Kategorie: Allgemein
Ziemlich beste Freunde, wie lange?
Wer hätte gedacht, dass der Armin und der Markus vor die Presse treten und mit freundlichem Respekt übereinander reden, obwohl sie doch das Gleiche wollen? Jeder sagt vom jeweils anderen, dass er zum Kanzler geeignet ist und dass er, wird er es nicht, den anderen, der es wird, aus vollem Herzen und mit voller Kraft unterstützen wird. So viele gute Vorsätze hat man selten.
Sinnvoll ist ja das Experiment, das der Armin und der Markus ausgeheckt haben. Die Lage ist ernst, das Land steckt in der dritten Phase der Pandemie. Viele Menschen infizieren sich, zu viele Menschen sterben. Das Impfen schleppt sich dahin. Die Stimmung grenzt wahlweise ans Depressive oder Aggressive. Da passen die üblichen miesen Spielchen nicht, rund fünf Monate vor der Bundestagswahl. Der Nimbus der Politik ist ohnehin im Keller. Deshalb ist der Ernst, mit dem Armin Laschet und Markus Söder den Wettbewerb um die Nachfolge der Kanzlerin am Sonntag förmlich ausgerufen haben, nur angemessen.
Dabei eifern sie natürlich einem Vorbild nach, das friedliche Koexistenz zur Kunstform erhoben hat: den Grünen. Der Robert und die Annalena dürfen selber darüber entscheiden, wer von ihnen die Nummer Eins sein soll. Kein Parteigremium mischt sich ein, die Grünen warten ab, was passiert, was ja nun eigentlich seltsam in einer Parteiendemokratie ist. An diesem Mittwoch ist es soweit, dann wird Rauch aufsteigen, dann ist sie oder er gewählt und somit auch ein Kanzlerkandidat/eine Kanzlerkandidatin.
Die Grünen sind am Ende eines langen Prozesses angelangt, während die Union an einem späten Anfang steht, der schnell ein Ende finden wird. Die Dinge dürften sich in den nächsten Tagen überschlagen, so ist das eben, wenn eine Dynamik entfaltet wird, die schnell außer Kontrolle gerät. Die CDU wird Laschet stützen, die CSU wird Söder stützen. Ein paar Hintersassen und ein paar prominente Einzelgänger wie Norbert Röttgen werden sich gerne zu ihrer Meinung befragen lassen, vielleicht sagt die Bundestagsfraktion am Dienstag noch, wen sie bevorzugt. Geordnete Verfahren haben die Eigenschaft, schnell ins Unordentliche überzugehen, so dass alsbald der Ruf erschallen wird: Entscheidet euch gefälligst, damit nicht noch mehr Wechselstimmung in Deutschland aufkommt.
So wird wohl die Union auf den letzten Metern noch die Grünen überholen und ihren Kanzlerkandidaten vor dem Mittwoch küren. Wen? Doch wohl eher den Armin.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
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Wer wird’s? Mit wem müssen wir rechnen?
Timing ist nicht alles im Leben oder in der Politik, aber ohne das Glück des gelungenen Augenblicks ist alles nichts. Die Pandemie verschärft die Unberechenbarkeit noch und was sie uns in nächster Zeit an neuen Überraschungen bietet, dürfte die Stimmung bestimmen, in der die Union und die Grünen ihre Entscheidung fällen – und am Ende wir bei der Bundestagswahl.
Wie schlechtes Timing sich auswirken kann, lässt sich am Beispiel des unglückseligen Martin Schulz von der SPD studieren. Früh gestartet. Überhäuft mit Weihrauch und Myrrhe. Die glänzenden Umfragen inhaliert wie Marihuana. Daran geglaubt, dass es bleibt, wie es gerade ist. Eigenen und fremden Illusionen aufgesessen. Abgestürzt und nicht mehr aufgestanden. Gefleddert zur geradezu lächerlichen Figur und seither fast schon wieder vergessen. Mit 20,5 Prozent das schlechteste Wahlergebnis eingefahren, das die SPD seit 1949 je bekam. Und trotzdem kann Olaf Scholz heute von einer 2 vorne dran nur träumen.
Die Grünen sind das Gegenbeispiel. Seit drei Jahren laufen Annalena Baerbock und Robert Habeck gemeinsam durchs Land und gehen freundlich miteinander um. So staatstragend und vernünftig muss man erst einmal sein wollen. Oft genug den richtigen Ton getroffen. Nichts für garantiert gehalten, erst recht nicht steigende Umfragen. Skepsis als Grundhaltung macht sich gut. Die Grünen haben den größtmöglichen Nutzen durch ihre beiden Vorsitzenden.
Der Robert hat stark begonnen und die Annalena stark aufgeholt. Wie man aus dem inneren Kosmos hören kann, neigt der Robert neuerdings zu Anflügen von Melancholie, weil Annalena nicht nur richtig gut ist, sondern eben auch unübersehbar eine Frau, was bei den Grünen ins Gewicht fällt. Somit bleibt es ihr überlassen, ob sie die Nummer 1 und damit die Kanzlerkandidatin sein will oder nicht. Und da sie es jedem Anschein nach sein will, ist es nur eine Frage des Timings, wann sie den Anspruch förmlich erhebt.
Interessante Konstellation: Sie kann sagen, was sie haben möchte. Spricht er zuerst, kann er nur sagen: Ich will nicht.
Markus Söder erweckt zuverlässig den Eindruck, dass er der Herr des Geschehens ist und dass er sich vieles zutraut, wenn nicht alles. Zugleich dürfte er genau studiert haben, woran es eigentlich gelegen haben mag, dass weder der Riesenstaatsmann Franz Josef Strauß noch der nicht ganz so omnipotente Edmund Stoiber geworden sind, was sie unbedingt werden wollten. Mehrere Grunde bieten sich an: Deutschland will nicht von einem Bayern regiert werden. Oder dem CSU-Vorsitzenden, auf Alleinherrschertum getrimmt, mangelt es an der Fähigkeit, Loyalität zu begründen. Oder die CSU als Anhängsel der CDU ist konstitutionell zu klein und auch zu fern der Hauptstadt, um zu reüssieren.
Armin Laschet ist noch nicht lange CDU-Vorsitzender. Inzwischen finden sich Hinterbänkler im Bundestag, die sich gerne damit zitieren lassen, dass derjenige Kanzlerkandidat sein soll, der die größere Chancen bei den Wählern hat. Ja, wenn man das immer so genau wüsste, wäre vieles einfacher. Die momentanen Umfragen sind nichts als Momentaufnahmen und mehr von Covid-19 bestimmt als dem Charisma der Konkurrenten. Deshalb gilt der schöne alte Spruch: Ich glaube nur den Umfragen, die ich selber in Auftrag gegeben habe.
Zuletzt hatte Armin Laschet keine gute Strähne, schon wahr. Aber ihm ist es bisher immer gut bekommen, wenn man ihn schon abgeschrieben hatte. Er ist gut im Endspurt. Daher muss ihm daran gelegen sein, so spät wie möglich die Entscheidung zu treffen, ob er antreten will oder nicht. Denn das Erstgeburtsrecht steht ihm als dem Vorsitzenden der CDU zu. Nur wenn er merken sollte, dass ihm die eigene Partei die Gefolgschaft verweigert, müsste er von sich aus klein beigeben – wie Helmut Kohl im Jahr 1980 und Angela Merkel im Jahr 2002.
Gehen wir mal davon aus, dass bis Mitte Mai geklärt ist, ob es Armin Laschet sein darf oder Markus Söder und wer von den beiden netten, kompetenten Grünen die Nummer 1 trägt, die Annalena oder der Robert. Dann sind noch rund sechs Wochen bis zu den Sommerferien, wo wir sie auch immer verbringen dürfen, der Pandemie sei es geschuldet. In dieser Zeit werden die Medien die beiden Übriggeblieben durchleuchten und Schwachstellen/Widersprüche/Geheimnisse offenlegen. Wer gute Nerven hat, wissen wir dann. Denn niemand kann sich auf die Hitze in der Küche so vorbereiten, dass er nicht davon überrascht würde.
Bayern und Baden-Würrttemberg kommen erst Anfang September aus den Ferien zurück. Deshalb wird der eigentliche Wahlkampf nur kurz und scharf ausfallen. Bei aller fundamentalen Ungewissheit, ob wir bis dahin Herdenimmunität haben oder die Pandemie uns mit neuen Mutanten in neue Lockdowns jagt, sind die Voraussetzungen für den Wahlkampf ziemlich günstig. Je kürzer, desto politisch. Oder anders gesagt: Je kürzer, desto weniger langweilig.
Dass Annalena Baerbock das Experiment auf sich nimmt, als grüne Kanzlerkandidatin anzutreten, ist aus meiner Sicht so gut wie sicher. Dass Armin Laschet, obwohl er will, am Ende doch für Markus Söder zurückziehen muss, erscheint mir wenig wahrscheinlich, wenn es auch nicht ganz ausgeschlossen ist.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
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Merkels Jünger müssen Buße tun
Gestern Abend saß Angela Merkel in Anne Wills Sendung und nahm zu allem Stellung, was schief läuft/vertrackt ist/vermurkst ist. Sie redete nicht um den heißen Brei herum und versuchte zu retten, was zu retten ist. Wieder bestach ihre Haltung, die sie Fehler zugeben lässt, wo sie nicht allein Fehler machte, sondern von mindestens 16 Mittätern umzingelt war. Einige davon, wie Winfried Kretschmann und Markus Söder, gestanden ihre Komplicenschaft freimütig ein. Die anderen Kollegen und Kolleginnen fielen durch dröhnendes Schweigen auf.
Die Pandemie schlägt wieder zu. Mitten in der dritten Welle befinden wir uns. Die Zahlen steigen Tag für Tag. Seit März 2020 haben sich nachweislich 2,7 Millionen Menschen infiziert und fast 76 000 Menschen sind an Covid gestorben. Die Inzidenz liegt momentan deutschlandweit bei 130, viel zu hoch. In Thüringen (232) und Sachsen (183) liegt sie erschreckend höher. Schleswig-Holstein (67), Saarland (78) und Rheinland-Pfalz (99) bleiben immerhin unter 100. Wie lange noch?
Natürlich, und das ist das Erzübel, impft Deutschland nicht schnell genug. Rund 8,6 Millionen Menschen sind, Stand gestern, einmal geimpft worden, rund 3,8 Millionen zweimal. In Berlin, wo es erstaunlich gut klappt, sind in den nächsten Tagen die 70jährigen dran.
Frankreich ist ein Beispiel für Konsequenz aus Not. Dort gilt eine Ausgangssperre ab 18 Uhr. Man muss sich das ausmalen: Das Land, das dieses wunderbare Laisser-Faire erfand, riegelt sich vor Sonnenuntergang ab. In England, wo die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist, machen Cafés, Restaurants etc. voraussichtlich am 12. April wieder auf. Beneidenswert.
Und wir? Die Kanzlerin wurde bei Anne Will nicht müde aufzuzählen, was ab jetzt gelten soll. Wenn es gut geht, wird ab April massiv mehr geimpft, eben auch bei den Hausärzten. Wie es aussieht, geht die Bundesregierung dazu über, den Unternehmen gesetzlich Home Office vorzuschreiben, da die höfliche Bitte unerhört blieb. Tests und Selbsttests nehmen zu, auch in Schulen und Kitas. Ansonsten dürfen wir uns wieder nur mit einer Person zusammensetzen, die nicht bei uns wohnt. Wie mickrig, wie schade. Auf Reisen, auf Mobilität sollen wir verzichten. Fröhliche Ostern.
Aber genügt dieses Sammelsurium aus Einzelmaßnahmen? Jede Sanktion ist sinnvoll für sich und die Kombination aus den vielen schon richtig. Aber ist sie richtig genug? Muss nicht härter gegen die rasende Mutation vorgegangen werden?
Die Kanzlerin hätte schon im Oktober gerne mehr Restriktionen eingeleitet. Wollten aber etliche Herren und Damen aus den Ländern nicht. Auch in jener historischen Nachtsitzung vor einer Woche wollten viele vieles nicht und auch deshalb kam nach nervtötenden Stunden dieser lausige Kompromiss zustande, der sich dann nicht einmal umsetzen ließ.
Was die Kanzlerin zu Anne Will gesagt hatte, durfte Markus Söder in den „Tagesthemen“ kommentieren, also nicht Armin Laschet, der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat. Wie immer fand Söder richtige Worte im kraftvollen Ton. Seine Stärke ist die Suggestion von Stärke, und das macht er wirklich gut. Wieder war er mit der Kanzlerin eins, dass mehr Durchgreifen sinnvoll wäre und Alleingänge wie im Saarland sittenwidrig sind.
Angela Merkel und Markus Söder sind auf einer Mission. Sie versuchen mit Macht, Vertrauen wieder zu gewinnen. Am Anfang stand die freimütige Entschuldigung. Nun deutete Söder an, in solchen Krisen würde besser Bundesrecht herrschen, so dass dieses Wir-machen-schon-mal-aus Prinzip-aber-nicht-alles-so-wie-es-die-Kanzlerin-will endlich aufhöre. Es stimmt ja auch, dass der Wirrwarr im vergangenem Frühsommer einsetzte, als die Regierungschefs und Regierungschefinnen der Kanzlerin nicht mehr folgten. Haben Alleingänge dem Land gut getan? Seit Herbst bestimmt nicht mehr.
Was tun? Offensichtlich kann wieder nur ein Lockdown dafür sorgen, dass die Zahl der Infizierten und Toten zumindest nicht noch weiter ansteigt. Macht keinen Spaß, kommt zu Frühlingsanfang bestimmt nicht gut an. Die Besitzer von Restaurants/Einzelhandelsunternehmen/Cafés werden in den Wahnsinn getrieben, aber was wäre die Alternative? Andere Länder kamen auf diese Weise aus dem Gröbsten heraus. Dreiviertel der Deutschen sagten bei der neuesten Umfrage, sie seien mit den herrschenden Restriktionen einverstanden oder sogar für härtere Regeln.
Und dann sollten sich alle Ministerpräsidenteinnenn und Ministerpräsidenten, vor allem die der SPD, darauf besinnen, dass auch sie die Vertrauenskrise mit verursacht haben. Die Kanzlerin hat das Kreuz auf sich genommen, schon wahr, aber gerade deshalb könnten die Jünger und Jüngerinnen ihrem Verantwortungssinn nacheifern.
Sonst ist die Pandemie irgendwann vorbei und die Demokratie kränkelt.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.
The Making of André Agassi
Zum Geburtstag bekam ich die Autobiographie von André Agassi geschenkt. Levin, der edle Spender, sagte dazu, es sei das Beste, was er je über einen Tennisspieler gelesen hat. Levin ist selber ein vorzüglicher Tennisspieler, schöpfte klugerweise aber sein Talent nicht restlos aus, sondern studiert Jura wie seine Freundin, meine Tochter.
Einer meiner ersten Leitartikel bei der „Zeit“ handelte von einem 17jährigen Wimbledonsieger namens Boris Becker, über den sich Deutschland herzlich freute. Die Überschrift lautete „Aufschlag in die deutschen Herzen“. Sie war nicht von mir, sie war mir peinlich, aber sie traf die Stimmung im Land. Wie sich herausstellt, mochte André Agassi diesen Becker überhaupt nicht. Die beiden verband eine tiefe Abneigung, wie sie wohl nur unter verfeindeten Konkurrenten möglich ist.
André Agassi nahm ich als Tennisspieler schon wahr, interessierte mich aber nicht für ihn. Mit seiner Matte sah er schrecklich aus, die kurzen, knappen Jeans, die er trug, fand ich bescheuert. Er spielte gut, schon wahr, aber als Sportpatriot war ich auf der Seite des herrlich unschuldigen Rotschopfs aus Leimen und mehr noch auf der Seite von Steffi Graf, die gleichzeitig auftauchte. Becker war der wilde Spieler und brave Junge. Graf war die beherrschte, kühle Strategin mit der harten Vorhand. Becker zeigte Herz. Sie nicht. Ich fand beide eindrucksvoll.
Dass Agassi dereinst die Nummer 1 im Tennis werden würde, wusste sein Vater schon vor der Geburt. Er war der Vater, den kein Kind haben will. Ein Tyrann. Ein Diktator. Ein Knochenbrecher. Ein Kinderbrecher. Zwei seiner Kinder hatten es nicht zu Tennisgrößen geschafft. Für ihn waren sie Verlierer. Er bleute es ihnen ein, dass sie Enttäuschungen waren, immer wieder. Schrott. Seiner Hingabe nicht wert. André war der Jüngste, Vaters letzte Chance. Die Tennismaschine. Die Geldmaschine.
André Agassi liebte und hasste Tennis. Er hasste Tennis mehr, als er es liebte. Die hochgradige Ambivalenz, die ihn fast zerstört, ist sein Vatererbe. Zu den stärksten Passagen in diesem Buch gehört ein kurzes, erhellendes Gespräch mit Stefanie Graf (sie sagt zu André, sie denkt sich als Stefanie, nicht als Steffi, wie ihre Mutter sie nannte). Er beichtet ihr, dass er Tennis hasst. Er denkt, er sagt etwas Ungeheures, begeht ein Sakrileg und sie wird ihn gleich abschätzig mustern. Und sie? Nüchtern fragt sie zurück: Na klar, was sonst? Ambivalenz hält sie für einen Dauergemütszustand, der jeden normalen Tennisspieler peinigt.
Auch sie hatte einen tyrannischen Vater, der ihre Begabung im Alter von 3 Jahren erkannte und brutal förderte. Aber nicht der Vater, sondern das manische Tennisspiel ist für die extreme Ambivalenz verantwortlich. Das ist ihre ebenso kühle wie seelenrettende Erklärung.
Wunderkinder sind arme Kinder. Ihr Talent bringt sie um ihre Kindheit. Macht sie zu Robotern, die stundenlang am Tag Vorhand/Rückhand/Volley/Aufschläge üben, ohne dass sie jemand gefragt hätte, ob sie das wollen. Natürlich sind sie zu jung, um eigene Entscheidungen zu treffen. Natürlich bestimmt der Vater/Trainer/Manager ihren Lebensleidensweg, der für die nächsten 15, 20 Jahre nur noch aus Trainieren/Reisen/Trainieren/Spielen/Reisen usw. besteht.
Da ihre Begabung aber in diesen Kindern derart dominant ist, wie sie es ist, gibt es für Wunderkinder keine Alternative. Sie wollen aus Eigenem, was sie dann zwanghaft tun müssen, egal ob sie singen, Klavier spielen oder eben Tennis. Mit einer Sondergenehmigung verlässt Stefanie Graf die Realschule; mit knapp 14 wird sie Profi. André Agassi bricht die High School mit 14 ab.
Mit 13 tauscht er das Gefängnis zu Hause mit der Kaserne von Nick Bollitieri, einem Oberleutnant bei den Fallschirmjägern, der zum Oberleutnant seiner Tennisakademie in Florida wird und dort weitermacht, wo der Vater aufhörte. Der kleine André hat Heimweh, schreckliches Heimweh. Er haßt, wo er ist. Niemand ist nett zu ihm. Die anderen Jungs werden nicht zu Freunden, weil sie sich ständig miteinander messen. Konkurrenz vernichtet gewöhnliche seelische Regungen.
André Agassi wehrt sich gegen die Kaserne. Er rebelliert, färbt sich die Haare, schminkt sich, lässt sich eine Matte wachsen, die bald schon ein Haarteil benötigt, weil die Stirn früh licht wird. Er versteckt sich in der Verkleidung mit knappen Jeans und greller Frisur. Am allerwenigsten versteht er selber, warum er macht, was Bollitierei und später Medien wie Zuschauer verachten. Zutiefst unsicher ist er und bleibt es lange. Ein Kind, verlassen und ausgesetzt. Menschenscheu, gern im Abseits und bald auf der Suche nach Sinn in seinem seltsamen, verkürzten, monotonen Leben. Wegen seines Mangels an Bildung hat er Minderwertigkeitskomplexe. Glück? Allenfalls Genugtuung. Immerhin ist er begabt darin, gute Freunde zu finden und Freundschaften zu hegen. Sie schützen ihn, begleiten ihn, helfen ihm beim Überleben in diesem Geschäft, das sich auch um viele Millionen Dollar dreht.
Ich habe viele Sportlerbiographien gelesen, vor allem die von Basketballspielern. David Halberstam schrieb über Michael Jordan ein phantastisches Buch, das nicht nur die Herkunft des Besten aller Besten beschreibt, seine Ängste und Wünsche. Amerika am Anfang der achtziger Jahre steht in diesem Buch im Mittelpunkt. Veränderungen im Kapitalismus ereignen sich und sie sind wichtig für die Einordnung dieses großartigen Sportlers ins größere Ganze.
Eine kleine Klitsche in Kalifornien, die keiner kennt, bewirbt sich um den Star von morgen, um Michael Jordan, der eigentlich Adidas bevorzugt. Daraus erwächst der Nike-Konzern und die Air Jordans, sein Basketballschuh, werden zu sagenhaften Verkaufsschlagern. Ein kleiner Spartensender namens ESPN entschließt sich, ab jetzt amerikaweit Basketballspiele zu übertragen, in denen sich Ausnahmekönner wie Magic Johnson oder Larry Bird eine epische Konkurrenz liefern. Die NBA, deren Ruf unter dem Drogenkonsum vieler Spieler leidet, rafft sich auf und profitiert von dem cleanen Michael Jordan, der noch ein Rookie ist und bald die nächste Generation großartiger Spieler anführt. In diesem Dreiklang Jordan/Nike/ESPN entsteht das Milliardengeschäft Basketball.
David Halberstam, ein wunderbarer Autor, erzählt über Amerika, indem er über Michael Jordan erzählt. Seine Biographie blickt von hoch oben auf einen florierenden Geschäftszweig und beschreibt, wie aus einem Sport, von dem sich die weiße Mittelschicht abgewandt hatte, ein Sport wird, in dem herausragendes Talent mehr zählt als die Hautfarbe.
Über Dirk Nowitzki hat Thomas Pletzinger ein tiefgehendes Buch geschrieben: The Great Nowitzki. Es ist fast so gut, wie die TV-Dokumentation von Leopold Hoesch. Nur fast so gut, weil dem Autor seine Eitelkeit in die Quere kommt. Eindrucksvoll, weil Holger Geschwindner dem Autor Zugang gewährte, was selten vorkommt. Ohne Geschwinder wäre Nowitzki nicht zu Dörk geworden, den nicht nur Dallas liebt. Ohne Geschwindner wäre Nowitzki nicht Nowitzki geworden.
Zu den bemerkenswerten Selbstschreibern ihrer Biographie zählt Andrea Petkovic. Sie beantwortet die interessanteste Frage: Wie rettet sich ein einsamer junger Mensch, der vollkommen darauf ausgerichtet ist, nur eines zu machen: Tennis zu spielen? Die Literatur erlöst sie. Zuflucht findet sie in den Büchern, von Dostojewski bis zu David Foster Wallace. Das Schreiben führt sie zu sich. Übrigens ist sie die Ausnahme, weil sie zunächst ein Bombenabitur hinlegt und sich erst danach in den Wahnsinn stürzt. Weil sie selber schreibt, ist sie auch die Herrin über ihre Geschichte.
Agassi fand J.R. Moehringer, einen Journalisten, dem er unendlich viele Tonbänder voll erzählte. Moehringer wählte die Methode von unten. Er schlüpft in den kleinen, den mittleren und den großen André hinein. Er träumt mit ihm, er flucht mit ihm, er kifft und säuft mit ihm, er trifft mit ihm die Lebensfreunde, die seine Familie ersetzen, eine Folge aus Vaterfiguren und Mentoren.
Aus Moehringer spricht André, der Brooke Shields kennenlernt, heiratet, schon ahnt, dass die Ehe nicht lange hält und sie doch eingeht, weil dann wenigstens jemand da ist, wenn er nach Haue kommt. Shields versetzt sich nicht in ihren Mann, erleidet mit ihm weder Niederlagen, die ihn ins Herz treffen, noch Siege, die ihm nichts bedeuten. Warum sollte sie auch? Er macht seinen Job, sie macht ihren. Erfolg versteht sich von selbst, das ist beider Ziel, beider Selbstzweck. Brooke Shields hat einen Abschluss aus Princeton, der ihn einschüchtert. Sie rät ihm, als sie sich von ihm trennt, er sollte doch einen Therapeuten aufsuchen.
Recht hat sie. Sein Therapeut ist J.R. Moehringer.
Die Stärke der psychologischen Methode besteht darin, dass wir miterleben, mitfiebern, mittrauern. André tut uns leid, ärgert uns mit seinem nagenden Selbstzweifel, dem ewigen Herumlungern auf dem Sofa vor dem Fernseher, den Schlaftabletten. Mit ihm freuen wir uns, wenn er wieder einen Menschen kennenlernt, mit dem er reden kann, und wenn er erst einmal Vertrauen gefasst hat, hört er gar nicht mehr auf mit dem Reden, dem Sich-Öffnen, der Selbsthingabe. Ein Extremist, wie denn auch nicht, Das Wunderkind, das nicht allein erwachsen werden kann. Ein Junge mit Wohnungen und Autos, der großzügig hilft, wenn andere in Not sind. Mit Not kennt er sich aus, vor allem mit innerer Not.
Psychologie ist die klassische Methode eines Romans. So ist diese Autobiographie auch ein Roman des Suchens, Verfehlens, Verzweifelns und endlichen Findens. Ein spannender Bildungsroman: The making of André Agassi with a little help from his friends, against all odds. Sehr amerikanisch, das natürlich auch: You can make it, no matter how often you fail.
Psychologie hat auch den Vorteil, dass sie das Verständnis dafür bietet, was dort unten auf dem Centre Court zwischen zwei Kindmännern passiert. Wie sie sich beobachten, wie sie versuchen, ihre Mienen zu deuten, ihre Körpersprache. Wie gut ist Sampras/Courier/Muster/Federer heute drauf? Wie viel Zeit nehmen sie sich im fünften Satz für den Aufschlag? Bekommen sie den zweiten Atem und schleppen sie sich nur noch dahin?
Agassis Nemesis ist Pete Sampras. Pistole-Pete wegen seines mörderischen Aufschlags. Sie sind grundverschieden. Sampras: ein Ausbund an Ausgeglichenheit und Gleichmaß. Agassi: ein Romantiker mit wirrem Gemüt, ein Monster an Unausgeglichenheit. Herrliche Gegensätze, aus denen die Sportreporter wunderbare, wundersame Geschichten weben.
Und dann diese unerklärlichen Schwankungen in einem Spiel – was spielt sich in den Gemütern der Spieler ab? Grandiose Phasen, gefolgt von unforced Errors in Serie. Und dann, wenn es gut geht, das Zurückfinden zu den Schlägen, die den Gegner über den Platz jagen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Keinen Tennisspieler gibt es ohne Auf und Ab. Manchmal bleibt nur das Beobachten, während die perfekten Aufschläge mit monströser Geschwindigkeit unerreichbar vorbei jagen: Wie lange hält er das durch? Wann bricht er ein? Lässt er mir noch eine Chance oder zieht er dieses furchtbare Spiel durch? Was soll ich machen?
Agassi schweift mitten im Spiel mit den Gedanken ab, ohne dass er daran etwas ändern könnte. Es ereignet sich ohne Ankündigung. Es lässt sich nicht abstellen. Man kann es nur aushalten. Verliert Agassi aus Ungeduld noch mehr an Konzentration, verliert er den Satz. Findet er nicht aus dem inneren Abschweifen zurück auf den Platz, verliert er ganz schnell das Spiel.
Eindrucksvoll an diesem Buch ist diese Schonungslosigkeit, mit der Agassi seine Schwächen bloßlegt. Die Selbstgespräche enden entweder in Selbstmitleid oder Selbsthass. Nur zu oft schleicht er vom Platz und versteckt sich in seinem Hotel, seinem Haus. Niederlagen sind grausam, wenn es nur Tennis gibt. Niederlagen werden erträglich, wenn ein Leben wartet.
Das happy Ending auf dem langen Weg über Rom/Paris/Melbourne/Wimbledon zu André Agassi ereignet sich in zwei Stufen. Auf der ersten Stufe gründet er eine Charterschule in einem armen Viertel von Las Vegas. Charterschulen sind private Gründungen, die der Staat unterstützt. Agassi bietet armen Kindern aus dysfunktionalen Familien alles, was sie nicht haben: eine Schuluniform, einen Schlafplatz, eine tolle Schule mit engagierten Lehrern, den Antrieb zur Bildung und das Ziel, aufs College zu gehen. Was er nicht hatte, haben diese Kinder vom Kindergarten bis zum High-School-Abschluss: Lebenslernchancen.
Für seine Schule spielt er nun, denn darauf verwendet er seine Preisgelder. Das Tennisspielen hat seither einen Zweck und ein Ziel. Zuvor freute er sich nicht über seine Grand Slams, jetzt schon. Die ewige Wut, sein Vatererbe, ebbt ab. Siege sind nicht mehr alles. Niederlagen versetzen nicht mehr in Depression. Tennis ist nicht alles. Dieses IchIchIch reicht nicht für ein Leben. Es gibt etwas Größeres als André Agassi. Übrigens eine Erfahrung, die dem verhassten Boris Becker verschlossen blieb.
Die zweite Stufe zum Glück ist Stefanie Graf. Sie versteht, was ihn treibt. Sein Gemüt. Seine Obsessionen. Aus eigner Erfahrung kennt sie alles, was es zu kennen gibt. André Agassi ist schon vor der Ehe mit Brooke Shields fasziniert von Stefanie Graf, schwärmt von ihr, prallt aber an ihr ab. Kein Interesse. Keine Ablenkung. Tiefenscharf konzentriert ist sie auf das Spielen, das Gewinnen. Dann hört sie auf, mit 29, gerade in den Tagen, als sie damit anfangen zu telefonieren, zu reden. Der Körper will nicht mehr und sie hört auf ihren Körper. Ohne Drama endet ihre einzigartige Karriere. Eine große Spielerin mit einem Charakter, der sie nicht trügt, der sie nicht in die Irre führt. Viel früher als André wusste sie, wer sie war.
André Agassi spielt noch, als seine Tochter und sein Sohn schon zugucken, wenn er spielt, und zuhören, wie er stöhnt und stampft und brütet und wütet und tatsächlich noch einmal die Nummer 1 in der Welt wird, die älteste Nummer 1 je. Mit 36 hört er mit dem Spielen auf. Versöhnt mit sich und dem Tennis und seinem Vater.
Eine schöne Geschichte erzählt Moehringer alias Agassi aus diesem langen Tennisleben, das die Suche nach einem Sinn jenseits des Courts ist. Fast zu schön, um wahr zu sein. Aber egal, sollen sie glücklich werden, ich gönne es ihnen.
Die Stimmungskiller sind unter uns
Wenn es mit rechten Dingen zuginge, dann hätte die Bundeskanzlerin ihre Pressekonferenz heute nacht mit einer kleinen Demutsgeste begonnen, mit einer Entschuldigung dafür, dass sie wieder über Ausgangssperren, kontaktarmen Urlaub (was für ein Wort!)) und Ähnliches referieren muss. Natürlich liegt der Grund in den steigenden Zahlen, aber mehr noch in all dem, was sie und ihre Kombattanten nicht hinbekommen: das Impfen, das Testen, Zuversicht.
Wir haben Ende April und 9 Prozent der Deutschen sind geimpft. Neun Prozent. Nicht mehr. Der Clown, der Premierminister in England ist, will Mitte Mai die Herdenimmunität erreichen, die Freiheit zurück gibt, anstatt mehr von ihr zu nehmen. Glückwunsch! Das 320-Millionen-Einwohner-Land Amerika ist wohl Ende Mai so weit. Dort impfen sie auf Parkplätzen und wo immer auch Menschen in größerer Zahl versammelt werden können, anstatt an der einmal festgelegten Priorisierung (auch so ein Kunstwort) festzuhalten, weil sie nun einmal festgelegt ist. Alle Achtung!
Beim vorletzten Mal, als Bund und Länder eine Videokonferenz abhielten, sagte Angela Merkel hinterher mit verhaltener Ironie, wir müssten zur deutschen Gründlichkeit ein bisschen Flexibilität hinzufügen. Klang gut. Klang einsichtig. Diesmal aber wird Gründlichkeit durch noch mehr Gründlichkeit ersetzt.
Es geht nicht anders, weil es so ist, wie es ist. Die Infektionszahlen steigen. Menschen sterben und sterben an der Pandemie. Die Logik ist wieder, wie sie immer ist: Wir sollen nicht reisen, uns nicht an Ostern in größeren Zirkeln treffen. Wir sollen aufpassen, uns nicht anstecken, niemanden anders anstecken. Am besten würden, dieser Logik entsprechend, auch wieder die Schulen und Kitas geschlossen. Und wenn die Inzidenz steigt, und das wird sie ja, das ist abzusehen, folgt die Ausgangssperre. Geht noch mehr?
Zur neuen Gründlichkeit gehört es, dass Deutsche, die etwa über Ostern nach Mallorca reisen wollen, als Vaterlandsverräter dastehen, als Wohlstandsflüchtlinge. Der niedersächsische Ministerpräsident Stefan Weil meinte, Mallorca sein ein Stimmungskiller, weil nicht sein darf, dass die einen raus dürfen und die anderen nicht einmal in die Lüneburger Heise fahren können. Das nennt man in der Politik ein gelungenes Ablenkungsmanöver, da nun kurz mal die Empörung und Abscheu auf eine winzige Minderheit gelenkt wird, die auf einer Insel Urlaub mit geringer Inzidenz (20!) machen will.
Der Stimmungskiller ist doch wohl, dass jetzt erst Menschen Mitte 70 mit dem Impfen an die Reihe kommen. Der Stimmungskiller ist doch wohl, dass Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern hinten dran hängt. Der Stimmungskiller ist, dass wir von 150 Millionen Selbsttests reden, die aber noch nicht zur Verfügung stehen. Dass bald Ärzte impfen dürfen, falls sie denn Impfstoff geliefert bekommen. Und auch nicht witzig ist, dass uns viel abverlangt wird, aber nicht der Wirtschaft, die nur freundlich darum gebeten wird, ihre Angestellten doch bitte zu testen. Danke der Rücksichtnahme.
Die Kanzlerin liegt ja meist richtig mit der Einschätzung der Lage. Sie handelt konsequent. Dafür ist sie mit Vertrauen belohnt worden. Mit Geduld. Man könnte sagen, die Deutschen haben in ihrer großen Mehrheit ihren Job getan und sich weitgehend an die Regeln gehalten.
Nur haben sie in Berlin ihren Job nicht so getan, wie sie es von uns verlangen. Wir sollten mit dem impfen viel weiter sein. Wir wollten darüber nachdenken, mit welchem Konzept mehr Restaurants, Cafés etc. öffnen können, anstatt uns zu fragen, wo wir eigentlich am Ostersamstag einkaufen dürfen. Wir sollten darüber reden, wann es endlich besser wird. Nicht zufällig sagt momentan kein Ministerpräsident und keine Kanzlerin, dass bis zur Bundestagswahl im September 70 Prozent der Deutschen geimpft sein werden.
Der Frühling kommt und die Stimmungskiller bleiben. Ostern kommt und die Zahl der Infizierten steigt exponentiell, wie es aussieht. Dagegen steigt die Zahl der Geimpften nur langsam, verzweifelt langsam.
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