Aber Friedrich Merz hat ein persönliches Problem mit der Wählerschaft, nämlich vorzugsweise mit der weiblichen: zu ältlich, zu flapsig, von gestern. Wegen dieses Kanzlerkandidaten bleiben viele Frauen, die eigentlich mit dem Gedanken spielen, die CDU zu wählen, auf Distanz.

Indem Merz die Union jetzt als Asyl-Paragraphen-Veränderungs-Partei definiert, korrigiert er einen Fehler. Nicht die Grünen, wie er lange meinte, sind der Hauptgegner, sondern die AfD. Bei ihr will er wildern. Von der Union enttäuschte Wähler hofft er durch sein Ausgreifen nach rechts zurück zu gewinnen. Dort liegt das Potential, ein paar entscheidende Prozentpunkt hinzu zu gewinnen.

Nach Souveränität sieht der Schwenk allerdings nicht aus, eher nach Verzweiflung. Friedrich Merz geht ein Experiment ein, an dessen Ende er entweder als der Dumme da stehen wird oder als der Gewiefte, den Mut zu hohem Risiko auszeichnet. 

Aber was wäre die Alternative gewesen? Niemand kann ja ernsthaft bestreiten, dass Migration die Deutschen stärker umtreibt als andere Probleme wie Klimaschutz oder steigende Preise oder der Ukraine-Krieg. Im Umgang mit den Geflüchteten bündelt sich nicht nur symbolisch die Unzufriedenheit der Deutschen mit ihrer Regierung und den Institutionen, die sie trägt.

Davon lebt die AfD. An diesem Tropf hängt sie. Ohne 2015 („Wir schaffen das“) keine AfD. Damit mobilisiert und polarisiert sie. Zugleich ist sie aber darauf erpicht, den Pariah-Status zu verlieren. Wäre Alice Weidel weniger darauf bedacht, in Talkshows einen guten Eindruck zu hinterlassen, um ihre Bürgerlichkeit zu beweisen, hätte sie erheblich stärker versucht, Kapital aus Aschaffenburg zu schlagen.

In diese Lücke ist Friedrich Merz gestoßen. Er hat die explosive Kraft, die von dem Mord an einem Kindergarten-Kind ausgeht, nicht besonders schnell, aber rechtzeitig erkannt. Am 23. Februar wird sich zeigen, ob er mit seiner Rechts-Drift richtig handelt oder das Original belohnt wird.

Lange Zeit war die Union groß darin, Brandmauern zu errichten. Zuerst traf es die Linke, als sie noch eine passable Partei von passabler Größe war. Der Auszug Sara Wagenknechts und ihrer Groupies schwächte sie  und schwächt sie noch. Völlig unverständlich bleibt aber, dass das BSW für die Union respektabel sein soll und die Linke nicht.

Die AfD ist aus Sicht Merz’ immer noch des Teufels, aber wenn sie den Migrations-Gesetzen, so sie überhaupt noch zustande kommen sollten, ihre Zustimmung geben sollte, ist ihm das egal. Nicht rechts, nicht links, sondern geradeaus – das ist jetzt die Botschaft. 

Damit bestimmt Merz von jetzt an den Wahlkampf. Selbstverständlich weiß er, dass weder Grüne noch die SPD dabei mitmachen werden, das Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen. Die Union macht sich zunutze, dass Deutschland mitten in Europa liegt und Geflüchtete, die an seinen Grenzen ankommen, zwangsläufig zuerst durch ein anderes Land gezogen sein müssen. Geht es nach der Union, dann genügt es ab jetzt nicht mehr, Asyl zu sagen, um ins Land kommen zu dürfen.

Damit reiht sich Deutschland in die Phalanx von Staaten wie Österreich oder Ungarn ein, die Geflüchtete unter allen Umständen fern halten wollen.

Einen Grundfehler hat der Politik-Wechsel, den Merz auslöst. Es liegt nun an der AfD, ob sie die Mehrheit beschafft, die Grüne und SPD nicht bieten. Also kann sie kühl kalkulieren, was ihr wohl mehr nutzt, das Mitmachen oder das Nichtmitmachen. Alice Weidel könnte die Union im Bundestag auflaufen lassen – mit uns nicht, wenn ihr uns diffamiert. Oder sie stimmt zu – ihr macht ja nur, was wir schon ewig fordern. Oder die AfD stellt ein paar Forderungen, welche die Union nicht erfüllen kann.

Friedrich Merz wird Kanzler, kein Zweifel. Er hat ein Hochrisikospiel gestartet, von dem abhängt, ob er am 23. Februar gestärkt oder geschwächt da stehen wird.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Wie die Dominos fallen

Natürlich kann man sich darüber amüsieren, wie sich Elon Musk und Alice Weidel auf X unterhalten haben. So ist es eben, wenn zwei Menschen, die sich nicht kennen und nichts zu sagen haben, weltöffentlich miteinander plaudern.

Im Gedächtnis bleibt immerhin der Satz aus dem Munde der Kanzlerkandidatin, dass Hitler ein Kommunist gewesen sei. Diese Einschätzung hat sie weltexklusiv. Vermutlich meint sie die Mobilisierung des Staates für die ideologischen Interessen der NSDAP. Hat sie sonst nichts an Hitler auszusetzen?

Der verdiente Shitstorm blieb aus. Eigentlich merkwürdig in einem heraufziehenden Wahlkampf, in dem die Beobachter in Medien und Netz sonst nichts durchgehen lassen. Die Erregungsgesellschaft schien zu schlafen.

Auf das Gesagte kam es offensichtlich gar nicht an. Das Ereignis war das Ereignis und es bestand darin, dass Musk und Weidel überhaupt miteinander redeten. Und darin steckt durchaus einige Bedeutung.

Für deutsche Rechte ist Amerika eigentlich kein Freund. Zu materialistisch, zu oberflächlich, zu viel Gewicht auf Geld, Weltmacht mit wenig Durchblick. In der nationalkonservativen Geschichtsschreibung begab  sich das besiegte Deutschland 1949 auf einen Irrweg, indem es sich zu einer europäischen Kopie der Siegermacht herabwürdigte. Deutschland ist seither zu Klein-Amerika geworden, wobei das ursprünglich Deutsche verloren ging. Was damit gemeint ist, bleibt mehr als vage.

Näher liegt nicht nur der AfD Russland. Bei Alexander Gauland ist es das Faible für den überlebensgroßen Reichskanzler Otto von Bismarck, der es verstand, nach den Einigungskriegen mit vielen Kugeln zu jonglieren, ohne sich nach Osten oder Westen festzulegen. Erst seine untauglichen Nachfolger ließen starke Bündnisse gegen das Reich entstehen, mit den bekannten Folgen im Ersten Weltkrieg.

Schlichtere rechte Gemüter sind von Wladimir Putin fasziniert, dem starken Mann, der sich nimmt, was er haben will. Und für Romantiker ist es die Weite des Landes und der Reichtum der russischen Seele, die sie inspiriert.

Nun sind die Vorlieben erstaunlich durcheinander geraten. Dafür sorgt Donald Trump, weil er so ist, wie er ist, und zum Beispiel noch vor Amtsantritt Grönland und Panama (und Kanada) für sich beansprucht. Seine Grundhaltung, dass Amerika zuerst und zuletzt kommt und Bündnisse nach Nutzbarkeit zu behandeln sind, entspricht den Wunschvorstellungen der AfD fürs eigene Land. Auch die Verdammnis für alles Liberale, die sich bei Trump immer wie Vernichtungsphantasien anhört, spricht Alice Weidel, Bernd Höcke usw. aus dem Herzen. Die Folge ist die neue Wertschätzung des Trump-Amerika. 

Die AfD ist keineswegs alleine. Giorgia Meloni machte gerade ihre Aufwartung in Mar-el-Lago. Ungewöhnlich für eine amtierende Ministerpräsidentin, dass sie nicht abwarten kann, bis der Gastgeber wieder ins Weiße Haus eingezogen ist. Und Trump macht aus seiner Wertschätzung für Viktor Orbán keinen Hehl. Dazu kommt, das Elon Musk für Nigel Farage herzliche Worte findet, den britischen Nationalisten, der den Brexit vorangetrieben hatte.

Interessante Veränderungen vollziehen sich da. Plötzlich ist Donald Trump der Mentor der europäischen Nationalkonservativen. Wladimir Putin, der Geld springen ließ und Wohlwollen schenkte, ist jetzt weniger gefragt. Die AfD spricht vorsichtiger über Frieden in der Ukraine als Sahra Wagenknecht.

Die europäische Rechte und deren große Freunde in Übersee schauen nun interessiert zu, ob mit Österreich der nächste Dominostein fällt. Bringt Herbert Kickel mit der ÖVP eine Koalition zustande, wofür ja vieles spricht, steigt er zum nächsten Helden auf, der die Aufmerksamkeit von Trump und Musk verdient.

Aus der deutschen Sicht war Österreich ein Land, auf das man folgenlos herabschauen konnte. Burgtheater, ja schon, Salzburg und der Jedermann, auch fein. Bruno Kreisky war eine Größe, aber sonst? Jörg Heider war das trübe Komplementärereignis, eine jüngere Ausgabe von Jean Marie LePen, der laszive Bemerkungen über die Hitler-Zeit fallen ließ. Herbert Kickel war übrigens Haider Redenschreiber.

Zugleich ist Österreich das böse Omen. Die Selbstverstümmelung von ÖVP und der SPÖ sind dort zu besichtigen, ebenso wie die Unmöglichkeit, auf Dauer die stärkste Fraktion, und das ist nun einmal die FPÖ, durch Kunstregierungen von der Macht fernzuhalten. 

Ja, soweit ist es in Deutschland noch nicht. Aber das Auseinanderbrechen der Regierung Scholz/Habeck/Lindner ist ein anderes Beispiel für die Unvereinbarkeit des Unvereinbaren. Nun hängt viel davon ab, ob Friedrich Merz am 23. Februar ein gutes Ergebnis erzielt, so dass er eine solide Regierung bilden kann, die sich um das Wesentliche kümmert.

Wäre doch ganz schön, wenn Deutschland Elon Musk, der die AfD für die einzige Rettung hält, widerlegen würde.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Abenteurer auf Erden und im All

Elon Musk gehört zu den Ausnahmeerscheinungen unter der Menschheit. Er ist unfassbar begabt, unfassbar erfolgreich, unfassbar reich. Er trägt zum industriellen Fortschritt bei und vielleicht schafft er es sogar, auf dem Mars begraben zu werden, wovon er ja träumt. 

Auch Steve Jobs, der Apple-Gründer, gehört in die Riege der exzeptionellen Menschen, genauso wie Bill Gates, der Microsoft Leben einhauchte, oder Jeff Bezos, von dem wir Warenpakete jedweden Inhalts beziehen. Säulenheilige sind sie beileibe nicht, sondern knallharte Kapitalisten, die Monopole anstreben.

Zwischen Musk und den anderen Beschleunigern des Fortschritts gibt es allerdings einen erheblichen Unterschied. Keiner von ihnen verließ seinen Turf und spielte sich als Riesenstaatsmann auf. In seinem zweiten Leben beschloss Bill Gates Gutes zu tun; seine Stiftung rottet Krankheiten in Afrika aus. Jeff Bezos rettete die „Washington Post“. Steve Jobs starb früh.

Elon Musk begann sein Abenteuer in der Politik ganz konventionell, indem er Geld spendete – für Demokraten wie Bill Clinton, Barack Obama, Joe Biden, woran er sich heute kaum noch erinnert. Dann aber schlug er sich auf Donald Trumps Seite und trug zu seiner Wiederwahl mit vielen Millionen Dollar bei. Seither tritt er selber in den Vordergrund und inszeniert sich nicht nur als Sprachrohr des Bald-Präsidenten, sondern als dessen Zweitstimme. Gut möglich, dass er glaubt, ohne ihn wäre The Donald nicht wieder in die Nähe des Weißen Hauses gelangt. Das Verhältnis der beiden wird noch interessant.

In Deutschland war Elon Musk bisher dieser Tausendsassa, der Tesla in der Brandenburger Steppe produzieren ließ und gelegentlich zur Begutachtung der Bauten einflog. Hätte er sich damit begnügt, die Welt mit seinen E-Autos zu beglücken und ansonsten das All zu erobern, wäre er noch immer nur der Inbegriff des Fortschrittsgiganten, der groß denkt und groß handelt.

Die neue Trump-Regierung, die am 20. Januar eingeschworen wird, steckt voller reicher Männer, die Politik für ein Gewerbe halten, dass man mit links macht und nicht länger mediokren Figuren überlassen sollte. Elon Musk ist ihr Anführer, der die Verhältnisse auf den Kopf stellen will.

Der Mikrobloggingdienst X ist sein Medium, das seine Meinungen und Beschimpfungen ins Universum trägt. Seitdem wissen wir, dass er den Bundeskanzler für einen Narren hält und den Bundespräsidenten für einen antidemokratischen Tyrannen. Außerdem empfiehlt er den Deutschen die AfD als einzige Alternative zum herrschenden System.

Zum Politikum wurden diese losen Bemerkungen erst, als sie von X in die „Welt am Sonntag“ wanderten. Der Springer-Konzern machte sich mit der AfD gemein, was eigentlich keine Sensation ist, liest man auch nur gelegentlich „Bild“. Dennoch brach Verlegenheit im Hause aus. Vorsorglich wies der Vorstandsvorsitzende Matthias Döpfner jegliche Verantwortung für den Beitrag von sich, gerade wohl deshalb, weil Elon Musk zu Gast bei seinem 60. Geburtstag gewesen war.

Der „Welt“- Chefredakteur, Ulf Poschardt, erzählte von einer mutigen Redakteurin, die Musks Einlassungen auf X gelesen und ihn zu einem größeren Elaborat in gedruckter Form gebeten habe. Diese Version veranlasste wiederum einen Springer-Aufsichtsrat, den Tech-Unternehmer Martin Varsavsky, zur Richtigstellung, ihm sei der erleuchtende Erguss in der „Welt am Sonntag“ zu verdanken.

Wie auch immer, Elon Musk wird es egal sein und er wird sich in der Bedeutung seiner Person nun auch in der deutschen Weltinnenpolitik bestätigt sehen. Als Autorität vermag er auf Robert Habeck hinweisen, der ihm warnend zuruft: „Finger weg von unserer Demokratie“.

Die eigentliche Frage ist aber, was den wohl reichsten Mann der Welt dazu antreibt, seine Kommunikationsmacht in den Dienst eines neuen Autoritarismus zu stellen. Denn der Trumpsche Ethno-Nationalismus erfreut sich der massiven Unterstützung der libertären Tech-Elite, die für Verschwörungstheorien empfänglich ist und Eingriffe des Staates ins Wirtschaftsleben als Teufelswerk verdammt. 

Elon Musk wurde 1971 in Pretoria in eine wohlhabende Buren-Familie geboren. Damals herrschte Apartheid in Südafrika und die Angst der weißen Minderheit vor der Herrschaft der schwarzen Mehrheit war groß. Musk begab sich als Student auf Wanderschaft. Auf dem Umweg über Kanada kam er nach Amerika, machte Karriere und erlangte die Staatsbürgerschaft.

Lange Zeit war Musk kein Anhänger ethno-ständischer Ordnungen wie Donald Trump, sondern unterstützte eben ausgesuchte Demokraten. Offenbar war es aber die Black-Lives-Matter-Bewegung, die ihn störte, weil sie den Unternehmen Diversität abverlangte. Libertäre wie Musk sind aber Verfechter einer unbedingten Meritokratie, in der individuelle Fähigkeiten die alleinige Grundlage für Erfolg sind. Bis heute versteht er es, in AmerikaGewerkschaften aus seinen Unternehmen fern zu halten. 

Den Kreuzzügen gegen das „Woke“ – ein summarischer Begriff für alles, was für radikale Republikaner in Amerika schief läuft –  haftet durchaus Persönliches an. Während der Pandemie lud Joe Biden Amerikas Autobauer ins Weiße Haus zu einem Gipfeltreffen ein – nur Musk nicht, zu dessen tiefer Kränkung. Seine Tochter, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzog, erklärte er in einem Interview für tot.

„Aus einem libertären Tech-CEO,“ so schreibt die FAZ, „der narzisstische Züge aufwies, politisch gleichwohl ein Zentrist war, entwickelte sich binnen weniger Jahre ein libertärer Autoritärer.“ Musk kaufte Twitter und machte daraus einen nationalistischen Verstärker, der Rechtsausleger bevorzugte und Kritiker verbannte. Mit seiner Verlosung von 1 Million täglich rekrutierte er dann Wähler für den Kandidaten Trump.

Musk folgen heute 208 Millionen Menschen auf X. Er ist eine Macht aus eigenem Recht dank der Politisierung der Algorithmen, wie die FAZ schreibt.

In Trumps Orbit befindet sich Elon Musk nun in illustrer Gesellschaft. Ein Mann hackte einem gestrandeten Wal den Kopf ab und befestigte ihn auf dem Dach seines Autos – Robert F. Kennedy wird nun Gesundheitsminister. Ein anderer stieg betrunken in einem Strip-Klub auf die Bühne und tanzte mit der Ausziehkünstlerin – Pete Hegseth soll Verteidigungsminister werden. Und der Bald-Präsident lasse Kölnisch Wasser in einem Flakon in der Form seines Kopfes verkaufen, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“.

Ein Kabinett aus so vielen eigenwilligen Außenseitern hat Amerika noch nicht gesehen, noch nicht gehabt. Wie werden die Trumpisten regieren? Seltsame Gebräuche in der Vergangenheit müssen nicht bedeuten, dass daraus schlechte Politik folgt. Aber umgekehrt führt Dilettantismus à la Elon Musk nicht notwendig zu solider Regierung. Wie immer können wir zu Beginn des neuen Jahres nur das Beste für Amerika und die Welt erhoffen.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Hoffnungsschimmer im Irrsinn

Was bringt das neue Jahr? Unterm Weihnachtsbaum, beim Spaziergang im winterlichen Sonnenschein, im Familienkreis wird diese Frage alljährlich hin und her gewälzt. Wahrscheinlich diesmal noch intensiver, noch ratloser als sonst immer. Es ist ja nicht ganz einfach, zuversichtlich zu bleiben, wenn man sich im eigenen Land und in der Welt umsieht. Aber was ist die Alternative?

Präventive Panik liegt nahe, das schon. Donald Trump sitzt in drei Wochen im Weißen Haus und kann machen, was er will, wie die Dinge liegen. Selten war ein Präsident so mächtig. Ein paar Wochen später wählt Deutschland das Parlament, das den Kanzler wählt, der Friedrich Merz heißen wird. Auch nicht jung, auch nicht frisch, auch mit Beklommenheit erwartet. Dann der Krieg in der Ukraine und der Krieg in Nahost, der aus multiplen Teilkriegen besteht.

Zum Glück geht es in der Geschichte selten andauernd bergab. Es gibt auch Ruhephasen und eingestreut erfreuliche Ereignisse. In Polen regieren wieder Pro-Europäer. In Großbritannien sind pragmatische Sozialdemokraten nach dilettierenden Edelkonservativen am Ruder.. 

Selbst im Nahen Osten gibt es bei allem Irrsinn bemerkenswerte Entwicklungen, die Anlass zu einem gewissen Optimismus geben. Die Assad-Dynastie ist Vergangenheit, wer hätte das gedacht. Die siegreichen Rebellen legen es darauf an, einen besonnen Eindruck zu erwecken. Wenn es gut geht, halten sie sich dauerhaft daran. 

Die Ereignisse in Syrien, im Libanon und im Gaza haben Iran geschwächt. Der Export der schiitischen Revolution ist fürs Erste gestoppt, wer wollte sich darüber beschweren? Israel ist dabei, sich von der Achse des Widerstands zu befreien. Aber was macht es daraus? Kann Benjamin Netanyahu mehr als nur Krieg zu führen? Wer unterbricht die Gewaltspirale?

Das politische Kennzeichen der Zeit ist Disruption. Dafür sorgten unter anderen Hamas und Hisbolah. Wladimir Putin macht mit, in der Ukraine, in Syrien, mit seinen hybriden Kriegen in Europa. China hat die Disruption hinter sich; dafür sorgte Xi Jinping, der den regelmäßigen Austausch der Führungsspitze zu seinen Gunsten beendete.

Disruption als Begriff ist noch jung. Er meint Unterbrechung einer Entwicklung, Zerstörung des Bestehenden. Dem Kapitalismus wohnt dieses Prinzip von je her inne. Er zerstört alte Geschäftsmodelle und Technologien und ersetzt sie durch neue, wodurch sich auch Staat und Gesellschaft wandeln. Aber die rechte Wende, die sich in etlichen Ländern Bahn bricht, konzentriert sich auf starke Einzelne, die den Lauf der Dinge fundamental verändern.

Im Westen ist es Donald Trump, der Disruption zum Wesenskern seiner Politik erhoben hat. Ich mache kaputt, was uns kaputt macht, ist seine Botschaft. Da er meint, was er sagt, lässt er zwei Milliardäre – Elon Musk und Vivek Ramaswamy – die Washingtoner Bürokratie zerschlagen, mit dem Ziel, Trump-Getreue dort einzusetzen. Ihm geht es um den „tiefen Staat“, was auch immer das sein mag. Wer nicht von ihm handverlesen ist, dem traut er nicht, schon gar nicht gesichtslosen Institutionen. 

Interessant daran ist, dass der neue Autoritarismus, den Trump verkörpert, von einer technologischen Elite getragen wird, die sich auf einen Kreuzzug begeben hat. Elon Musk ist das herausragende Symbol dafür. In seinem missionarischen Konservatismus empfiehlt er Deutschland, es Amerika nachzumachen und die AfD an die Regierung zu bringen. 

Trump und Musk, ein wahrhaft infernales Duo, aber auch zwei weltumspannende Egos, für die diese Welt zu klein ist. Kleine Wette am Rande: Die Symbiose der beiden übersteht dieses Jahr 2025 nicht. Ein Überpräsident wie Trump duldet keinen Über-Präsidenten neben sich.

Wie viel Disruption Donald Trump auslösen wird, ist die große Frage des kommenden Jahres. Außenpolitisch mag er unberechenbar bleiben, vielleicht auch für sich selber. Versteht man ihn richtig, möchte er den Friedensnobelpreis bekommen und, wie er eben so ist, wird er alles daran setzen, dass er ihn bekommt, wie Barack Obama vor ihm. Frieden in die Welt zu tragen, eröffnet ihm diese Möglichkeit, zum Beispiel in der Ukraine. 

Gerecht muss er sein, dieser Frieden. Nicht auf Kosten des Kleinen, nicht dem Aggressor zum Gefallen. Mag sein, dass Trump in seiner Selbstüberschätzung daran glaubt, er könnte Wladimir Putin zu Großzügigkeit überreden. Was aber wenn nicht? Zur Trumpschen Unberechenbarkeit gehört die Reaktion darauf. Lässt er die Ukraine weiterhin aufrüsten? Wendet sich Amerika einfach ab und erklärt den Fall für Europas Problem wie ja auch Syrien?

Deutschland hat Disruption hinter sich. Sie war eine notwendige Maßnahme des Staates in der Pandemie und im Wechsel in der Energieversorgung. Die Wahl am 23. Februar wird zu einem Regierungswechsel führen, zu einem Machtwechsel, aber Disruption ist von Friedrich Merz nicht zu erwarten, eher Korrektur – zum Beispiel am Bürgergeld, an der Immigration, an der Aufrüstung der Bundeswehr. Entscheidend wird sein, ob Handelskriege, von Trump verursacht, den globalen Austausch an waren und Gütern behindert, unter dem Exportnationen wie Deutschland besonders leiden würden.

Getrübte Gefühle, getrübte Aussichten auf das Jahr 2025. Um eine Disruption sollten wir unseren baldigen Kanzler aber jetzt schon bitten: Er möge geschmeidig regieren und ein paar Probleme lösen, die aufs Lösen seit geraumer Zeit warten.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der Gottesfürchtige

 Jimmy Carter war ein guter Mensch. Seine Moral gründete in seinem Christentum, über das er wie über eine Selbstverständlichkeit redete. Für ihn war Gott keine transzendente Instanz, unerforschlich und fern, sondern ein naher Verwandter, mit dem man innige Gespräche führt. Er sagte, er habe dafür gebetet, dass ihm ein friedliches Ende beschert sein möge. „Ich bat Gott nicht darum, mich leben zu lassen, aber ich bat ihn um eine richtige Haltung gegenüber dem Tod. Und jetzt lebe ich vollkommen und vollständig entspannt auf den Tod hin.“

Im Leben von James Earl Carter, den jedermann Jimmy nennen durfte und musste, waren die letzten Dinge stets gegenwärtig. Die Gläubigkeit geht im amerikanischen Süden tiefer als an den Küsten Neuenglands und Kaliforniens – im Guten wie im Schlechten. Sie verursachte ja auch den Rassismus, der dem 19. Jahrhundert anzugehören schien, wie man denken könnte, aber das war ein grundlegender Irrtum. Diese Ursünde der Gründung Amerikas scheint nicht zu vergehen und nichts an diesem Land lässt sich weniger verstehen als die Segregation oder der Ku-Klux-Klan.

In seinen Anfängen schlug sich Jimmy Carter auf die Seite der Rassisten. Als er 1970 zum ersten Mal Gouverneur von Georgia werden wollte, suchte er die Unterstützung von George Wallace, einer der übelsten Figuren, die sich gegen die Aufhebung der Rassentrennung im Süden wehrte, als sei sie des Teufels. Wie Jimmy Carter diese Verirrung aus Opportunismus seinem Gott erklärte, wüsste ich gern.

Als er Gouverneur war, verwandelte er sich in den Menschen, den wir kennen. Er sagte, die Rassentrennung sei Vergangenheit. Mit diesem Satz war er, man glaubt es kaum, der erste Amtsinhaber im Süden, der Selbstverständliches aussprach. Als er im Jahr 1976 Präsident wurde, war er wiederum ein Phänomen, nämlich der erste Amtsinhaber aus dem tiefen Süden seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg. 

Er war der große Unbekannte. Der Erdnussfarmer aus Georgia bildete mit seiner Frau Rosalynn ein Duo, als es noch unüblich war, dass die Ehefrau mehr als Dekor war, nämlich eine Ratgeberin des Präsidenten. „Rosalynn and I“, so leitete er unzählige Sätze ein. Das Paar bildete eine Symbiose und nichts wäre schöner für die beiden gewesen, hätte ihr Gott sie zusammen heimgeholt. Aber Rosalie starb zuerst, am 19. November 2023, mit 96 Jahren.

Ihr Mann Jimmy war ein gläubiger Mensch in einer zynischen Zeit. Als er Präsident wurde lag der Rücktritt Richard Nixons nur zwei Jahre zurück, der Vietnamkrieg nur ein Jahr, die Veteranen kehrten heim in ein Land, das nichts von ihnen wissen wollte, hatten sie doch einen Krieg verloren, in dem sie unfassbar überlegen gewesen waren, was ihnen aber nichts nutzte.

Jimmy Carter war nicht zynisch. In diesem geschichtlichen Augenblick war er das Beste, was seinem Land passieren konnte. Amerika war zwar eine Weltmacht, die aus den falschen Gründen falsche Kriege führte, aber es war auch eine Nation, die sich nach Erlösung sehnte. Carter bot Erlösung an und deshalb durfte er im Januar 1977 ins Weiße Haus einziehen.

Damals begannen zwei Entwicklungen, die bis heute andauern: Amerika wählt, erstens, einigermaßen zuverlässig das genaue Gegenteil des jeweiligen Amtsinhabers. Nixon war ein Ganove, Carter ein Gottesfürchtiger. Und, zweitens, besiegen unbekannte Größen aus der Provinz, die ultimativen Washington-Insider: nach Carter kamen Bill Clinton und Barack Obama, aber auch Donald Trump.

Die schöne Harmonie zwischen Carter und Amerika hielt nicht allzu lange an. Sein annus horribilis war 1979. Zuerst zog Ajatollah Khomeini in Teheran ein und vertrieb Schah Reza Pahlevi, den getreuen Verbündeten der Weltmacht USA. Dann schickte die Sowjetunion ihre Rote Armee nach Afghanistan, weil sie aus dem schrecklichen Krieg der anderen Supermacht in Vietnam nichts gelernt hatte.

Die Folge des Machtwechsels in Iran war die zweite Erdölkrise, die den Westen ins Mark traf. Sie verursachte hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit in den fortgeschrittenen Industriestaaten, auch in den USA. Damit war das Ende der Eintracht mit seinem Präsidenten erreicht.

Es kam noch schlimmer für Jimmy Carter. Weil die USA dem krebskranken Schah Behandlung im eigenen Land gewährte, besetzten 400 Studenten in Teheran die Botschaft des „großen Satans“ und nahmen 52 Diplomaten zu Geiseln. Sie verlangten die Auslieferung des Schahs, was Carter ablehnte. Das geschah am 4. November 1979.

Was macht ein Präsident in so einer Lage? Er sagt, er werde keine Aktion zur Befreiung erlauben und lässt sie heimlich vorbereiten. In der Nacht zum 25. April 1980 begann das Unternehmen „Adlerklaue“ mit Flügen in die große Salzwüste im Süden Irans. Wegen eines verheerenden Sandsturms musste die Befreiungsaktion sofort abgebrochen werden. Es kam, wie es immer kommt: Beim Start stürzte ein Hubschrauber ab. Acht Soldaten waren sofort tot, vier verletzt. Die Leichen stellte das Regime der Mullahs öffentlich in Teheran aus.

Eine Katastrophe. Eine beispiellose Demütigung. Eine Verhöhnung der Weltmacht. Gepeinigt vom Vietnamkrieg, musste Amerika einen neuerlichen Nachweis für strategisches Unvermögen und militärische Schwäche hinnehmen. Damals wollte die Weltmacht noch unbedingt Weltmacht sein und für Niederlagen suchte sie Schuldige. Einer davon saß im Weißen Haus.

Ajatollah Chomeini machte sich einen Spaß daraus, den nächsten amerikanischen Präsidenten zu bestimmen, dessen Wahl im November 1980 anstand. Die Geiseln ließ er zielsicher am 19. Januar 1981 frei, einen Tag vor der Amtseinführung Ronald Reagans, der mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war.

Jimmy Carter zog sich nach Plains zurück, seiner Heimatstadt in Georgia. Für einige Zeit hielt er sich der Öffentlichkeit fern, dann gründete er sein Carter Center und setzte sich fortan für Menschenrechte auf der ganzen Welt ein. Das Center widmet sich der Konfliktverhütung und überwacht Wahlen.

Jimmy Carter selber wirkte als Vermittler in Haiti und Bosnien-Herzegowina, reiste nach Kuba und traf Fidel Castro. Er schrieb ein Buch, für das er einen beredeten Titel wählte: „Palestine Peace, not Apartheid“, in dem er Israel die Hauptschuld an den unhaltbaren Zuständen gab. 

Da war er wieder, der Moralist Jimmy Carter. Ihm machte der Aufschrei über sein Buch in Israel und Amerika nichts aus. Er bewegte sich ja jetzt auf seinem eigenen Planeten, allein seinem Gewissen verpflichtet. Um Humanität ging es ihm, um Demokratie und Gerechtigkeit. Politik und Selbstanpreisung war gestern. Die Freiheit vom Schaugeschäft genoss er, keine Frage. Und, man glaubt es kaum, er freundete sich mit Bob Dylan an, dem großen Schweiger.

Im Jahr 2002 erhielt Jimmy Carter den Friedensnobelpreis, die maximale Genugtuung für das unrühmliche Ende seiner Präsidentschaft. Als Zivilist, als Amerikaner, als Weltbürger ehrte ihn das Norwegische Nobelkomitee.

Jimmy Carter lebte nach dem Auszug aus dem Weißen Haus noch 43 Jahre, länger als jeder andere Präsident vor ihm. Bis zuletzt reiste er, empfing Gäste und gab Sonntags Erwachsenen Unterricht an der Maranatha Baptist Church in Plains. Das Kleine und das Große waren ihm gleich wichtig. Dann zog er sich, gemeinsam mit Rosalynn zum Sterben zurück.

Jetzt folgt Jimmy seiner Rosalynn und hält Einzug bei seinem Gott, ein gläubiger Baptist des tiefen Südens.

Veröffentlicht uf t-online.de, gestern.

Gas geben, Menschen töten

Auf Bill Clinton geht ein Gesetz aus dem Jahr 1996 zurück, das in guter Absicht beschlossen wurde, aber unabsehbare Folgen zeitigt. Damals war das Internet noch jung und es schien nötig zu sein, die neuen digitalen Plattformen vor staatlicher Zensur zu schützen. Mit der Konsequenz, dass die Betreiber keinerlei Verantwortung für Veröffentlichtes übernehmen müssen, leben wir heute.

Elon Musk darf schreiben und veröffentlichen, was er will, es sei denn es ist strafrechtlich relevant. Der übergroße Rest, egal wie schwachsinnig oder erkenntnisreich, steht unter dem Gebot der Meinungsfreiheit.

Seit dem Attentat von Magdeburg halten sich Politiker aller Parteien mit Äußerungen zurück. Nicht etwa, weil Weihnachten bevorsteht oder weil sie den Wahlkampf in christlicher Absicht  scheuen, sondern weil der Fall zu  schwierig ist, zu ungewöhnlich, so dass selbst geübte Scharfmacher, etwa in Bayern, die üblichen Reflexe vermissen lassen.

Taleb al-Abdulmohsen, 50, Arzt, aus Saudi-Arabien, seit 18 Jahren hier, Arbeit in einem Gefängnis, anti-islamischer Aktivist, massiv in den sozialen Medien unterwegs.  Nicht etwa ein Syrer, des Lesens und Schreibens unkundig und islamisch radikalisiert – eben nicht der Archetyp des illegalen Immigranten, den die Rechte an die Wand malt, von der AfD bis zur „Heimat“, wie die NPD sich nun nennt.

Nicht einmal die AfD wagte es zunächst, routiniert nach Remigration zu verlangen und schaute erst einmal in den Mitgliederlisten nach, ob der Attentäter etwa einer von ihnen war. War er wohl nicht. Nur auf Björn Höcke ist Verlass. Er meldete sich alsbald auf auf seinem Telegram-Kanal zu Wort: Die Bemühungen von Politik und Medien, den Verdacht auf einen islamistischen Hintergrund „zu zerstreuen, sprechen Bände“. Ironischerweise spricht Bände, dass sich Höcke und der Attentäter-Arzt einig sind in ihrem Hass auf den Islamismus.

Im Netz findet sich passende Gesellschaft, denn auch dort kommt es auf die schnelle scharfe Andeutung an, die wilde Verschwörungstheorie. Dort darf jeder, der Laptop/Handy/Tablet bedienen kann, seine maßgebliche Meinung faktenfern kundtun: Er habe sich nur verstellt und sich niemals vom Islam losgesagt, dieser Taleb al-Abdulmohsen. Er sei in Wahrheit ein Geheimdienstagent gewesen, der saudiarabische  Dissidenten in Deutschland ausgespäht habe. Oder war er vielleicht gar kein Arzt?

Die Wahrheit ist langweilig. Sie beruht auf Fakten, kann zwar hin und her gewendet werden, bietet aber so etwas wie eine allgemein gültige Grundlage für jedwede Auslegung und damit eine gewisse Verbindlichkeit. Aufregender ist jedoch die Zwischenspanne, die Phase, wenn das schreckliche Ereignis noch nicht lange her ist und sich die spintisierende Spekulation ungehemmt ins Netz ergießen kann.

Da kann man alles behaupten und ist für nichts verantwortlich. Diese Erregung, dieses Voyeurhafte, diese völlig losgelöste Amoralität breitet sich rasend schnell aus und erzeugt eine Grundstimmung, die jederzeit abrufbar ist.

Wenn es gut geht, bleibt es beim Dualismus von vorsichtiger Behandlung in der Öffentlichkeit und der Raserei im Netz. Unter den herrschenden Umständen ist das aber fast schon eine Utopie. In Amerika wird Donald Trump, der ungezügelt redet und denkt wie die Enthemmten in den sozialen Medien, zum zweiten Mal Präsident.

Verantwortungsvolle Demokratien tun gut daran innezuhalten, wenn Attentäter wie in Magdeburg oder auf dem Berliner Breitscheidplatz wahllos so viele Menschen töten und verletzen wollen, wie sie können. Fassungslosigkeit verschlägt die Sprache. Gesten, wie das Blumen-und Kerzenmeer vor der Magdeburger Johanniskirche, sind im Schock beredter als Worte.

Demokratien müssen dann aber auch wieder die richtigen Worte bei Andachten und Trauergottesdienst finden. Darauf haben die Angehörigen der Getöteten und Verletzten ein Anrecht. Und unsere Politiker, die nach Magdeburg kamen, haben ein Anrecht auf Respekt, was denn sonst.

Natürlich wollen wir so schnell wie möglich alles über die Biographie dieses Arztes wissen, um zu verstehen, was ihn dazu antrieb, in einen Wagen zu steigen, Gas zu geben und drei Minuten lang Menschen auf einem Weihnachtsmarkt zu töten und zu verletzen. Wie so viele andere Attentäter vor ihm tobte er sich zunächst in den sozialen Medien aus, beschloss dann aber, dass ihm dieses Toben nicht mehr genug war und schockte eine Stadt und ein ganzes Land.

Aber lässt sich vermeiden, dass irregeleitete Existenzen Unglück über Menschen bringen, die nichts als vorweihnachtliche Freude genießen wollen? Wie denn?

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.