Kompromisse? Was für Schwächlinge

Eigentlich ist es ja aller Erfahrung nach so, dass sich Kriege erschöpfen. Sie lassen entweder aus Einsicht in die Notwendigkeit nach, weil genug getötet und gestorben worden ist. Oder das Waffenarsenal und der Nachwuchs an Soldaten schrumpfen, so dass die Moral sinkt und im Weiterkämpfen kein Sinn mehr liegt. Auf diesen toten Punkt könnte der Krieg in der Ukraine zusteuern.

Der Nahe Osten ist anders. Dort gibt es Aufstände und Konflikte seit 100 Jahren und die Zeitspanne ohne Attentate, ohne Krieg, ohne Sterben ist gering. Deshalb muss man sich trotz der jüngsten israelischen Triumphe keinen Illusionen hingeben, dass der Friedensplan, den Joe Biden schon vor Monaten vorgelegt hatte, auch nur den Hauch einer Chance auf Umsetzung besitzt.

Im Gegenteil ist es offenbar so, dass Israel die Gelegenheit zur Vernichtung ihrer Feinde sieht, was man ihm nicht einmal verdenken kann. Wer lässt schon dauerhaft die Hisbollah im Norden Raketen abschießen und die Hamas im Süden Mörser abfeuern und den 7. Oktober wiederholen. 

Das ist nun einmal die Logik in dieser Weltgegend. Bring so viele Menschen um, wie nur irgend geht. Lass deine Rache größer sein als das Leid, das du erfahren hast. Nutz die Schwäche deiner Feinde maximal aus. Erbarmungslosigkeit ist die Tugend der Starken. Kompromisse gehen nur Schwächlinge ein.

Friedensbemühungen? Lange her, fast 30 Jahre lang, als Jitzak Rabin noch lebte. Was widerfuhr ihm? Er wurde im November 1995 umgebracht – von einem rechtsextremistischen Juden, der den Ministerpräsidenten für einen Verräter hielt, da er für Ausgleich mit den Palästinensern eingetreten war. Einige der Minister im heutigen Kabinett Netanyahu denken genauso wie der Rabin-Mörder.

Der Krieg geht weiter, immer weiter. Der Geodaten-Geheimdienst der USA wertet Bilder und Informationen aus, die Satelliten sammeln. Sie weisen darauf hin, dass Israel Vorbereitungen für einen Anschlag auf Iran trifft. Sie sollten, versteht sich, ein Geheimnis bleiben, kursieren dennoch und vielleicht ist die Verbreitung sogar politisch gewünscht. Denn die Warnungen, die der amerikanische Präsident vor einem Krieg mit Iran ausstößt, stoßen ja bei Benjamin Netanyahu eher auf taube Ohren.

Nach diesen Geheimdienst-Informationen übt die israelische Luftwaffe den Ernstfall. Die Frage scheint nur noch zu sein, wann wie und wo sie zuschlagen wird. Von Premier Netanyahu weiß man, weil er es oft genug wissen ließ, dass er die Urananreicherungs-Anlagen und Forschungsstätten für das iranische Atomprogramm im Visier hat. Sie sind allerdings über das Land verteilt und in gesicherten unterirdischen Anlagen versteckt.

Ein leichteres militärisches Ziel sind die Häfen mit ihren Öl-Terminals. Sie in Brand zu stecken, würde die ohnehin fragile Wirtschaft schädigen und deshalb vielleicht sogar Unruhen im Land auslösen. Israel träumt von einem Regimewechsel in Teheran und arbeitet darauf hin.

Eine dritte Möglichkeit sind Attentate auf Politiker und Geistliche. Das Undenkbare ist denkbar, wie man seit den Morden an Atomwissenschaftlern und auch an Hamas-Führer Ismail Hanija mitten in Teheran weiß.

Bisher ist ein Krieg gegen Iran nur eine nahe liegende Option. Dagegen ist der Zweifrontenkrieg im Gaza und im Libanon Wirklichkeit.

Die Hisbollah versuchte gerade einen Anschlag auf das Privathaus der Familie Netanyahu, die allerdings nicht daheim war.  Im nördlichen Gaza hat die israelische Armee die Stadt Jaballija umzingelt und bombardiert. Angeblich hatten sich Hamas-Kämpfer dort reorganisiert. 20 000 Menschen sind auf der Flucht und man muss sich fragen, wohin sie in dieser Trümmerwüste noch fliehen sollen. 

Irgendwo dort in den Ruinen oder Tunneln sind auch die Geiseln, seit mehr als einem Jahr. Auf ihre Befreiung hoffen die Familien, die noch immer regelmäßig in Tel Aviv auf die Straße gehen, mit wachsender Verzweiflung. Sind ihre Kinder, Frauen, Männer, Großväter überhaupt noch am Leben und wenn ja, wie viele? Oder haben ihre Bewacher an ihnen Rache geübt, als ihre Ikone Jaja Sinwar gestorben war? Und warum unternimmt die Regierung Netanyahu eigentlich keine Anstrengung für einen Austausch?

Momentan finden keinerlei Verhandlungen über die Geiseln statt. Die Vermittler am Golf und in Ägypten erachten die Wiederaufnahme für zwecklos. Israel fühlt sich zu stark für Zugeständnisse. Die Hamas fühlt sich zu schwach für Zugeständnisse. 

Natürlich wäre es human, den Biden-Plan umzusetzen, die Geiseln freizulassen und an den Wiederaufbau im Gaza zu gehen, was ja unter den herrschenden Bedingungen ohne die Hamas möglich wäre. Aber auf Humanität ist hier nicht zu hoffen und somit bekommt die Hamas so gut wie eine Garantie zum Überleben.

Denn sie war schon einmal in einer ähnlichen Krise, damals in den 1990er Jahren und wieder zehn Jahre später, als fast ihre gesamte Führung entweder umgebracht worden war oder in israelischen Gefängnissen steckte. Dort saß auch jaja Sinwar viele Jahre lang ein und geht nun als Märtyrer und Mastermind des 7. Oktober 2023 in die arabischen Geschichtsbücher ein.

Gut möglich also, dass sich dieser schreckliche Krieg noch ausweitet. Und für die nächsten Kriege wächst die nächste Generation heute schon heran. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Die Besserwisser-Keule

Die Lage ist verdammt unübersichtlich, darüber könnten sich schon mal alle Parteien einig sein. Gerade deshalb üben sie sich im Anlegen von Brandmauern, mal nach rechts, mal nach links – oder was sie für links halten.

Markus Söder, der angeblich fein damit ist, dass er nicht die Nummer 1 der Union sein darf, brandmauert neuerdings gegen Grün. Natürlich nicht aus Überzeugung, denn was ist schon Überzeugung mehr als Selbstüberredung zum hurtigen Meinungswechsel, wenn sich der Wind dreht.

Die Grünen sind für ihn des Teufels, weil sie links-ideologische Überzeugungen vertreten. Und weil es tatsächlich zwei CDU-Hanseln gibt, den Hendrik (Wüst) im Westen und den Daniel (Günther) im Norden, die es noch immer wagen, mit den Grünen zu regieren, muss der fränkische Bayer ihnen heimleuchten, dass ihnen das Denken im großen Ganzen ganz einfach abgeht, das  wiederum ihn, dem Markus, so ungemein auszeichnet.

Es ist immer wieder interessant, wen sich Söder als neues Feindbild erwählt. Er hätte ja auch gegen die beiden anderen CDU-Ministerpräsidenten Michael (Kretschmer) und Mario (Voigt) stänkern können, die in einem gemeinsamen FAZ-Artikel mit  SPD-Dietmar (Woidke) für mehr Diplomatie und Frieden in der Ukraine plädieren. Natürlich aus tiefster Überzeugung – um Sahra Wagenknecht gefällig zu sein, mit der sie regieren müssen. 

Die Grünen stehen im Dauerregen. Gegen sie zu sein, ist momentan leicht. Markus Söder macht es sich gerne leicht. Also schwingt er sich auf zum apokalyptischen Vorreiter gegen eine Koalition im Bund. Vielleicht entfällt ihm aber auch bald wieder die Überzeugung von heute, sobald sich der Wind dreht, wovon man eigentlich ausgehen sollte. Bis dahin tut er eben so, als hätte er die Deutungshoheit über Weltinnen- wie Weltaußenpolitik, die für ihn identisch ist mit CDU/CSU, versteht sich.

Was sich in den drei ostdeutschen Ländern ereignet (oder vielleicht auch nicht), ist ein heißes Eisen und deshalb erst mal Friedrich Merz überlassen. Läuft es schief, hat es Markus Söder mit seinem weiten Horizont immer schon besser gewusst, darauf können wir uns verlassen. Auch so sieht sie aus, die Solidarität unter Demokraten.

In Sachsens CDU kursiert ein Brief, in dem Honoratioren von gestern dazu auffordern, die AfD nicht weiterhin auszugrenzen. Der Meinung kann man sein und ist man nicht nur dort. Nur hat Michael Kretschmer Zusammenarbeit mit der AfD genauso ausgeschlossen wie Kohabitation mit der Linken und auch eine Minderheitsregierung hat er gebrandmauert. Der Mach-ich-nicht-Will-ich-nicht Rundumschlag brachte Kretschmer den knappen Vorsprung vor der AfD ein, hat sich folglich bewährt und wird in dieser Unübersichtlichkeit gegen Renegaten, und davon gibt es ja nicht wenige, verschärft verteidigt.

Da macht sich Kretschmer lieber abhängig vom BSW und lässt sich auf außenpolitische Lippenbekenntnisse ein, welche die Landespolitik übersteigen, aber egal. Sahra Wagenknecht will es so und bekommt es eben so.

In Thüringen ist man schon weiter. Dort haben CDU und BSW gemeinsam einen Covid-Untersuchungsausschuss einberufen. Worin seine Wahrheitsfindung bestehen soll, ist unklar, aber darauf kommt es auch nicht an, oder?

In Thüringen muss es geben, was es in Sachsen nicht geben darf: eine Minderheitsregierung. CDU, SPD und BSW bringen es auf exakt die Hälfte aller Stimmen im Landtag: 44. Also muss sich Mario Voigt eine Mehrheit suchen, wo er sie nicht suchen darf, und hat dabei die freie Wahl zwischen der Linken und der AFD.

Zum Glück gibt es den überaus pragmatischen Bodo Ramelow, ehemals linker Ministerpräsident, dem es zuzutrauen wäre, dass er aus sachlichen Erwägungen wie ein Neutrum mit der Regierung stimmen wird. Aber auch die AfD wird es sich nicht nehmen lassen, die Koalition dann und wann durch Ja-Sagen in Verlegenheit zu stürzen. Für permanente Aufregung ist in Thüringen jetzt schon gesorgt.

Ist das dann noch eine Brandmauer oder kann das weg, dank der Lex Ramelow? Und wie tief hängt sich Friedrich Merz überhaupt in den drei ostdeutschen Ländern rein? Theoretisch können Brandmauern wegen neuer Umstände geschliffen werden. Oder man ignoriert sie aus übergeordneten Gesichtspunkten. Aber ignoriert Markus Söder dann mit oder holt er wieder die Besserwisser-Keule heraus?

Hübsch kompliziert ist auch die Lage in Brandenburg. Dort hat sich das Landesparlament noch nicht konstituiert. Wer regieren muss, ist unumstritten: SPD und BSW. Den ersten Kotau hat Dietmar Woidke mit dem FAZ-Artikel schon geleistet, den Sahra Wagenknecht klug und differenziert fand, so ein Zufall.

Trotzdem verhält sich der weiterhin amtierende Ministerpräsident sperrig, weil er sich nicht Vorschriften von der unumschränkt herrschenden Namensgeberin des BSW gefallen lassen möchte. Ziemlich widersprüchlich, aber na ja, wir müssen uns alle an undankbare Umstände gewöhnen.

Die Anpassung mag sich hinziehen, dann verliert sie womöglich sogar ihren Schrecken. Aber auch die nächsten Aufwallungen werden in Ostdeutschland ganz bestimmt nicht ausbleiben. Der fränkische Bayer, der sich fürs große Ganze zuständig fühlt wie sonst niemand, wird sie autoritativ kommentieren, soviel ist sicher.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Friede ihren Seelen

Die „Einheit 200“ war dazu da, das überreichliche Material aus den Überwachungskameras und Abhöranlagen im Gaza zu sichten, zu sortieren und zu bewerten. Von ihrer Aufmerksamkeit und Hellsicht hing einiges ab, das wusste jeder im israelischen Geheimdienst.

Am 23. Juli 2023, also weit vor dem Massaker, schrieb eine Unteroffizierin eine Zusammenfassung über das Gehörte und Gesehene. Darin erwähnte sie, dass einiges auf Vorbereitungen für eine Invasion hindeute. Als Beleg für ein sinistres Vorhaben diente ihr auch der verschärfte Ton der Predigten in den Moscheen im Gaza: Man solle in Israel „maximales Leid verursachen, Grauen verbreiten und die Moral der Juden brechen“.

Am 19. September, da waren es noch 18 Tage bis zum Massaker, lag ein weiterer Rapport vor, aus dem hervorging, dass offenbar eine Invasion geplant sei. Darin stand sogar, dass 200 bis 250 Geiseln in den Gaza verschleppt werden sollten.

Es waren junge Soldatinnen, die zu deuten wussten, was die Hamas bezweckte. Es waren ihre Vorgesetzten, die ihrem Urteil nicht vertrauten, weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Sie kollaborierten in der Ignoranz mit der Regierung Netanyahu, die auf das Westjordanland fixiert war. So konnte sich entfalten, wovor die jungen Frauen vergeblich gewarnt hatten.

Die Mörder der Hamas kamen mit Feldküchen zur Verpflegung. Ihre Kommandeure hielten sie dazu an, Kugeln nicht zu verschwenden. Sie töteten Babys, kastrierten Männer, vergewaltigten Frauen und zündeten auf dem Nova-Festival Autos an, so dass die jungen Menschen, die sich im Kofferraum versteckt hatten, bei lebendigem Leib verbrannten. Die Bestatter empfahlen den Hinterbliebenen, mit den Toten die Autos zu begraben, weil nur so die mit dem Stahl verschmolzenen Seelen ihren Frieden finden könnten. 

Angeblich fanden sich Unterlagen in den unterirdischen Tunneln, wonach die Hamas darauf hoffen durfte, dass Iran militärisch eingreifen würde, wenn die israelische Armee, wie gewünscht, Gaza bombardieren und besetzen würde. Denn die Hamas zielte auf einen großen Krieg, der Israel endlich nach so vielen vergeblichen Versuchen in die Knie zwingen würde.

Ein Jahr danach ist die Region dem großen Krieg tatsächlich so nahe wie selten zuvor. Nur bleiben die iranischen Revolutionsgarden wie eh und je im Hintergrund und schicken Hisbollah und Houthi-Rebellen nach vorn. Die militärische Initiative liegt beim gedemütigten Israel und nicht bei den Todesbeschwörern in Teheran. Von dort kommen sogar einige Signale, die für geringes Interesse an einem Big Bang sprechen.

Denn militärisch ist Israel zu stark für die Mullahs, vor allem mit der Unterstützung der USA, die nicht zufällig noch mehr Flugzeugträger und Kriegsschiffe in diese Weltgegend schickt. Die beiden Raketenangriffe im Ende April und Anfang Oktober kamen mit Ansage und ließen sich mit vereinten Kräften abfangen.

Gut möglich also, dass Israel gestärkt und Iran geschwächt aus diesem explosiven Konflikt hervorgeht, der am 7. Oktober 2023 mit einer Blutorgie und der Geiselnahme begann. So sieht es momentan aus, muss es aber nicht bleiben.

Für die Hamas ging Iran nicht ins Feuer. Für die Hisbollah schon eher, weil sie ihr verlängerte Arm im Libanon, im Irak und in Syrien ist. Aber mit der Ermordung der Kommandeure samt des geistlichen Führers Hassan Nasrallah in wenigen Tagen zeigte Israel eine verblüffende Kenntnis des geheimsten Inneren der Miliz. Von diesem gewaltigen Schock müssen sich Hisbollah und Iran erst einmal erholen.

Israel steht jetzt in einem Zweifrontenkrieg. Gaza ist allerdings zum Nebenkriegsschauplatz geraten. Niemand weiß vermutlich genau, wie viele Geiseln irgendwo im Labyrinth noch leben. Für die Regierung Netanyahu besaß ihre Befreiung höchstens kurzfristig Priorität; nunmehr gar keine mehr. Diese Schande wird noch über sie kommen.

Wie so oft verstrickt sich die israelische Armee im Libanon. Wie 1982. Wie 2002. Wie 2006. Vielleicht gelingt es ihr sogar, die Hisbollah bleibend zu schwächen. Vielleicht gelingt es ihr am Ende, die 30-Kilometer-Zone bis zum Litani-Fluss als dauerhafte Pufferzone zu etablieren, so dass der Norden Israels ruhiger leben kann. Und dann?

Wahrscheinlich sind Syrien und der Irak sogar ganz froh darum, wenn die Hisbollah und damit Iran an Einfluss verliert. In beiden Ländern haben sie ihre Schuldigkeit getan, meint man dort, und könnten gehen. Auch im Libanon soll es viele Christen, Drusen, Maroniten und sicherlich auch Moslems geben, die wenig vom Todeskult der Hisbollah halten. Aber Freunde Israels sind sie deshalb noch lange nicht. Und wie die ethnisch-religiösen Kräfte in Beirut einst austariert werden sollten, kann niemand genau sagen.

Amerika ist nicht mehr die starke Ordnungsmacht, die Einfluss auf den gesamten Nahen Osten nehmen kann. Saudi-Arabien hat eigentlich den Geltungs- und Gestaltungsdrang für Größeres, bleibt aber auch gerne im Hintergrund und erfreut sich an der Schwächung Irans. Ägypten könnte am ehesten, gemeinsam mit der Uno, vielleicht auch mit China, zu einem Libanon-Gipfel einladen.

Aber bevor man an eine Neuordnung der Region ernsthaft denken kann, muss zuerst einmal Waffenruhe herrschen. Und die hängt von Israel ab.

Der große Unsicherheitsfaktor ein Jahr danach ist Benjamin Netanyahu. Er schwimmt auf einer Woge des Erfolgs. Ihm liegt daran, mit seinen elektronischen Scoops die Schmach und die Schande vom 7. Oktober zu vergessen. Und die Gunst der Stunde, auf die er schon lange wartete, könnte ihm zum Angriff auf Iran verleiten.

Der amerikanische Präsident zieht vorsorglich rote Linien: kein Angriff auf Ölraffinerien, keiner auf die Energieversorgung, geschweige denn die Atomanlage in Natanz. Überhaupt kein israelischer Angriff!

Nun weiß man ja aus einiger Erfahrung, wie Benjamin Netanyahu solche Ratschläge behandelt. Zur Kenntnis nehmen. Mit Schweigen bedenken. Nicht ganz ignorieren, aber weitgehend. Zur Tagesordnung übergehen. Und was ist seine Tagesordnung?

Man verliert ja das Vertrauen in die List der Vernunft, die gerade aus grauenvollen Kriegen etwas Sinnvolles hervorbringen kann. Man darf sie aber nicht ganz verlieren, da so vielen Menschen an so vielen Orten in dieser geschundenen Region sonst noch mehr Grauen und Elend bevorsteht.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Netanyahu gegen den Rest der Welt

Amerikanische Kriegsschiffe halfen dabei, die anfliegenden1 800 iranischen Raketen abzuschießen. Außerdem sind drei Lenkwaffenzerstörer in der Region und noch ein Flugzeugträger ist auf dem Weg dorthin. Insgesamt 40 000 US-Soldaten sind über den Nahen Osten verteilt, von Irak bis Kuweit.

Die Weltmacht befindet sich einer undankbaren Doppelrolle. Sie garantiert, einerseits die Existenz des Staates Israel, der sich von Feinden umzingelt sieht, und erhöht die militärische Präsenz in der Gegend. Sie vermag, andererseits, so gut wie keinen Einfluss auf Benjamin Netanyahu auszuüben. Waffenstillstand und Geiselaustausch in Gaza: abgelehnt. Warnung vor Bodenoffensive in Gaza: abgetan. Warnung vor Bodenoffensive im Libanon: Nebbich! 

Israel gegen den Rest der Welt. Netanyahus historischer Auftritt vor der Uno bestand aus einer Suada der Verachtung für diese Institution, gegen die sich viel sagen lässt, außer dass es nichts Besseres gibt. Wer nicht für Israel eintritt, verfällt seinem Bannspruch wie Antonio Guteress, der Uno-Generalsekretär, der nun nicht mehr ins Land einreisen darf. Wer ist der oder die nächste?

Benjamin Netanyahu ist der Inbegriff der Maßlosigkeit. Wir gegen sie, Gut gegen Böse: Seinem Denken haftet etwas Archaisches an. Kritik verbietet er sich in negativen Superlativen. Der Scoop mit den präparierten Pagern und Walkie Talkies und der Mord an Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bestätigen ihm, dass Israel in der Region beispiellos überlegen ist und keine Verbündeten braucht. Sie bemühen sich ja freiwillig um Ausgleich mit Israel wie Saudi-Arabien oder Katar. Und sie beteiligen sich sogar am Abfangen der iranischen Raketen wie Jordanien.

Netanyahu hat die Eskalationsdominanz im Nahen Osten. In den Geschichtsbüchern wird später einmal stehen, dass ihm dieses Massaker vor ziemlich genau einem Jahr nach und nach die Gelegenheit bot, nicht nur die Hamas, sondern auch die Hisbollah entscheidend zu schwächen. Immer schon traute man ihm auch einen Schlag gegen Iran zu und er redete oft genug davon, dass Israel den Iran mit allen Mittel daran hindern müsste, Atommacht zu werden. Jetzt sagte er, Iran werde einen hohen Preis für den Raketenangriff zahlen. Welchen?

Iran ist offenbar nicht mehr weit davon entfernt, genügend waffenfähiges Plutonium für eine Atombombe zu entwickeln. Aber selbst wenn spaltbares Material im rechten Maß vorhanden sein sollte, dauert es eine gewisse Zeit, eine nukleare Waffe zu bauen, um so mehr für eine kleine. Hilfe bekommt Iran von Freunden wie Russland, Nordkorea oder China. Alles scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Iran soweit ist.

Das Uran wird in einer unterirdischen Anlage in Natanz angereichert, im trockenen Landesinneren, 225 Kilometer südöstlich Teherans. Natanz wäre das bevorzugte Ziel im Fall der Fälle, genauso wie das Nukleartechnische Zentrum in Isfahan. Kann man sich aber vorstellen, dass Israel entsprechende Waffen besitzt, um zum Beispiel Bunker zu sprengen? Muss man sich sogar vorstellen, nach der Erfahrung der letzten Tage.

Draußen in der Welt wird Netanyahu als kriegslüstern wahrgenommen, als ein Mann, für den Ausgleich, Frieden oder Diplomatie keine Kategorien darstellen. Draußen in der Welt wird Netanyahu als ein inhumaner Politiker kritisiert, der 120 Geiseln preisgibt, weil sein höheres Gut die Befreiung von Feinden in Gaza und im Libanon bleibt.

Drinnen in Israel sieht es anders aus. Der Erfolg spricht für Netanyahu und deshalb steht wohl noch immer eine größere Mehrheit hinter ihm. Sie findet es richtig, die arabischen Bauern aus dem Westjordanland zu vertreiben. Auch findet es sie richtig, dass die Hamas zerschlagen wird, so dass der Raketenbeschuss in den Süden Israels aufhört. Sie findet es sowieso richtig, dass die Hisbollah dezimiert wird, dank der Findigkeit des Mossad.

Invasionen sind allerdings immer ein unkalkulierbares Risiko mit hohem Blutzoll. Und der Libanon ist seit dem Bürgerkrieg in den siebziger Jahren, als das komplizierte Gebilde mit seiner Machtteilung für Maroniten und Drusen, Muslime und Christen dahinsiechte. Nur deshalb konnte die schiitische Hisbollah in kurzer Zeit mit iranischer Begleitung zum entscheidenden Machtfaktor im Libanon aufsteigen.

Was aber wird aus diesem Land nach einer Bodenoffensive und, nehmen wir mal an, ohne Hisbollah? Gut möglich, dass die von Netanyahu geschmähte Uno stärker in Spiel kommen müsste.

Krieg ist immer einfach. Aber was kommt danach? Großzügige Sieger sorgen dafür, dass die Demütigung für den Verlierer nicht zu tief reicht, weil ja sonst die Saat für den nächsten Krieg gelegt wird. Umsichtige Kriegsherren verfügen über einen Plan, wie die neue Ordnung danach gestaltet werden kann.

Weder Benjamin Netanyahu noch das von ihm geprägte Israel geben Anlass zu Hoffnung, dass sie den Grundstein für einen anderen, einen weniger kriegsgeplagten Nahen Osten legen wollen. 

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Die Krise frisst ihre Kinder

Ein paar Nachrichten aus Deutschland in den letzten Tagen: Die Wirtschaft wird im Jahr 2024 erneut schrumpfen. Eine Rezession von 0,1 Prozent ist nicht die Welt, aber in einem Land, dem das Selbstvertrauen abhanden kommt, das unruhig, sogar unberechenbar wirkt und müde der Veränderungslast, fällt vieles ins Gewicht, was unter besseren Umständen abgeschüttelt würde.

Anderen Ländern ergeht es ökonomisch besser, zum Beispiel Frankreich und den USA, auch China. Dort wächst die Wirtschaft. Man könnte hoffen, dass es sich bei uns um einen vorübergehenden Effekt handelt, aber wir ahnen, dass die Gründe tiefer liegen könnten.

Weiter: Erheblich weniger deutsche Autos gehen in den Export. Der Optimismus wegen der E-Autos ist aus vielerlei Gründen verflogen. Dazu denkt VW daran, die seit 30 Jahre bestehende Beschäftigungssicherung aufzuheben, so dass 30 000 Jobs gefährdet sind. Bayer hat sich mit dem Glyphosat-Konzern Monsanto verhoben. BASF sitzt auf einem Schuldenberg bei sinkendem Eigenkapital.

Dellen in der Konjunktur, national begründet oder international, gehören zum Kapitalismus. Volkswirtschaften wandeln sich und dabei entstehen Gefälle in Industrie und Unternehmen – die einen kommen mit, die anderen hinken hinterher. Wenn allerdings ein Exportland wie Deutschland an der Modernisierung, Stichwort Digitalisierung, nicht rechtzeitig teilnimmt, können Verwerfungen von Dauer entstehen. Wenn zu viele Big Player kränkeln und ganze Branchen, wie die Chemie, unter hohen Energiepreisen stöhnen, wird es bitter. 

In solchen serienartigen Krisen richtet sich der Blick auf die Bundesregierung. Überhaupt ist die Überschätzung der Möglichkeiten von Politik in Deutschland besonders ausgeprägt. Die Regierung, auch nicht die Ampel, ist jedoch weder für goldene Zeiten noch für bleierne Zeiten ursächlich zuständig. Zuerst kommt die Ökonomie, dann die Politik, so ist das nun mal in marktwirtschaftlichen Demokratien. 

Was daraus folgt hat die CDU schon unter Konrad Adenauer verstanden: Wir bauen den Sozialstaat auf, aber in Maßen; ansonsten geben wir der Wirtschaft, was sie braucht. Die FDP ist, vor allem heute, eine CDU in Schrumpfausgabe: Die Schuldenbremse ist unantastbar,  Steuererleichterungen für die Wirtschaft und freie Fahrt für schnelle Bürger.

Dass die Grünen in ihrer DNA mit der SPD zwillingshaft verbunden sind, erweist sich am Verhältnis zum Staat. Anders gesagt, befanden sich beide Parteien in ihrem Element, als Pandemie und Ukraine-Invasion die Schleusen öffnete. Der Staat alimentierte ins Trudeln geratene Firmen und Unternehmen, steuerte die Energieversorgung um und half, wo er musste. Die Gegensätze zur FDP wirkten sich erst destruktiv aus, als das Bundesverfassungsgericht die Schleusen schloss. Seitdem ging nichts mehr und das Ansehen der Regierung rauschte in den Keller.

Ökonomie ist nicht alles, aber ohne Ökonomie ist alles nichts. Ökonomie verschärft auch kulturelle Konflikte wie den über Migration und Asyl. Auf diesem Feld entwickelte die Ampel urplötzlich Betriebsamkeit, weil sie den wachsenden Unmut der wählenden Bürger vernahm. War ja auch überfällig und wird ihr deshalb nicht gutgeschrieben. Diese Identitätskrise fiele ohne ökonomische Krise womöglich weniger toxisch aus.

Was tun? Ändert sich ernsthaft etwas, wenn die FDP die Regierung sprengt? Sie hätte es längst getan, wenn sie sich davon etwas versprechen dürfte. Ändert sich etwas, wenn Boris Pistorius Kanzler wird? Die Stimmung ja, aber nicht die SPD, zerrissen wie sie ist. Und wer glaubt schon, dass in der Ampel unter einem neuen Kanzler plötzlich Harmonie ausbricht?

Dazu kommt, dass die Grünen noch schwächer werden, wenn es kommt, wie es zu kommen scheint. Aller Voraussicht nach sind sie jetzt dran mit der Abspaltung. Kann gut sein, dass die ausgetretenen jungen Grünen eine linksökologische, antikapitalistische Partei gründen. Dass man mit solchen Start Ups Erfolg haben kann, hat das BSW vorgemacht. Und natürlich auch die AfD, die als Fleisch vom Fleisch der CDU begann. Nur die FDP ist vor Halbierung gefeit, ausgedünnt wie sie ist.

Die CDU sollte sich diese Bedingungen sehr gut anschauen, ehe sie die Wahl gewinnt, wovon man ausgehen kann. Wäre ja schön, wenn die Erleichterung nicht nur einen Wimpernschlag lang anhielte, weil das Trio Scholz/Lindner/Habeck abgelöst worden ist. Aber diese Doppelkrise aus Ökonomie und Migration ist nun einmal tückisch und kann auch eine neue Regierung unter Friedrich Merz leicht auffressen.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Im Zweifrontenkrieg

Anwohner in Beirut und anderen libanesischen Städten erhielten heute morgen Textbotschaften auf ihren Handys, in denen sie aufgefordert wurden, ihre Häuser zu verlassen. Im Büro des libanesischen Informationsministers ging ein Anruf ein, das Gebäude solle sofort geräumt werden. Auf diese Weise warnte die israelische Luftwaffe vor neuen massiven Angriffe, die sie seit Tagen auf ausgesuchte Ziele fliegt.

Die Regierung Netanyahu weitet den Krieg auf eine zweite Front aus. Denn die Einsätze im Gaza und auch im Westjordanland gegen die Hamas gehen ja weiter. Was seit dem 7. Oktober 2023 zu befürchten war, tritt jetzt ein – die Ausweitung eines Konfliktes, der die ganze Region ins Chaos stürzen kann.

Allerdings entwickelt sich die Ausdehnung des Krieges anders, als die Experten in Europa und Amerika angenommen hatten. Die Initiative liegt nicht bei der schiitischen Hisbollah, sondern bei Israel. Netanyahu geht damit ein enormes Risiko ein. Denn Zweifrontenkriege gehen selten gut aus. Die Überdehnung der Armee mit entsprechenden Rückschlägen ist fast immer die zwangsläufige Folge. Israel besitzt zwar eine starke Armee, ist aber dennoch ein kleines Land.

Die Hisbollah, geschwächt durch das Eliminieren fast ihrer gesamten Führung, verfügt schätzungsweise über 100 000 Raketen unterschiedlicher Reichweite. Mehrere davon schlugen gestern in Haifa ein, der Hafenstadt, die nur 50 Kilometer hinter der Grenze zum Libanon liegt. Fliegen zu viele Raketen zur selben Zeit über die Grenze, ist auch der viel gepriesenen Iron Dome machtlos.

Die große Frage ist nun, wie sich Iran verhalten wird. Es sind schon einige Wochen vergangen, seit mitten in Teheran Ismail Haniyeh, der politische Führer der Hamas, getötet wurde. Niemand bezweifelte, dass der israelische Geheimdienst für den Mordanschlag verantwortlich war. Die Führung um den greisen Ali Chamenei kündigte sofort martialisch wie immer härteste Vergeltung an, die jedoch bislang ausgeblieben ist. Um Mäßigung könnte der amerikanische Präsident Joe Biden angehalten haben.

Und nun? Wer könnte noch mäßigen? Wer will es überhaupt?

Eine Ordnungsmacht entfällt, seitdem Netanyahu es gefiel, den amerikanischen Präsidenten hinzuhalten, um ihn schließlich ganz zu ignorieren. Xi Jinping versuchte anfangs sehr vorsichtig, als Vermittler ins Spiel zu kommen. Unter den neuen Umständen wird sich China aber fürs Erste zurückziehen. Und europäische Länder wie Deutschland oder Frankreich bemühen sich redlich um Einfluss, der jedoch keinem von beiden Ländern zugestanden wird, weder in Israel noch in Iran.

Wenn es kommt, wie es im Nahen Osten immer kommt, dann wird die Hisbollah mit neuer Führung in nächster Zeit Stärke demonstrieren. Hochgerüstet ist sie. Iran kann sie unschwer mit noch weiter reichenden Waffen versorgen, die nicht nur im Norden Israels einschlagen, sondern in Haifa oder sogar in Tel Aviv.

Iran sah bisher davon ab, aus dem Hintergrund in den Vordergrund zu treten. Die Hamas gaben die Mullahs dran, jedenfalls schien ihnen der Gaza eher ein unvermeidliches Opfer zu sein. Anders liegt der Fall bei der Hisbollah, die ein verlängerter Arm der Revolutionsgarden ist und auch im Bürgerkrieg in Syrien eine wichtige Rolle einnahm. Die Enthauptung der Hisbollah und der Verlust Libanons könnte die rote Linie sein, die Iran zur Verteidigung seiner regionalen Hegemonie in den Krieg hineinzieht.

Die Logik im Nahen Osten lautet ja: Hass gebiert noch mehr Hass. Rache ruft noch mehr Rache hervor. Massaker folgt auf noch größere Massaker. Tod folgt auf Tod.

Zwei große traurige Verlierer gibt es jetzt schon kraft der Ausweitung des Krieges. So gut wie verloren sind  die israelischen Geiseln in den Labyrinthen des Gaza. An ihnen, es sind wohl noch 120, kann sich die Hamas rächen und damit Israel demütigen. Dass sie zum Töten der Geiseln ohne weiteres imstande ist, hat sie schon unter Beweis gestellt.

Der zweite Verlierer ist Amerika. Joe Biden scheiterte mit seiner Doppelstrategie, einerseits Israels Existenz zu garantieren und andererseits enormen Druck auf Netanyahu aufzubauen. Sein Plan sah einen Waffenstillstand vor, dem die Freilassung der Geiseln folgen sollte, woraufhin der Krieg geendet hätte, damit der Wiederaufbau beginnen konnte. Das ausgefeilte Vorhaben starb mit der Explosion der Pager.

Interessant wird sein, wie Benjamin Netanyahu in die Geschichte Eingang findet. Als unerschrockener, eigensinniger Held, der zwei Feinde Israels entscheidend schwächte und deren Mentor in die Schranken wies? Oder als Mann mit größtmöglicher Hybris, der aus Eigennutz Kriege ausweitete, die Israel an den Abgrund führten?

Momentan steht Israel wieder als der Tausendsassa dar, der vieles vermag, was Araber wie Palästinenser wie auch der Rest der Welt ihm nicht zugetraut hätte. Die Explosion von Pager und Walkie Talkies ist die eigentliche Rache für das Massaker am 7. Oktober. Die Führung der Hisbollah steht nun so dilettantisch da, wie Armee und Geheimdienst Israel damals. Dazu kommt dann noch ein zerstörtes Gebäude in Beirut, in dessen Trümmern mehrere Kommandeure der Hisbollah umkamen.

Heute erscheint Israel stark und entschlossen. Und morgen? Frieden ist so fern wie der Mond. Der Ausweitung des Krieges könnte die neuerliche Ausweitung des Krieges folgen. Es geht weiter, immer weiter. Wer kein Herz aus Stein hat, möchte daran verzweifeln.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Vergiftetes Lob

Um mal mit etwas Positivem anzufangen: Weil er in meiner Heimatstadt Hof mit zwei Macheten etliche Soldaten der Bundeswehr niedermetzeln wollte, ist ein 27jähriger Syrer festgenommen worden. Der Hinweis kam „aus dessen Umfeld“, so heißt es.

Mit ein bisschen Wirklichkeitssinn lässt sich festhalten, dass es schon öfter gut gegangen ist, als sich im öffentliche Bewusstsein niederschlug. Meist sind es ausländische Geheimdienste, die einen Tip geben. Manchmal verdankt es sich der Aufmerksamkeit der Polizei, wenn ein Attentat verhindert wird. Oder aber, wie in Hof, fällt einem Bekanntem oder Landsmann auf, dass da jemand Menschen umbringen will.

Aber natürlich sind es die Anschläge von Solingen, Mannheim oder München, die fragen lassen, was schief läuft und wie man Nachahmer abhalten kann. Und vor allem muss und soll etwas geschehen, damit die AfD, die mit jedem Messer-Mord noch mehr aufblüht, nicht weiter davon profitieren kann.

Ab heute lässt die Bundesregierung sämtliche Landesgrenzen kontrollieren. Damit will sie, die „irreguläre Migration weiter zurückdrängen, Schleuser stoppen, Kriminellen das Handwerk legen, Islamisten erkennen und aufhalten“, wie Innenministerin Nancy Faeser ziemlich markig sagt. Viel verlangt sie auf einmal und nach aller Erfahrung zu viel. 

Die Falle besteht darin, dass die Innenministerin (wie auch CDU-Chef Friedrich Merz) Migration und Terrorismus nicht auseinanderhält. Für die Eindämmung des Terrorismus, den einzelne Migranten ausüben, wäre es zum Beispiel sinnvoll, endliche eine europäische Gefährder-Datei einzurichten. Den Migranten, die über Österreich oder Polen einreisen, kann ja kein Bundespolizist ansehen, ob sie sich hierzulande radikalisieren werden oder sogar dem Auftrag des IS folgen, so viele Menschen wie möglich umzubringen. Aber einschlägig Bekannte, die eine Datei erfasst hat, lassen sich abfangen.

Von heute an werden auch die Grenzen zu Frankreich, Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg kontrolliert. An den Übergängen zu Österreich, Tschechien, die Schweiz und Polen wird schon untersucht, wer da kommt. Das schöne Schengen-Abkommen, wonach freier Reiseverkehr in der Europäischen Union herrschen darf, ist für sechs Monate außer kraft gesetzt.

Das Echo klingt nicht amüsiert. Polen legt Protest ein, Griechenland auch. Österreich will sich weigern, abgewiesene Migranten zurückzunehmen, auch wenn sie dort registriert worden waren. In Österreich ist in zwei Wochen Wahl, die FPÖ liegt bei 30 Prozent und ruft Ungarn als leuchtendes Beispiel aus. Denn Ungarn registriert Asylbewerber nicht, sondern weist sie entweder ab oder schickt sie einfach durch. Viktor Orbán, der Ministerpräsident, schickte übrigens ein vergiftetes Lob nach Berlin: „Jetzt ist Deutschland aufgewacht.“

Auch Friedrich Merz schwebt das ungarische Beispiel vor, auch wenn er sich nicht darauf beruft. Er verlangt ja nach blanker Zurückweisung von Migranten an der Grenze, womit dann auch Deutschland gegen das Dublin-Abkommen verstieße, das zur Aufnahme von Asylbewerbern verpflichtet. Die auch nicht mehr zimperliche Bundesregierung ist dagegen, weil sie sich ungern vom Europäischen Gerichtshof verurteilen ließe oder finanzielle Strafen verhängt sähe. Ungarn übrigens ist mit 200 Millionen Euro wegen seiner systematischen Zurückweisung sanktioniert worden.

Der große Irrtum des Kampfes gegen irreguläre Migration besteht aber darin, dass er sich innerhalb der EU gewinnen lässt. Wenn sie aber erst einmal in Italien, Griechenland oder Polen angekommen sind, fragt sich nur noch, welches Land sie aufnehmen muss. Nach der Dublin-Vereinbarung liegt die Verantwortung bei dem Land, in dem sie eintreffen. Aber weder Italien noch Polen oder Österreich oder Griechenland hindern Geflüchtete daran, weiter nach Deutschland zu ziehen. 300 000 waren es im Jahr 2023.

Deutschland wiederum wollte im vergangenen Jahr rund 75 000 Migranten in ihr europäisches Erstland zurückschicken. Nur 5 000 bekam sie los. Den übergroßen Rest wollte kein anderes Land zurück haben. In Wahrheit ist das Dublin-Abkommen tot.

Jedes europäische Land treibt nationale Migrations-Politik. Jedes Land achtet darauf, dass es möglichst stabil bleibt. Deshalb ist Migrations-Politik in Wirklichkeit Anti-Migrations-Politik. Dänemark macht keinen Hehl daraus, dass ihm Abschreckung vorgeht. Die Niederlande sind dabei, dem Beispiel zu folgen. Österreich dürfte es auch so halten, sobald die FPÖ die Wahl gewinnt.

Wenn Deutschland wirklich will, dass die Zahl der Migranten dramatisch sinkt, dann sollte die Bundesregierung zugeben, dass diese Demokratie nicht mehr so liberal ausfallen kann wie bisher. Sie könnte mit Fug und Recht argumentieren, dass Stabilität unter den Umständen wichtiger ist. Und sie müsste in Brüssel dafür sorgen, dass nicht jeder seins macht, sondern die europäischen Außengrenzen geschlossen werden, anstatt der nationalen. 

Das deutsche Abkommen mit der Türkei ist wahrlich kein Ruhmesblatt. Außerdem gibt es Migrations-Vereinbarungen mit Mauretanien und Ägypten, Marokko und Sudan. Das sind amoralische Deals, was denn sonst.

Deutschland war bislang, kraft seiner Geschichte, weniger dazu geneigt, entschieden restriktive Migrations-Politik zu betreiben. Diese Haltung ändert sich gerade. Die interimistische Schließung der Grenzen ist, so gesehen, sogar ein großer Schritt. Doch eine effektive Politik im Umgang mit diesem wahrlich komplexen Problem sieht anders aus. In Europa muss die Bundesregierung für  kollektives Handeln eintreten.

Der Gradmesser für die politische Wirksamkeit der neuen Maßnahmen ist die Wahl in Brandenburg am kommenden Sonntag. Brandenburg gehört der SPD – bisher. Liegt die AfD diesmal vorne, wäre das die nächste Abrissbirne für die SPD und ihren Kanzler.

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Jetzt wird das Undenkbare gedacht

 Alle anderen Parteien haben beschlossen, dass sie die AfD rechts liegen lassen. Allerdings fällt der Preis verflixt hoch aus. Um die Rechte auszugrenzen, muss das ebenfalls übel beleumdete BSW einbezogen werden. 

Man kann die AfD ignorieren. Man kann so tun, als gäbe es sie nicht. Man sollte aber nicht vergessen, wie stark sie inzwischen in ostdeutschen Landen verwurzelt ist. Ein paar Lehren aus Thüringen und Sachsen sollten gezogen werden.

Lehre Nummer 1: Eine hohe Wahlbeteiligung – jeweils 73,5 Prozent – schadet der AfD nicht, im Gegenteil. Inzwischen hat sie ein verlässliches Wählermilieu, das ihr auch erhalten bleiben dürfte, wenn ihr die Sonne mal weniger lacht. Der frische Zulauf kam von den Nichtwählern: Bei den 18- bis 30jährigen liegt sie vorne, also wählen sie nicht nur die Alten und Abgehängten.

Lehre Nummer 2: Je weiter von den Städten entfernt, desto stärker ist die AfD. Ihre Wähler sind die weniger Gebildeten. Was für die FDP der Apotheker war, ist für die AfD der Handwerker – das professionelle Leitbild. Die Protestpartei hat sie hinter sich gelassen und ist zu einer Milieupartei geworden. 

Lehre Nummer 3: Die AfD ist nicht mehr nur die Ausgründung rechts von der CDU. Ihre erst einmal auf Dauer gestellte Existenz als nationalkonservative Partei macht sie zum Impulsgeber für die anderen Parteien.

Diese anderen Parteien haben den Schuss nun endlich gehört und machen sich überstürzt daran, das Versäumte nachzuholen – eine neue Gesetzgebung für Asyl und Einwanderung. Wie man die Ampel kennt, wird die Prozedur nicht ohne Selbstzerrüttung verlaufen. Wie man CDU und CSU kennt, dient der Prozess auch dazu, über den nächsten Kanzlerkandidaten zu befinden.

Wir nicht-regierenden Nicht-Parteien-Menschen haben den entschiedenen  Vorteil, dass wir die Sache ohne Nebenabsichten bedenken können. Sie ist ja komplex genug, so dass eigentlich nur der aufgeregte Markus Söder meint, eine eindimensionale Änderung des Asylgesetzes diene zur Wiedererlangung staatlicher Kontrolle über die Immigration. Ähnlich illusionäre Vorstellungen hegt die Innenministerin, die Messer nur noch bis zu einer bestimmten Größe im öffentlichen Raum erlauben möchte. Auch mit kurzen Klingen lassen sich Gurgeln durchtrennen.

Viel muss zusammen kommen, damit weniger Geflüchtete hierher kommen. Es beginnt mit dem Eingeständnis:: Wir schaffen das nicht, weil die Stabilität der Demokratie ernsthaft bedroht ist, wenn der Rechtsruck aus Ostdeutschland auf die Bundestagswahl durchschlägt. Deshalb ist es besser, wenn sich nicht wieder 351 915 Geflüchtete nach Deutschland durchschlagen wie im vorigen Jahr. 

Diese Wir-wollen-euch-nicht-Haltung macht das dänische Modell aus, das plötzlich bei uns hoch im Kurs steht, jedenfalls in CDU und CSU. Eine nicht unbedeutende Folge besteht allerdings in der Preisgabe des liberalen Grundgedankens, auf den die Nachkriegsrepublik mit recht stolz war.

Es wäre schon angebracht, das Regierung und Opposition ein paar Prinzipien klären, bevor sie einen Paradigmenwechsel vornehmen. Der bloße Hinweis, dass jetzt sein muss, was vorher nicht sein durfte, genügt nicht. Wenn Merz/Söder/Scholz ernsthaft begründen, warum sich die Verhältnisse geändert haben und neue Regeln und Gesetze bedingen, unterscheiden sie sich eben auch von der Rabulistik der AfD und von deren schwarzen Phantasien von der Remigration der Ausländer..

In den nächsten Tagen und Wochen werden wir mit Vorschlägen bombardiert werden, woran die Asylpolitik krankt. Sinnvolles wird neben weniger Sinnvollen stehen. Grenzen zu kontrollieren, erfordert erheblich mehr Bundespolizisten. Die Abschaffung des Asyl-Paragraphen, wie Markus Söder fordert, geht nicht ohne Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag. Attentate und Amokläufe lassen sich ohne größere Befugnisse für Polizei und Geheimdienst nicht präventiv verhindern. Abkommen mit Drittstaaten wie Libyen oder Tunesien oder der Türkei sind schmutzige Deals, egal ob man sie so nennt oder verlegen darum herum redet.

Die Wirkung, dass jetzt Undenkbares gedacht wird, erzielt die AfD durch ihre bloße Existenz. Sie ist unübersehbar da, auch wenn sie von den anderen Parteien ignoriert wird. Sie treibt in Wahrheit die Ampel samt CDU/CSU vor sich her. Und fÜr die Verspätung tragen sie gemeinsam Verantwortung, denn 2015, als Angela Merkel ihren Wir-schaffen-das-Satz aussprach, regierten CDU/CSU und SPD. Und für die Ampel galten bisher andere Prioritäten, teils freiwillig, teils unfreiwillig: Pandemie, Ukraine, Energieversorgung, Klimapolitik. Spät besinnt sie sich darauf, dass Kontrollverlust zu Vertrauensverlust führt.

Als beabsichtigte Nebenwirkung stellt sich das Duell zwischen Markus Söder und Friedrich Merz ein. Geht das weiter so, kann sich 2025 durchaus wiederholen, was sich im Jahr 2021 schon mal ereignete: Die Union bleibt unter ihren Möglichkeiten, weil der Kandidat, der sich demokratisch durchsetzt, vom beleidigten Rivalen nur halbherzig unterstützt wird.

Aber bis es soweit kommt, wird erst einmal Thüringen im Zentrum des Interesses stehen. Dort konstituiert sich spätestens am 1. Oktober der Landtag. Der Altersvorsitz fällt einem AfD-Mitgied zu, auch ein Symbol. Danach wird der Landtagspräsident gewählt, der traditionell der stärksten Fraktion zusteht, also der AfD. Gilt die ungeschriebene Regel noch? Wählen die anderen Fraktionen den Höcker-Kandidaten seines Vertrauens oder lassen sie ihn durchfallen? Und bekommt später Mario Vogt, CDU, wenigstens im dritten Wahlgang eine Mehrheit – und will er als Ministerpräsident eine Minderheitsregierung führen, wie Bodo Ramelow vor ihm?  

Unruhige Tage stehen Thüringen bevor. Viel Neuland will dort betreten sein. Friedrich Merz muss viel Geschick im Umgang mit seltsamen Koalitionen und Brandmauern beweisen, damit ihm seine Partei nicht aus dem Ruder läuft. Denn in Bayern lauert Markus Söder nur auf Fehler, die er ausbeuten kann.

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Der AfD näher als der CDU

Zwei Länder haben gewählt und die Bühne wackelt dermaßen, dass man den Drehschwindel bekommen könnte. Wie bitte geht’s hier weiter?

Die Rasanz, mit der plötzlich der BSW in den Kreis der Ehrbaren aufgenommen wird, ist verblüffend. Die Ernüchterung dürfte auf dem Fuß folgen. Sahra Wagenknecht besitzt die destruktive Kraft einer großen Egoistin mit hochfliegenden Ideen. Nimmt man ernst, was sie gestern Abend sagte, stehen demnächst im Koalitionsvertrag mit der CDU Sätze, wonach Deutschland weder Waffen an die Ukraine liefern soll noch amerikanische Mittelstreckenraketen aufstellen darf und ansonsten die Grenzen gegen Einwanderer schließen muss. Wo bleibt Gaza, wo der Weltfrieden?

Der BSW liegt näher zur AfD als zur CDU. Er ist die rechte Partei linker Leute, die sich immer noch für links halten. Salon-Bolschewismus plus Fremdenfeindlichkeit. Im übrigen versteht sich    Sahra Wagenknecht recht gut mit Alice Weidel, die öffentlich wesentlich geschmeidiger auftritt als Björn Höcke, der gestern eine persönliche Transformation von der beleidigten Leberwurst zum Verteidiger der parlamentarischen Demokratie durchlebte. Hat ihm nicht geholfen. Im Grunde ist er eine Belastung für die AfD, weil ihn sein Nimbus als Faschist politisch isoliert.

Die deutsche Demokratie verändert sich gerade. Sie büßt ihren Richtungssinn ein. Das politische System tritt in ein neues Stadium ein, das Italien, Österreich, Frankreich und vor allem die USA schon erreicht haben. Gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft hat es das Liberale, das die deutsche Nachkriegsdemokratie auszeichnet, ziemlich schwer.

Dabei handelt es sich weniger um einen historischen Paradigmenwechsel als um die Überschichtung gravierender Probleme, die nach Lösungen verlangen. Ökologie tritt in den Hintergrund, ohne seine Dringlichkeit zu verlieren. Der Ausbau des Sozialstaats, Stichwort Bürgergeld, ist weit gediehen. Wichtiger erscheint es den Deutschen, den Kontrollverlust wettzumachen, der 2015 eintrat und durch den Vertrauensverlust der amtierenden Ampel verschärft wird.

Politisch gesehen, scheint eine Gründerzeit angebrochen zu sein. Wenn seltsame Gebilde wie das BSW aus dem Boden schießen können, sollten sich bald schon Nachahmer finden. Warum nicht aus der FDP eine rechte Partei wie die FPÖ in Österreich oder die SVP in der Schweiz zimmern? Den Versuch gab es vor langer Zeit, als Jürgen Möllemann (erinnert sich noch jemand an den?) umtriebig war.

Auf die CDU kommt es jetzt an. Wenn es einigermaßen gut läuft wie in Sachsen, liegt sie über 30 Prozent. 30 Prozent sind die neue Schallmauer. In Thüringen wird es noch schwieriger, eine Koalition zu bilden, die Stabilität wenigstens als Illusion verspricht. Hier CDU plus SPD plus BSW – dort CDU, BSW plus Linke: Darauf soll Segen liegen?

Auf Friedrich Merz kommt Kniffliges zu. Die CDU hat ja ein Faible für Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Ein Bannfluch traf zum Beispiel die Linke. Was aber tun in Thüringen? Eine Minderheitsregierung, toleriert von AfD, SPD und Linke? Oder der Not gehorchend, Abrücken vom Beschluss? Und gibt es nicht auch genügend CDU-Mitglieder in Thüringen, die – Brandmauer hin oder – mit der AfD zumindest kooperieren wollen, wenn nicht koalieren?

In Thüringen ist die AfD ohnehin eine Macht, besitzt sie doch eine Sperrminorität. Ohne sie wird kein Verfassungsrichter, kein Präsident des Rechnungshofes gewählt werden. Im Parlament fällt ihr als stärkste Fraktion eigentlich der Anspruch zu, den Präsidenten zu stellen. Wie verhält sich dann die CDU? Verwehren können die anderen Parteien ihr außerdem nicht, mehrere Ausschussvorsitzende zu benennen.

Die Geschäftsordnung in demokratischen Institutionen ist ein feiner Machthebel. Als parlamentarische Kraft lässt sich die AfD zumindest in Thüringen nicht mehr ausgrenzen. Sie dringt ins Innere des Systems vor, das sie auf Rechts drehen möchte.

Für Ostdeutschland ist die AfD in Nachfolge der Linken zur Kümmererpartei aufgestiegen. Ihre Mitglieder und Sympathisanten sind im vorpolitischen Raum verwurzelt, gehören der Freiwilligen Feuerwehr, dem Schützen- oder Kulturverein an. Die AfD-Strategen haben die Devise ausgegeben, in die Handwerkskammer einzutreten und die Chance als Laienrichter zu nutzen. Wenn sich eine Partei derart weitgehend einnisten kann, bleibt sie ihrem Bundesland auch erhalten.

Exemplarische Wahlen haben exemplarische Folgen. Ab heute dreht sich in Berlin alles um den richtigen Umgang mit Flüchtenden. Was sich die Ampel im Geschwindeschritt einfallen ließ, wird sowohl von Innen wie Außen zerredet werden. Dafür sorgt schon Markus Söder, der das individuelle Recht auf Asyl abschaffen will.

Wie immer beim bayerischen Ministerpräsidenten verknüpft er die Sache furios mit seinen Ambitionen. Findet er dabei Gefolgschaft in der CDU, kann er Friedrich Merz die Kanzlerschaft noch streitig machen, die ihm eigentlich nicht mehr zu nehmen ist. Momentan ist Söder daran gelegen, die Entscheidung, die noch vor der Brandenburg-Wahl gefällt werden soll, hinaus zu zögern.

Der Bundeskanzler nennt die beiden ostdeutschen Wahlen „bitter“. Wo er recht hat, hat er recht. Wiederhold sich die Bitterkeit in Brandenburg, wo Olaf Scholz als Wahlkämpfer unerwünscht ist, gibt es mehrere Möglichkeiten: Neuwahlen (nicht einfach) oder Kanzlerwechsel oder weiter so bis zum bitteren Ende.

Dann doch lieber Kanzlerwechsel, oder?

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Erstaunter Blick auf meine Eltern

Bei einem gemütlichen Gespräch in einem beschaulichen Garten kam das Gespräch auf meine Eltern, die ich plötzlich in einem neuen Licht sah. Unsere Gastgeber, ein Schwulen-Ehepaar, hatten zu erkennen gegeben, dass sie uns dankbar waren. Der eine der beiden war Staatssekretär in einem ostdeutschen Bundesland und sein Mann blieb nach einer missglückten Knie-Operation mit ständigen Schmerzen zu Hause. Uns waren sie mehrmals auf offiziellen Anlässen begegnet und wir unterhielten uns mit beiden, was ihnen auffiel. Denn die meisten Menschen konzentrierten sich auf den Staatssekretär und ließen den tätowierten Partner links liegen.

Zur Begründung meines Verhaltens erzählte ich eine Geschichte aus meiner Kindheit. Meine Eltern hatten im Jahr 1960 ein Haus gebaut. Viel Geld hatten sie nicht, sie waren kaufmännische Angestellte. Ein kleines Erbe von der Mutter meines Vaters erleichterte den Baupreis von rund 60 000 Mark. Um sich die Bedienung des Kredits dauerhaft zu erleichtern, bauten sie eine kleine Wohnung im Souterrain ein, die ebenerdig lag und einen eigenen Eingang über den Garten besaß. Die Wohnung bestand aus einem großen Zimmer, einer kleinen Küche auf dem Flur und einer Dusche.

Der erste Mieter war Herr Gleue. Aus irgendeinem Grund kann ich mich an seinen Namen erinnern. Herr Gleue war Chefdramaturg am Städtebundtheater in Hof, ein hoch gewachsener Mann in der zweiten Hälfte der Dreißiger, vermute ich. Herr Gleue kam an jedem Sonntag hoch zu uns zum Mittagessen. Der Besuch bei fränkischen Klößen und Braten nahm rasch Tradition an. Meine Eltern waren auf selbstverständliche Weise freundlich und nett zu Herrn Gleue. Chefdramaturg machte ja auch was her. Meine Eltern hatten ein Abonnement fürs Theater. Sie waren in Maßen kunstsinnig, ohne Bohei daraus zu machen.

Alle paar Wochen bekam Herr Gleue Besuch aus Darmstadt. Herr Gleue war schwul. Sein Freund arbeitete im Hessischen ebenfalls am Theater. Und wenn er da war, luden meine Eltern eben beide zum sonntäglichen Mahl ein.

1960 gab es noch den Paragraphen 175, wonach Homosexualität ein Straftatbestand war. Rechtlich gesehen, leisteten meine Eltern Beistand zu illegalem Verhalten. Menschlich gesehen waren sie erstaunlich liberal, man kann auch sagen, sie waren aufgeklärt. Wenn wir heute aufgeklärt sind, ist das vergleichsweise wohlfeil. Anders als meine Eltern gehen wir keinerlei Risiko damit ein.

Gestern fuhr ich in der Nacht von Nizza zurück nach Sanary-sur-Mer, wo wir Urlaub machen. Dabei ging mir das Gespräch mit den schwulen Freunden durch den Kopf und ich fragte mich, woraus die Liberalität meiner Eltern eigentlich entsprang. Mein Vater war ein Bauernsohn, meine Mutter stammte aus einer verarmten bürgerlichen Familie. Aufgeklärtheit lag biographisch nicht besonders nahe. Ihre entspannte Haltung anderer Lebensform gegenüber war ihre persönliche Leistung. Darin waren sie sich überaus einig.

Als meine Gedanken schweiften – je länger der Tod meiner Eltern zurück liegt, desto näher rücken sie mir – , da fielen mir die Namen einiger Freunde aus dieser Zeit ein, mit denen sie abends in die „Silberspindel“ tranken und tanzten oder im „Strauß“ aßen. Der eine Freund war ein ehemaliger Rennfahrer und Geschäftsmann. Ursprünglich war er Pole und wie er den Krieg und die Nazis überlebt hatte, weiß ich leider nicht. Damals war ich ein Kind, später hätte ich ihn fragen können, habe es aber leider versäumt. Friedo, so hieß er, sah blendend aus und hätte schöne Freundinnen, was ich sehr wohl bemerkt habe.

Das Ehepaar Spitz kam häufig in der Hügelstraße vorbei. Er war Anwalt, ein österreichischer Jude, der in einem KZ-Außenlager Zwangsarbeit verrichten musste, wenn ich mich richtig erinnere. Seine Frau war schön und eher still. Friedo und die Spitzens waren schon länger miteinander befreundet. Wie schade, dass ich nicht mehr von ihnen weiß.

Interessant erscheint mir heute, dass meine Eltern Freunde mit einer ganz anderen Herkunft und Biographie hatten. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass weder meine Mutter noch mein Vater in Verdacht standen, Nazis gewesen zu sein. Nur deshalb vermochten Menschen wie Friedo und die Spitzens meine Eltern zu akzeptieren.

Heute sieht es für mich so aus, als hätten sie Freunde um sich versammelt, die ein fernes Leben lebten und bunter in der Gegenwart unterwegs waren als meine Eltern, die ein solides Leben führten, das ihnen Sicherheit und Auskommen garantierte, aber eben nicht besonders ereignisreich ausfiel. Privat blieben sie neugierig auf Menschen, mit denen sie jenseits der Freundschaft eigentlich wenig verband.

In diesen Kreis gehörten auch Herr Gleue und sein Freund, die beiden Theatermenschen. Herr Gleue bekam nach zwei, drei Jahren ein Engagement an einem fernen Theater und blieb noch lange in Verbindung mit meinen Eltern.

Friedo blieb eine feste Größe bis ins hohe Alter. Ich glaube, Herr Spitz starb relativ früh, seine Frau zog zurück nach Wien.

Offenbar waren sich meine Eltern gewiss, wo sie im Leben und in der Gesellschaft standen und hingehörten. Was mich im Rückblick besonders freut, ist ihre Aufgeschlossenheit, ihre Bereitschaft anzuerkennen, dass andere Menschen anders lebten, andere Erfahrungen machten und daraus andere Schlüsse zogen.