Die Methoden sind ausgereizt

Ziemlich genau vor einem Jahr sagte Markus Söder, die Pandemie sei ein Charaktertest für die Gesellschaft. Stimmt. Ebenso wahr ist aber, dass die Pandemie ein Charaktertest ist für die Riege der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin.

Wie es aussieht, gehen wir in eine Woche, in der Entscheidungen von einiger Tragweite getroffen werden. Die Gesellschaft, also Sie und ich und alle anderen, hat in ihrer Mehrheit die Faxen dicke. Lange genug hat sie Charakter bewiesen, womit Langmut und Geduld und sogar Nachsicht mit gemeint sind. Wenn am Mittwoch zum x-ten Male die Kanzlerin mit den Länderchefs per Video konferiert, dann wissen sie, dass sie sich nicht länger mit Appellen an die Vernunft begnügen können. Was sie uns vorschlagen, wird Konsequenzen haben.

Von den Entscheidungen hängt die Grundstimmung für dieses Jahr ab. Mitte März wählen Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Hier ist Malu Dreyer beliebt, dort Winfried Kretschmann. Beide sind wohltemperierte Gemüter, die ihren Eigensinn in der Pandemie gebändigt haben und auf Wiederwahl hoffen dürfen. Schlechte Laune färbt ab, gute Laune auch. Ich wette, dass die Mittwochsrunde viel Zeit aufs Abwägen verschwendet, welche politischen Auswirkungen ihre Beschlüsse haben könnten. 

Uns allen steht eine Pandemie-Bundestagswahl am 26. September bevor. Einen neuen Kanzler bekommen wir, wohl auch eine neue Koalition, aber ihr Spielraum hängt vom Geschick der alten Regierung ab, auf die neue Lage schlau zu reagieren, so dass sie die kleine Wiedergeburt der Parteien der Mitte nicht abwürgt.

Mit einigem Recht lässt sich behaupten, dass die Gesellschaft den Charaktertest ganz gut bestanden hat. Wir haben immer wieder Verständnis für Einschränkungen und noch mehr Einschränkungen aufgebracht. Aber das Land ist erschöpft, wie der „Spiegel“ in seiner Titelgeschichte richtig schreibt. Geduld ist ein endliches Gut. Geduld lässt sich nicht im Zwei-Wochen-Rhythmus strapazieren. Das ist der Stand der Dinge.

Wie es sich fügt, liegen die Bestandteile für eine Doppelstrategie bereit: Ja, die Mutanten treiben die Zahl der Infizierten wieder höher und noch immer sterben beklagenswert viele Menschen am Virus. Aber nun liegt genügend Impfstoff bereit. In Kürze erhält das Produkt von Johnson & Johnson die europäische Zulassung und AstraZeneca ist, wie sich zeigt, besser als sein Ruf. Zudem gibt es eine App mit dem schönen Namen Luca, die mehr kann als die Corona-App, so dass unsere Kontakte schlagartig nachverfolgt werden können, wenn uns das Virus erwischen sollte. Zudem stehen bald Schnelltests bereit, kostenlos sogar, wie es heißt.

Ja, wir müssen vorsichtig bleiben, ist ja gut, sind wir. Aber niedergelassene Ärzte sollten ins Impfen einbezogen werden. Dann geht eben, wer will, zu ihnen. Daraus entsteht vielleicht ein Durcheinander, wenn der Staat nicht mehr Mails oder Briefe verschickt, aber dann ist das eben so. Bis dahin sollten doch wohl die systemrelevanten Berufe nach Plan dran gekommen sein. Und wer geimpft ist, sollte wieder weitgehend tun dürfen, was er tun will. Die bloße Aussicht auf größere Freiheit kann die Impferei sogar beschleunigen.

Die Regierungen in Bund und Land haben uns einigermaßen gut durch die Pandemie gelotst. Ihre Methoden sind jedoch ausgereizt. Nun steht die zweite Phase des Charaktertests bevor. Bringt die Runde am Mittwoch eine durchdachte Doppelstrategie zustande, wird das müde Land aufgemuntert. Kriegt sie diese Kurve nicht überzeugend hin, wird aus der Müdigkeit Missmut. Mindestens.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Ein bisschen Zuversicht, bitte

Wie so viele Menschen waren wir gestern im Sonnenschein beschwingt spazieren. Zufällig kamen wir an einem alten Fabrikgelände vorbei und trafen auf ein paar Bundeswehrsoldaten, die eine Zigarettenpause einlegten. Wir fragten sie, was denn hier los sei, und einer antwortete: „Na, das hier ist ein Impfzentrum. Wenn Sie um die Ecke gehen, sehen Sie die Leute Schlange stehen.“ Wir dankten, gingen um die Ecke und da standen reihenweise Taxen, die ältere Herrschaften zum Impfen brachten, auf sie warteten und sie dann wieder nach Hause fuhren, durch den makellosen Sonnenschein und die würzige Frühlingsluft.

Wir staunten nicht schlecht. Berlin! Sonntag! Impfen! Die Spätis wollen sie schließen, aber die Impfzentren immerhin öffnen sie sogar am Sonntag. Gut so! Schlagartig besserte sich unsere Laune, denn gerade noch hatten wir die wieder steigenden Infektionszahlen beklagt und uns über die Phantasielosigkeit der Kassandras geärgert, die uns andauernd mit schlechten Nachrichten belämmern.

Da ändert sich etwas. Von jetzt an werden sich Optimismus und Pessimismus abwechseln. Den Optimismus bestärken die zunehmenden Lieferungen an Impfstoff. Den Pessimismus bestärken Mutationen der Pandemie, die sich in Deutschland systematisch verbreiten.

Fangen wir mit den guten Nachrichten an. Uns wird jetzt gesagt, dass Deutschland sich darauf vorbereiten muss, in seinen Impfzentren große Mengen an Impfstoff zu spritzen. Ein Luxusproblem, wie schön! Hatten wir lange nicht. Brauchen wir dringend. Damit sollten wir doch wohl fertig werden, oder?

Das Luxusproblem wird Folgen haben. Die bisherigen Impfpläne, in denen die Probanden fein säuberlich nach Alter und Systemrelevanz eingeteilt waren, sollen bald schon hinfällig sein, hören wir auch. Die Hamburger Gesundheitssenatorin, sie heißt Melanie Leonhard und gehört der SPD an, hat den schönen Satz geprägt: „Es wird in den nächsten Wochen immer schwieriger werden, an den Aufteilungen in den Prioritätengruppen festzuhalten.“

Ja, so was, die Bürokratie muss umdenken, soll sie mal. Es gibt Schlimmeres. Schon vergessen? Vor kurzem mussten wir noch zur Kenntnis nehmen, dass die Produktion von Biontech oder Moderna geringer als erwartet ausfällt. Der Vorstandsvorsitzende von AstraZeneca machte sich unbeliebt mit seiner schnöden Art der Mitteilung, dass sein Konzern leider nur weniger als die Hälfte der versprochenen 80 Millionen Dosen ausliefern kann.

Und jetzt also müssen wir wieder leiden und zwar daran, dass wir schneller als erwartet mehr vom gewünschten Impfstoff bekommen, so dass die Bürokratie umdenken muss. Die Prioritäten ändern sich, ach ja. Das Leben ist ungerecht, die Pandemie sowieso und ein paar alte Pläne müssen schleunigst neu geschrieben werden. Geht’s noch? Gestern bekamen wir zu wenig, heute bekommen wir zu viel Impfstoff. Ist doch gut! Umgekehrt wäre es schlimmer: Wenn das zu wenig sich weit in den März hinein ziehen würde.

Die Herausforderung, so ringt unsere Hamburger Gesundheitssenatorin ihre Hände, besteht jetzt darin, schnell genug willige Impflinge zu finden und deren Berechtigung zu prüfen. Oh je: Die Anarchie zieht herauf und bringt die herrschenden Verhältnisse durcheinander, das scheint Melanie Leonhard zu befürchten. Jetzt mal ernsthaft. Wenn wirklich so viel Impfstoff zur Verfügung stehen sollte, dürfte es ziemlich leicht eine Alternative geben. Da sind ja auch noch die rund 100 000 Arztpraxen, welche die Impfzentren entlasten könnten.

Die Kanzlerin hat mal gesagt, bis kurz vor der Wahl am 26. September sollte geimpft sein, wer geimpft werden will, so dass Deutschland die Herdenimmunität erreicht. Vielleicht geht es schneller. Wäre schön. Ich kenne niemanden, der nicht nach guten Nachrichten dürstet, nach Zuversicht. Alle haben schlechte Nachrichten satt. Die Geduld lässt nach, schon wahr. Gut möglich, dass uns die guten Nachrichten bald schon die schlechten leichter ertragen lassen.

Natürlich ist die Lage ambivalent. Die britische Mutations-Variante wird sich wohl rasant vermehren. Auch in den nächsten Wochen werden wir die täglichen Bulletins über Infektionen und Tote studieren wie die Bundesligatabelle. Und daneben steht dann die Tabelle mit den Zahlen, wie viele Menschen geimpft wurden.

Heute öffnen in den meisten Bundesländern wieder Schulen mit ausgewählten Klassen. Das ist schön für die Kinder und riskant zugleich. Deshalb sollten die neuen Impf-Pläne schnellstens mit Lehrerinnen und Lehrern anfangen. Bis dahin sollte getestet werden, was das Zeug hält.

In zwei Wochen werden Ministerpräsidenten und Kanzlerin wieder zusammen kommen und an Beschlüsse feilen. Sie sollten wissen, dass unsere Geduld von der Perspektive abhängt, die sie uns geben. Schlechte Nachrichten haben wir im Übermaß. Jetzt sind gute Nachrichten dran.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Sie werden Biden testen

Normalerweise findet im Februar in München die Sicherheitskonferenz mit Staats- und Regierungschefs, Ministern und Sicherheitsexperten aus aller Welt statt. Doch die Pandemie erlaubt den großen Auftritt nicht. Als Alternative zum Großereignis dient diesmal eine Videokonferenz, zu der sich Joe Biden zuschalten lässt. Er ist der erste amtierende Präsident, der dieser traditionsreichen Konferenz seine Aufwartung macht. Wolfgang Ischinger ist Gastgeber der Sicherheitskonferenz.

t-online: Herr Ischinger, anstatt der großen Sicherheitskonferenz findet heute eine kleine, aber feine virtuelle Konferenz statt, an der sogar erstmals ein amerikanischer Präsident teilnimmt. Wie haben Sie Joe Biden dazu überredet?

Ischinger: In der Diplomatie ist eines wichtig: Vertrauen. Joe Biden kennt die Münchner Sicherheitskonferenz bestens. Im Jahr 1980 war er zum ersten Mal dabei, zuletzt kam er  2019. Die Dialog-Plattform schätzt er, wie ich finde: zurecht, und er vertraut meinem Team und mir.

Wie läuft das ab – der Präsident hält eine Rede und danach stellen Sie ihm Fragen?

Wir werden eine Mischung aus Reden, Diskussionen und Frage-Antwort-Segmenten erleben. Präsident Biden hat sich für eine viertelstündige Rede entschieden.

Also auch keine Diskussion mit der Kanzlerin oder Emmanuel Macron? 

Nach der aktuellen Planung treten Biden, Merkel und Macron direkt nacheinander, aber getrennt auf.

Im letzten Moment hat sich auch noch Boris Johnson dazu entschlossen, bei der Videokonferenz mitzumachen. Erstaunlich, da sich die Briten in den letzten Jahren in München doch eher rar machten.

Ich freue mich darüber, dass wir in letzter Minute den Premierminister auch noch für unsere Konferenz gewinnen konnten. Er hat ja recht, wenn er denkt, dass er da nicht fehlen sollte!

Diese Sicherheitskonferenz komplettieren Ursula von der Leyen und Uno-Generalsekretär Ańtonio Guterres. Konnten Sie die Teilnehmer bestimmen?

Ja, das konnte ich. Aber natürlich steht und fällt dieses Projekt mit dem amerikanischen Präsidenten. Er ist ja grade mal seit einem Monat im Amt. Bei den anderen Rednern war klar, dass ich neben der Kanzlerin vor allem die Vereinen Nationen, die Europäische Union und die Nato zu Wort kommen lassen wollte. Wunderbar, dass wir Emmanuel Macron und Boris Johnson überzeugen konnten, zwei zentral wichtige außenpolitische Partner in diesen Institutionen, erst recht jetzt nach nach dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU!

Der Westen bleibt unter sich, das fällt auf. Es fehlen Vertreter aus China oder Russland, aus Nahost oder Afrika. Natürlich ist eine virtuelle Konferenz limitiert, aber warum ist der Kreis der Beteiligten westlich eng gefasst?

Ursprünglich hatten wir zwei Stunden für die Konferenz vorgesehen. In dieser Zeitspann lassen sich nicht sämtliche aktuellen Krisen behandeln wie bei der fast dreitägigen Sicherheitskonferenz unter normalen Umständen. Deshalb mussten wir ein oder zwei Themen auswählen – und dass jetzt sich jetzt durch Joe Biden große und neue transatlantische Chancen bieten, dürfte jedem klar sein. Das hat die Priorität Nummer Eins. Sobald wir wieder eine normale Konferenz organisieren können, werden China, Russland und viele andere Länder wie üblich zu Wort kommen. Das habe ich ausdrücklich auch dem russischen Botschafter versichert. 

Für Sie ist es ein Coup, dass Joe Biden seine erste Rede auf der Sicherheitskonferenz hält und nicht in London oder Paris oder vor der Uno. Welche Botschaft wird er senden?

Ich bin ziemlich sicher, dass er sagen wird, dass die Kraft Amerikas auch auf seinen Partnerschaften und Allianzen aufbaut und vor allem auf gegenseitigem Vertrauen. Da gibt ja etliches zu reparieren nach den letzten vier Jahren.

In dieser ersten Phase geht es um Beruhigung der Gemüter und Bekräftigung der Bündnisse und Abkommen. Aber ist es nicht eine Illusion zu glauben, dass nun Harmonie ausbricht? Dass die Nato- Mitgliedsstaaten zum Beispiel das Versprechen erfüllen sollten, zwei Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes einzuzahlen, dürfte auch Biden erwarten.

Keine Frage, die Friktionspunkte – beispielsweise Nord Stream 2, Lastenteilung im Bündnis, Exportzölle –  werden nicht weggezaubert. Aber nun kann man vertrauensvoll versuchen, Kompromisse auszuloten. Jedenfalls dürfen wir jetzt nicht die Hände in den Schoß legen und davon ausgehen, dass Joe Biden es schon richten wird. Die EU und auch Deutschland sollten mit eigenen konstruktiven Ideen auf Amerika zugehen. 

Das größte Problem zwischen Deutschland und Amerika ist Nord Stream 2, die Gasleitung von Wyborg nach Lubmin über 1200 Kilometer. Sie ist fast fertig, aber die Vollendung hat der US-Kongress, sogar überparteilich, mit Sanktionen für die beteiligten Firmen belegt und auch die baltischen Länder wie auch Polen sind entschieden gegen das Projekt. Biden ist vielleicht kulanter im Ton als sein Vorgänger, aber doch wohl kaum nachgiebig in der Sache.

Auf beiden Seiten gibt es Signale für Verhandlungen. Reden ist allemal besser als die besten Partner mit Sanktionen zu überziehen.

Die Bundesregierung stellt sich auf den Standpunkt, es handle sich um ein wirtschaftliches Projekt. Das überzeugt niemanden.

In der Tat ist es so, dass überall die geostrategische Bedeutung solcher energiepolitischer Projekte erkannt wird, bloß bei uns wischt man das gerne vom Tisch. Energieaußenpolitik muss integraler Bestandteil einer kohärenten EU-Außenpolitik werden! 

Der Umgang mit Alexey Nawalny ist zum Symbol für Putins Unrechtsregime geworden, vergleichbar für den Umgang früher mit Alexander Solschenizyn. Macron und Merkel haben dagegen Protest eingelegt. Wie lässt sich politisch darauf reagieren?

Russland igelt sich zur Zeit ein, was sich auch beim Besuch von Josep Borrell, dem EU-Außenbeauftragten, im Kreml zeigte, als zeitgleich drei westliche Diplomaten ohne jede Vorwarnung ausgewiesen wurden. Hier hilft nur langfristiges Denken und geduldiges Beharren. Steter Tropfen höhlt den Stein. Holzhammermethoden würden im Kreml vermutlich nur zu weiterer Verhärtung führen, woran wir kein Interesse haben sollten. 

Was würden Sie der Bundesregierung bei Nord Stream 2 raten – zu Ende bauen, aber nicht anschalten?

Vom Erzwingen eines Baustops durch Sanktionsandrohung und von einer Milliarden-Bauruine in der Ostsee halte ich nichts. Aber die Bundesregierung könnte den Schwarzen Peter nach Russland zurückspielen. Etwa, indem sie dem Kreml streng vertraulich mitteilt, dass der außenpolitische und innenpolitische Druck auf sie so stark gewachsen ist, dass sie sich nicht imstande sieht, die Gasleitung in Betrieb zu nehmen, solange die Atmosphäre sich nicht entkrampft, und das liege doch ganz in russischen Händen. Zum Beispiel könnte Putin Nawalny nicht erst 2023 oder sogar noch später freilassen, sondern schon im nächsten Jahr. Oder Moskau könnte proaktiv dabei helfen, den Mord im Tiergarten aufklären. Oder Moskau könnte russische Soldaten aus dem Donbass abziehen.

Welchen Kurs gegenüber Russland wird Präsident Biden einschlagen? 

Er wird mit Wladimir Putin Klartext reden, aber nicht nur Konfrontation suchen. Im Gegenteil haben beide ja schon konstruktive Schritte unternommen, als sie kürzlich das New-Start-Abkommen verlängerten, den letzten großen Abrüstungsvertrag über strategische Nuklearwaffen. Da gibt es noch viele andere Möglichkeiten–- man denke nur an das Atomabkommen mit Iran. 

Barack Obama sagte mal wenig diplomatisch über Russland, das sei nur noch eine Regionalmacht. Sieht Biden die Dinge ähnlich?

Es war nicht hilfreich, das öffentlich so zu formulieren. 

Amerika war seit dem 6. Januar mit sich selber beschäftigt, was sich mit dem Impeachment fortsetzte. Wie wirken diese Ereignisse wohl auf Wladimir Putin und Xi Jinping?

Man wird versuchen, den neuen Präsidenten Biden zu testen. Hat er Amerika hinter sich? Tritt er als Weltmacht auf? Daraus könnten gefährliche Missverständnisse entstehen. 

In einer zweiten Phase dürfte Joe Biden daran gehen, Amerika auf der Weltbühne zu rehabilitieren. Genügen dazu Verlässlichkeit und Berechenbarkeit als Goodwill-Maximen?

Amerika muss unter Beweis stellen, dass es trotz innenpolitischer Polarisierung die Energie und Entschlossenheit aufbringt, die eine Weltmacht ausmachen. 

Gehört dazu Entspannung im Handelskrieg mit China?

Dazu gehört eine realpolitische Abwägung und Ausbalancierung der eigenen Interessen, auch der kommerziellen. Einen Handelskrieg allein aus dem Grund zu führen, um Stärke zu zeigen und dafür auf Konfrontation zu gehen, bringt auf Dauer nichts.

Gehört dazu, den Abzug der Soldaten aus Afghanistan zu verzögern? Die Taliban drohen in diesem Fall damit, die Anschläge auf die US- Truppen wieder aufzunehmen.

Ja, denn der Abzug aller US-Truppen würde 20 Jahre zunichte machen. Biden wird einen Mittelweg anstreben.

Gehört dazu der Versuch, das Atomabkommen mit Iran wieder zu beleben?

Ja, wobei dieses Problem ebenso komplex wie wichtig ist. Ich hoffe, dass Joe Biden in seiner Rede heute auf der Sicherheitskonferenz dazu etwas sagt. Wir brauchen eine rationale Verhandlungsatmosphäre mit Iran. 

Die kleine, feine Sicherheitskonferenz wird heute etwas mehr als drei Stunden dauern. Gibt es in diesem Jahr dann noch eine regelrechte Konferenz in München, falls die Pandemie abgeklungen ist?

Unbedingt wollen wir das. Die virtuelle Konferenz ist jetzt der erste Schritt auf dem Weg zu einer normalen Konferenz in München. 

Herr Ischinger, vielen Dank für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, vorgestern.

Nur noch ein Papiertiger?

Amerika hat das zweite gescheiterte Impeachment gegen Donald Trump hinter sich und ist mehr denn je klaftertief gespalten, schlimm genug. Nebenbei ist Amerika aber auch immer noch eine unverzichtbare Supermacht, und deshalb sollten wir uns jetzt mal eine entscheidende Frage stellen: Was bedeutet der 6. Januar für den Einfluss der USA auf die Weltereignisse?

1.) Joe Biden will Vertrauen zurückgewinnen und damit die Vorherrschaft in sämtlichen Bündnissen die Westens stabilisieren. Nato und Europäische Union, die Uno wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds oder die WHO atmeten nach seiner Wahl auf und freuten sich auf einen Neustart. Aber nur das halbe Amerika folgt dem neuen Präsidenten auf diesen Spuren. So fragil, so unberechenbar wie dieses Land nun einmal ist, kann in vier Jahren ein republikanischer Präsident den umgelegten Schalter wieder umlegen. Und dann?

Vertrauen verlangt Dauer. Vertrauen braucht Zuverlässigkeit. Beides lässt sich von Amerika nur bedingt erhoffen. 

2.) Dass die Projektion der Macht, die Amerika durchaus selbstherrlich einsetzte, an Kraft verloren hat, ist seit dem Irak-Krieg nicht mehr zu übersehen. Der Bürgerkrieg in Syrien und der damit verbundene Krieg um Hegemonie in der Region ziehen sich quälend dahin, ohne dass die Supermacht Amerika Einfluss darauf nehmen könnte. Das neue Bündnis, das Israel mit den Golfstaaten eingegangen ist, verdankt sich paradoxerweise Donald Trump und schon einmal deswegen berichtigt Biden den veränderten Status quo, indem er auf Distanz zu Saudi-Arabien geht, so lange der Krieg im Jemen anhält. Aber ist das wirklich klug? Saudi-Arabien ist ja eigentlich der wichtigste Verbündete im Konflikt mit Iran.

Im Nahen Osten ist Amerika keine Ordnungsmacht mehr. Gut möglich, dass Irans Neigung, an das Atomabkommen, das Trump einseitig kündigte, wieder anzuknüpfen, nicht besonders groß ist. Und das wäre ein schwerer Schlag für Biden.

3.) Amerika verstand sich immer als Leuchtturm der Freiheit, als Fackel der Demokratie, von der Geschichte dazu berufen, sein Modell hinaus in die Welt zu tragen. Diese Selbstermächtigung hatte von Anfang an messianische Züge und wirkte spätestens seit Vietnam als groteske Anmaßung. Am 6. Januar 2021 aber zerplatzte das Selbstideal in tausend Stücke. Dafür sorgte die Trump-Soldateska, die in aller Ruhe ins Kapitol eindrang, Jagd auf Abgeordnete machten und geruhsam die Büros zerlegte, als ihr weder Mike Pence noch Nancy Pelosi in die Hände fielen. Und das Land der vielen Geheimdienste, des hochmächtigen Militärs, der Nationalgarde, der vielen Sondereinheiten und der vielen Polizeitruppen ließ sie stundenlang gewähren. Lächerlicher kann sich eine Demokratie, die so groß von sich denkt wie Amerika, gar nicht machen. Und zur Krönung vermag sie es nicht einmal, den Mann zur Rechenschaft zu ziehen, für den der Mob zu Felde zog.

Demut wäre angemessen, schon wahr. Aber Weltmacht und Demut gehen nicht zusammen, sie sind ein innerer Widerspruch. Und die Welt braucht eigentlich eine selbstbewusste, unmessianische Weltmacht Amerika.

4.) Wie schaut wohl zum Beispiel die chinesische Führung auf das amerikanische Drama? Nur als Schwäche kann sie den Sturm auf das Kapitol verstehen, als die Unfähigkeit der Demokratie, mit ihren Feinden fertig zu werden. Was für Amerika der 6. Januar 2021 ist, das war für China der 4. Juni 1989. Auf dem Tiananmen-Platz versammelten sich (aus KP-Sicht) zahlreiche Staatsfeinde, die nach Demokratie verlangten, ein beispielloser Vorgang. Es dauerte ein paar Tage lang und dann rollten die Panzer. Nach einer kurzen Zeit der Schwäche eine Demonstration brutaler Stärke mit jahrzehntelangem Nachhall.

Die chinesische Führung hat einen langen Atem und kein Problem, Gewalt anzuwenden, innen wie außen. In ihrem Anspruch, Amerika auf der Weltbühne abzulösen, wird sie sich weniger denn je irritieren lassen. Amerika ist nur noch ein Papiertiger, so dürften sie in Peking die Ereignisse deuten und Konsequenzen daraus ziehen.

5.) Europa ist einerseits erleichtert darüber, dass ein vernünftiger, verständnisvoller Mann wie Joe Biden im Weißen Haus sitzt, eine bekannte Größe. Andererseits ist Selbstberuhigung und Passivität unangebracht. Amerika bleibt verletzlich, beschäftigt mit sich selber, das ist unvermeidlich. Amerika braucht aber auch Unterstützung für politische und ökonomische  Konflikte mit China, die sich in nächster Zeit häufen dürften. Deshalb hat Europa noch mehr Gründe, eine stabile Rolle draußen in der Welt anzustreben – zum Selbstschutz und als solider Bündnispartner Amerikas. Emmanuel Macron schwebt ein souveränes, einiges Europa vor. Daran jetzt zu arbeiten, drängt sich geradezu auf.

Was aus Amerika wird, ob es sich selbst lähmt oder neu erfindet, geht uns alle an. An Amerika hängt aber nicht mehr so viel wie gerade eben noch. Wäre doch nur konsequent, wenn Europa selbständiger und wichtiger würde.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Der Mob, den er rief

Ab heute entfaltet sich das größtmögliche Drama, das in Washington denkbar ist. Donald Trump steht unter Anklage wegen Anstiftung zum Aufruhr. Wird er verurteilt, darf er nie wieder für ein öffentliches Amt kandidieren, was natürlich eine ungeheure Genugtuung für alle Trump-Verächter wäre und die Maximalstrafe für den König der Selbstbeweihräucherung.

Die Anwälte Trumps haben schriftlich Stellung zu den Vorwürfen genommen. Dabei gehen sie auf den Sturm aufs Kapitol nicht ein. Sie argumentieren, dass ihr Mandant ja nun nicht mehr ist, was er war und gerne geblieben wäre. Seit dem 20. Januar ist er Privatier und kann deshalb keinem Impeachment mehr unterworfen werden, das allein zur Eliminierung von Amtsträgern angestrengt werden kann. Das ist die Logik der Verteidigung.

Natürlich gibt es ein paar Präzedenzfälle. William Belknap war ein Kriegsminister (so hießen die Außenminister in den USA damals), der Bestechungsgelder entgegengenommen hatte. Im Jahr 1876 trat er gerade noch rechtzeitig zurück, bevor er durch ein Impeachment dazu gezwungen werden konnte. Trotzdem ging das Verfahren weiter, fand aber nicht die erforderliche Mehrheit – nicht etwa deshalb, weil die Verfehlungen nicht so schlimm gewesen wären, sondern weil Belknap nicht mehr im Amt war.

Im Jahr 1926 stand ein Richter namens George English wegen Bestechlichkeit unter Anklage. Er trat zurück und deshalb verzichtete der Senat auf Fortsetzung des Impeachments.

Donald Trumps Fall ist komplizierter als diese beiden historischen Fälle. Er trat nicht zurück, um das Impeachment zu vermeiden. Es geht auch nicht um Korruption, sondern um Aufstachelung zum Aufruhr. Der Sturm aufs Kapitol ereignete sich am 6. Januar, als Trump zweifellos noch Präsident war. Die Rede, die er an seine Anhänger richtete, hatte (neutral formuliert) animierende Wirkung. Danach folgten der Einbruch ins Kapitol, die Jagd auf Abgeordnete, die Morddrohungen (Hängt Pence!), die Verwüstung des Kapitols und der Tod von fünf Menschen. Donald Trump lobte, was seine Anhänger anrichteten: We love you! You are very special.

Soll dieses unfassbare Verhalten ungesühnt bleiben? Kommt Trump ungeschoren davon? Müssen nur die glühenden Anhänger büßen, nicht aber der Präsident, für den sie das Kapitol stürmten?

Nein, das kann nicht sein, das darf nicht sein. So argumentieren die Demokraten, was man ja gut verstehen kann. Der Sturm aufs Kapitol ist ein  Ereignis von historischem Ausmaß, über das verhandelt werden muss, wie es vorgesehen ist: als Impeachment im Senat. Und wenn sich nicht genügend Republikaner dazu aufraffen, den politisch verantwortlichen Präsidenten für die Aufstachelung zum Aufruhr zu verurteilen, müssen sie mit dieser Schande leben. Das ist die Logik der Demokraten.

Dennoch bleibt der seltsame Umstand, dass ein Präsident, der nicht mehr Präsident ist, amtsenthoben werden soll. In den beiden historischen Fällen spielte die Tatsache, dass der Delinquent schon zurückgetreten war, die entscheidende Rolle für den Verzicht auf Verurteilung. Genau so war es am 9. August 1974, als Richard Nixon aufgab, um der Amtsenthebung zu entkommen. Kurz darauf, am 8. September 1974, begnadigte ihn sein Nachfolger Gerald Ford. Das war vermutlich ein abgekartetes Spiel: Du gehst freiwillig, ich sorge dafür, dass du nicht ins Gefängnis musst.

Der Fall Trump ist singulär. Er trat nicht zurück, geschweige denn, dass er auf Amnestie bauen könnte. Seine Amtszeit lief einfach aus. Nun hat sie ein Nachspiel, das in die Geschichte eingehen wird.

Das Drama wird Amerika und uns in den Bann schlagen. Recht steht idealtypisch gegen Gerechtigkeit. Das eine Amerika, das Trump bewundert, steht gegen das andere Amerika, das Trump hasst. Prinzip steht gegen Prinzip. Aber am Ende ist es nur ein schlichtes Zahlenspiel, das darüber entscheidet, wie das Impeachment ausgeht.

67 heißt die goldene Zahl. 67 ist die erforderliche Zweidrittel-Mehrheit im Senat. Nur wenn 67 Stimmen zusammenkommen, wird Donald Trump verurteilt. Der Senat aber ist genauso gespalten wie das Land: 50 Republikaner hier, 50 Demokraten dort. Also müssen sich 17 Republikaner den Demokraten anschließen, damit das Impeachment gelingt. Ist das wahrscheinlich?

Ist es nicht. Vielleicht eine Handvoll Republikaner wird mit den Demokraten  stimmen, nicht mehr, so sieht’s aus. Die anderen werden sagen, was die Trump-Verteidiger sagen: Ein Präsident, der nicht mehr Präsident ist, kann nicht amtsenthoben werden. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute

Kloppo und Pep und TT

Am Sonntag habe ich mir Guardiola gegen Klopp angeschaut: zwei Trainer, zwei Philosophien, zwei britische Klubs mit großer Geschichte und problemfreiem Geldfluss. Klopp hat das Heimspiel 1:4 vernichtend verloren und dafür findet sich eine Menge an vordergründigen Ursachen: Dem vorzüglichen Torwart Allison unterliefen zwei groteske Fehler, die in zwei Toren mündeten. Drei entscheidende Innenverteidiger Gomez/Matip/van Dijk sind verletzt. Zwei Mittelfeldspieler musste Klopp deshalb zurückziehen, womit das innere Gefüge der Mannschaft zerstört worden ist. Die Ausnahmestürmer Mo Salah und Radio Mané sind es nicht gewöhnt, Verteidigungsanstrengungen auf sich zu nehmen. Der Neuzugang Thiago, ein pomadiger Mittelfeldhinundherspieler, bleibt wie üblich vieles schuldig, weshalb ihn in München auch niemand vermisst. Für das heimstarke Liverpool werden Heimniederlagen zur Gewohnheit, gegen Burnley wie gegen Man City.

Die tiefere Ursache für das erstaunliche Schwächeln liegt in Klopp selber. Er hat eine einzige Idee von Fußball und die heißt Überfallspiel durch Dauerpressing. Fünf Jahre lang ging das gut und festigte den Ruf des Trainers. Er ist der Typ Großmotivator. So gewann Liverpool zuerst die Champions League und im Jahr darauf die heiß ersehnte Meisterschaft. So wurde Kloppo zum Großereignis in Großbritannien. Ihm gelang, was ihm mit Dortmund nicht gelang. Und nun passiert ihm, was ihm mit Dortmund passierte.

Die eine Spielphilosophie, die er hat, verschleißt eine Mannschaft. Im Grunde bräuchte sie zwei 24 vollwertige, gleich gute Spieler, um der Misere vorzugreifen, die nie ausbleibt: diese Mischung aus Pech durch Verletzungen und Formschwankungen der Entscheidungsspieler.

Das Können eines Trainers zeigt sich in der Reaktion auf die Misere, die immer eintritt, selbst wenn Verletzungen ausbleiben. Der BVB verbrachte ein Ende der Hinrunde nach jahrelangem Hochleistungsspiel am Tabellenende, auf dem 18. Platz. Kein Zufall, die Mannschaft war entkräftet, ausgelaugt, so wie Liverpool jetzt entkräftet und ausgelaugt ist. Und der Trainer macht weiter wie bisher, weil ihm keine Alternative einfällt und er auch keine Alternativspieler besitzt, weil er die unvermeidliche Misere nicht kommen sah, obwohl er sie hätte kommen sehen müssen, weil ihm die Erfahrung sagen sollte: Erst geht es hoch, dann herunter, und was dann?

Manchester City hat auch seine Probleme. Kevin de Bruyne, der Taktgeber, ist langzeitverletzt. Sergio Agüero, die Tormaschine, ist verletzt. Pep Guardiola lässt kräftesparend spielen und variabel dazu. Plötzlich rückt Ilkay Gündogan weiter vor und schießt Tore, anstatt sie nur vorzubereiten. Die Ausfälle werden durch strategische Veränderungen ausgeglichen, weil der Trainer seine Philosophie seinen Möglichkeiten anpasst. Der Unterschied zwischen Guardiola und Klopp ist die Variabilität der Spielideen.

Im Hintergrund gibt es da noch Thomas Tuchel, der Chelsea aus dem Niemandsland des Mittelfelds in die Ränge bringen soll, die für die Champions League qualifizieren. Er findet gute Spieler vor, die aber keine Mannschaft bilden. Daraus ein geschmeidiges Gefüge erwachsen zu lassen, ist das Schwierigste überhaupt. Bayern München hat es hinter sich, seit ein eigentlich unscheinbarer Trainer wie Hansi Flick übernahm. Borussia Dortmund treibt seit Jahren unstet vor sich hin. Der letzte Titel liegt lange zurück, übrigens geholt unter Thomas Tuchel, der aus einer geschwächten Mannschaft (ohne Hummels/Gündogan/Michitarjan) ein stabile, in sich stimmige Mannschaft formte. Dass er mit den entscheidenden Figuren im Verein, Zorc und Watzke, nicht zurecht kam, schadet dem BVB seither und hat TT gelehrt, unvermeidliche Schwierigkeiten mit Diven im Verein besser abzufedern. Paris war nach Dortmund bestimmt eine gute Schule für Chelsea.

Die Wahrheit liegt jetzt erst mal in der Champions League für alle drei Mannschaften. Liverpool bekommt es mit RB Leipzig zu tun, Man City mit Borussia Mönchengladbach, Chelsea mit Atlético Madrid. Wieder was zum Anschauen. Wieder Anschauungsunterricht.