Die Methoden sind ausgereizt

Ziemlich genau vor einem Jahr sagte Markus Söder, die Pandemie sei ein Charaktertest für die Gesellschaft. Stimmt. Ebenso wahr ist aber, dass die Pandemie ein Charaktertest ist für die Riege der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin.

Wie es aussieht, gehen wir in eine Woche, in der Entscheidungen von einiger Tragweite getroffen werden. Die Gesellschaft, also Sie und ich und alle anderen, hat in ihrer Mehrheit die Faxen dicke. Lange genug hat sie Charakter bewiesen, womit Langmut und Geduld und sogar Nachsicht mit gemeint sind. Wenn am Mittwoch zum x-ten Male die Kanzlerin mit den Länderchefs per Video konferiert, dann wissen sie, dass sie sich nicht länger mit Appellen an die Vernunft begnügen können. Was sie uns vorschlagen, wird Konsequenzen haben.

Von den Entscheidungen hängt die Grundstimmung für dieses Jahr ab. Mitte März wählen Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Hier ist Malu Dreyer beliebt, dort Winfried Kretschmann. Beide sind wohltemperierte Gemüter, die ihren Eigensinn in der Pandemie gebändigt haben und auf Wiederwahl hoffen dürfen. Schlechte Laune färbt ab, gute Laune auch. Ich wette, dass die Mittwochsrunde viel Zeit aufs Abwägen verschwendet, welche politischen Auswirkungen ihre Beschlüsse haben könnten. 

Uns allen steht eine Pandemie-Bundestagswahl am 26. September bevor. Einen neuen Kanzler bekommen wir, wohl auch eine neue Koalition, aber ihr Spielraum hängt vom Geschick der alten Regierung ab, auf die neue Lage schlau zu reagieren, so dass sie die kleine Wiedergeburt der Parteien der Mitte nicht abwürgt.

Mit einigem Recht lässt sich behaupten, dass die Gesellschaft den Charaktertest ganz gut bestanden hat. Wir haben immer wieder Verständnis für Einschränkungen und noch mehr Einschränkungen aufgebracht. Aber das Land ist erschöpft, wie der „Spiegel“ in seiner Titelgeschichte richtig schreibt. Geduld ist ein endliches Gut. Geduld lässt sich nicht im Zwei-Wochen-Rhythmus strapazieren. Das ist der Stand der Dinge.

Wie es sich fügt, liegen die Bestandteile für eine Doppelstrategie bereit: Ja, die Mutanten treiben die Zahl der Infizierten wieder höher und noch immer sterben beklagenswert viele Menschen am Virus. Aber nun liegt genügend Impfstoff bereit. In Kürze erhält das Produkt von Johnson & Johnson die europäische Zulassung und AstraZeneca ist, wie sich zeigt, besser als sein Ruf. Zudem gibt es eine App mit dem schönen Namen Luca, die mehr kann als die Corona-App, so dass unsere Kontakte schlagartig nachverfolgt werden können, wenn uns das Virus erwischen sollte. Zudem stehen bald Schnelltests bereit, kostenlos sogar, wie es heißt.

Ja, wir müssen vorsichtig bleiben, ist ja gut, sind wir. Aber niedergelassene Ärzte sollten ins Impfen einbezogen werden. Dann geht eben, wer will, zu ihnen. Daraus entsteht vielleicht ein Durcheinander, wenn der Staat nicht mehr Mails oder Briefe verschickt, aber dann ist das eben so. Bis dahin sollten doch wohl die systemrelevanten Berufe nach Plan dran gekommen sein. Und wer geimpft ist, sollte wieder weitgehend tun dürfen, was er tun will. Die bloße Aussicht auf größere Freiheit kann die Impferei sogar beschleunigen.

Die Regierungen in Bund und Land haben uns einigermaßen gut durch die Pandemie gelotst. Ihre Methoden sind jedoch ausgereizt. Nun steht die zweite Phase des Charaktertests bevor. Bringt die Runde am Mittwoch eine durchdachte Doppelstrategie zustande, wird das müde Land aufgemuntert. Kriegt sie diese Kurve nicht überzeugend hin, wird aus der Müdigkeit Missmut. Mindestens.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.