The Making of André Agassi

Zum Geburtstag bekam ich die Autobiographie von André Agassi geschenkt. Levin, der edle Spender, sagte dazu, es sei das Beste, was er je über einen Tennisspieler gelesen hat. Levin ist selber ein vorzüglicher Tennisspieler, schöpfte klugerweise aber sein Talent nicht restlos aus, sondern studiert Jura wie seine Freundin, meine Tochter.

Einer meiner ersten Leitartikel bei der „Zeit“ handelte von einem 17jährigen Wimbledonsieger namens Boris Becker, über den sich Deutschland herzlich freute. Die Überschrift lautete „Aufschlag in die deutschen Herzen“. Sie war nicht von mir, sie war mir peinlich, aber sie traf die Stimmung im Land. Wie sich herausstellt, mochte André Agassi diesen Becker überhaupt nicht. Die beiden verband eine tiefe Abneigung, wie sie wohl nur unter verfeindeten Konkurrenten möglich ist.

André Agassi nahm ich als Tennisspieler schon wahr, interessierte mich aber nicht für ihn. Mit seiner Matte sah er schrecklich aus, die kurzen, knappen Jeans, die er trug, fand ich bescheuert. Er spielte gut, schon wahr, aber als Sportpatriot war ich auf der Seite des herrlich unschuldigen Rotschopfs aus Leimen und mehr noch auf der Seite von Steffi Graf, die gleichzeitig auftauchte. Becker war der wilde Spieler und brave Junge. Graf war die beherrschte, kühle Strategin mit der harten Vorhand. Becker zeigte Herz. Sie nicht. Ich fand beide eindrucksvoll.

Dass Agassi dereinst die Nummer 1 im Tennis werden würde, wusste sein Vater schon vor der Geburt. Er war der Vater, den kein Kind haben will. Ein Tyrann. Ein Diktator. Ein Knochenbrecher. Ein Kinderbrecher. Zwei seiner Kinder hatten es nicht zu Tennisgrößen geschafft. Für ihn waren sie Verlierer. Er bleute es ihnen ein, dass sie Enttäuschungen waren, immer wieder. Schrott. Seiner Hingabe nicht wert. André war der Jüngste, Vaters letzte Chance. Die Tennismaschine. Die Geldmaschine.

André Agassi liebte und hasste Tennis. Er hasste Tennis mehr, als er es liebte. Die hochgradige Ambivalenz, die ihn fast zerstört, ist sein Vatererbe. Zu den stärksten Passagen in diesem Buch gehört ein kurzes, erhellendes Gespräch mit Stefanie Graf (sie sagt zu André, sie denkt sich als Stefanie, nicht als Steffi, wie ihre Mutter sie nannte). Er beichtet ihr, dass er Tennis hasst. Er denkt, er sagt etwas Ungeheures, begeht ein Sakrileg und sie wird ihn gleich abschätzig mustern. Und sie? Nüchtern fragt sie zurück: Na klar, was sonst? Ambivalenz hält sie für einen Dauergemütszustand, der jeden normalen Tennisspieler peinigt.

Auch sie hatte einen tyrannischen Vater, der ihre Begabung im Alter von 3 Jahren erkannte und brutal förderte. Aber nicht der Vater, sondern das manische Tennisspiel ist für die extreme Ambivalenz verantwortlich. Das ist ihre ebenso kühle wie seelenrettende Erklärung.

Wunderkinder sind arme Kinder. Ihr Talent bringt sie um ihre Kindheit. Macht sie zu Robotern, die stundenlang am Tag Vorhand/Rückhand/Volley/Aufschläge üben, ohne dass sie jemand gefragt hätte, ob sie das wollen. Natürlich sind sie zu jung, um eigene Entscheidungen zu treffen. Natürlich bestimmt der Vater/Trainer/Manager ihren Lebensleidensweg, der für die nächsten 15, 20 Jahre nur noch aus Trainieren/Reisen/Trainieren/Spielen/Reisen usw. besteht.

Da ihre Begabung aber in diesen Kindern derart dominant ist, wie sie es ist, gibt es für Wunderkinder keine Alternative. Sie wollen aus Eigenem, was sie dann zwanghaft tun müssen, egal ob sie singen, Klavier spielen oder eben Tennis. Mit einer Sondergenehmigung verlässt Stefanie Graf die Realschule; mit knapp 14 wird sie Profi. André Agassi bricht die High School mit 14 ab.

Mit 13 tauscht er das Gefängnis zu Hause mit der Kaserne von Nick Bollitieri, einem Oberleutnant bei den Fallschirmjägern, der zum Oberleutnant seiner Tennisakademie in Florida wird und dort weitermacht, wo der Vater aufhörte. Der kleine André hat Heimweh, schreckliches Heimweh. Er haßt, wo er ist. Niemand ist nett zu ihm. Die anderen Jungs werden nicht zu Freunden, weil sie sich ständig miteinander messen. Konkurrenz vernichtet gewöhnliche seelische Regungen.

André Agassi wehrt sich gegen die Kaserne. Er rebelliert, färbt sich die Haare, schminkt sich, lässt sich eine Matte wachsen, die bald schon ein Haarteil benötigt, weil die Stirn früh licht wird. Er versteckt sich in der Verkleidung mit knappen Jeans und greller Frisur. Am allerwenigsten versteht er selber, warum er macht, was Bollitierei und später Medien wie Zuschauer verachten. Zutiefst unsicher ist er und bleibt es lange. Ein Kind, verlassen und ausgesetzt. Menschenscheu, gern im Abseits und bald auf der Suche nach Sinn in seinem seltsamen, verkürzten, monotonen Leben. Wegen seines Mangels an Bildung hat er Minderwertigkeitskomplexe. Glück? Allenfalls Genugtuung. Immerhin ist er begabt darin, gute Freunde zu finden und Freundschaften zu hegen. Sie schützen ihn, begleiten ihn, helfen ihm beim Überleben in diesem Geschäft, das sich auch um viele Millionen Dollar dreht.

Ich habe viele Sportlerbiographien gelesen, vor allem die von Basketballspielern. David Halberstam schrieb über Michael Jordan ein phantastisches Buch, das nicht nur die Herkunft des Besten aller Besten beschreibt, seine Ängste und Wünsche. Amerika am Anfang der achtziger Jahre steht in diesem Buch im Mittelpunkt. Veränderungen im Kapitalismus ereignen sich und sie sind wichtig für die Einordnung dieses großartigen Sportlers ins größere Ganze.

Eine kleine Klitsche in Kalifornien, die keiner kennt, bewirbt sich um den Star von morgen, um Michael Jordan, der eigentlich Adidas bevorzugt. Daraus erwächst der Nike-Konzern und die Air Jordans, sein Basketballschuh, werden zu sagenhaften Verkaufsschlagern. Ein kleiner Spartensender namens ESPN entschließt sich, ab jetzt amerikaweit Basketballspiele zu übertragen, in denen sich Ausnahmekönner wie Magic Johnson oder Larry Bird eine epische Konkurrenz liefern. Die NBA, deren Ruf unter dem Drogenkonsum vieler Spieler leidet, rafft sich auf und profitiert von dem cleanen Michael Jordan, der noch ein Rookie ist und bald die nächste Generation großartiger Spieler anführt. In diesem Dreiklang Jordan/Nike/ESPN entsteht das Milliardengeschäft Basketball.

David Halberstam, ein wunderbarer Autor, erzählt über Amerika, indem er über Michael Jordan erzählt. Seine Biographie blickt von hoch oben auf einen florierenden Geschäftszweig und beschreibt, wie aus einem Sport, von dem sich die weiße Mittelschicht abgewandt hatte, ein Sport wird, in dem herausragendes Talent mehr zählt als die Hautfarbe.

Über Dirk Nowitzki hat Thomas Pletzinger ein tiefgehendes Buch geschrieben: The Great Nowitzki. Es ist fast so gut, wie die TV-Dokumentation von Leopold Hoesch. Nur fast so gut, weil dem Autor seine Eitelkeit in die Quere kommt. Eindrucksvoll, weil Holger Geschwindner dem Autor Zugang gewährte, was selten vorkommt. Ohne Geschwinder wäre Nowitzki nicht zu Dörk geworden, den nicht nur Dallas liebt. Ohne Geschwindner wäre Nowitzki nicht Nowitzki geworden.

Zu den bemerkenswerten Selbstschreibern ihrer Biographie zählt Andrea Petkovic. Sie beantwortet die interessanteste Frage: Wie rettet sich ein einsamer junger Mensch, der vollkommen darauf ausgerichtet ist, nur eines zu machen: Tennis zu spielen? Die Literatur erlöst sie. Zuflucht findet sie in den Büchern, von Dostojewski bis zu David Foster Wallace. Das Schreiben führt sie zu sich. Übrigens ist sie die Ausnahme, weil sie zunächst ein Bombenabitur hinlegt und sich erst danach in den Wahnsinn stürzt. Weil sie selber schreibt, ist sie auch die Herrin über ihre Geschichte.

Agassi fand J.R. Moehringer, einen Journalisten, dem er unendlich viele Tonbänder voll erzählte. Moehringer wählte die Methode von unten. Er schlüpft in den kleinen, den mittleren und den großen André hinein. Er träumt mit ihm, er flucht mit ihm, er kifft und säuft mit ihm, er trifft mit ihm die Lebensfreunde, die seine Familie ersetzen, eine Folge aus Vaterfiguren und Mentoren.

Aus Moehringer spricht André, der Brooke Shields kennenlernt, heiratet, schon ahnt, dass die Ehe nicht lange hält und sie doch eingeht, weil dann wenigstens jemand da ist, wenn er nach Haue kommt. Shields versetzt sich nicht in ihren Mann, erleidet mit ihm weder Niederlagen, die ihn ins Herz treffen, noch Siege, die ihm nichts bedeuten. Warum sollte sie auch? Er macht seinen Job, sie macht ihren. Erfolg versteht sich von selbst, das ist beider Ziel, beider Selbstzweck. Brooke Shields hat einen Abschluss aus Princeton, der ihn einschüchtert. Sie rät ihm, als sie sich von ihm trennt, er sollte doch einen Therapeuten aufsuchen.

Recht hat sie. Sein Therapeut ist J.R. Moehringer.

Die Stärke der psychologischen Methode besteht darin, dass wir miterleben, mitfiebern, mittrauern. André tut uns leid, ärgert uns mit seinem nagenden Selbstzweifel, dem ewigen Herumlungern auf dem Sofa vor dem Fernseher, den Schlaftabletten. Mit ihm freuen wir uns, wenn er wieder einen Menschen kennenlernt, mit dem er reden kann, und wenn er erst einmal Vertrauen gefasst hat, hört er gar nicht mehr auf mit dem Reden, dem Sich-Öffnen, der Selbsthingabe. Ein Extremist, wie denn auch nicht, Das Wunderkind, das nicht allein erwachsen werden kann. Ein Junge mit Wohnungen und Autos, der großzügig hilft, wenn andere in Not sind. Mit Not kennt er sich aus, vor allem mit innerer Not.

Psychologie ist die klassische Methode eines Romans. So ist diese Autobiographie auch ein Roman des Suchens, Verfehlens, Verzweifelns und endlichen Findens. Ein spannender Bildungsroman: The making of André Agassi with a little help from his friends, against all odds. Sehr amerikanisch, das natürlich auch: You can make it, no matter how often you fail.

Psychologie hat auch den Vorteil, dass sie das Verständnis dafür bietet, was dort unten auf dem Centre Court zwischen zwei Kindmännern passiert. Wie sie sich beobachten, wie sie versuchen, ihre Mienen zu deuten, ihre Körpersprache. Wie gut ist Sampras/Courier/Muster/Federer heute drauf? Wie viel Zeit nehmen sie sich im fünften Satz für den Aufschlag? Bekommen sie den zweiten Atem und schleppen sie sich nur noch dahin?

Agassis Nemesis ist Pete Sampras. Pistole-Pete wegen seines mörderischen Aufschlags. Sie sind grundverschieden. Sampras: ein Ausbund an Ausgeglichenheit und Gleichmaß. Agassi: ein Romantiker mit wirrem Gemüt, ein Monster an Unausgeglichenheit. Herrliche Gegensätze, aus denen die Sportreporter wunderbare, wundersame Geschichten weben.

Und dann diese unerklärlichen Schwankungen in einem Spiel – was spielt sich in den Gemütern der Spieler ab? Grandiose Phasen, gefolgt von unforced Errors in Serie. Und dann, wenn es gut geht, das Zurückfinden zu den Schlägen, die den Gegner über den Platz jagen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Keinen Tennisspieler gibt es ohne Auf und Ab. Manchmal bleibt nur das Beobachten, während die perfekten Aufschläge mit monströser Geschwindigkeit unerreichbar vorbei jagen: Wie lange hält er das durch? Wann bricht er ein? Lässt er mir noch eine Chance oder zieht er dieses furchtbare Spiel durch? Was soll ich machen?

Agassi schweift mitten im Spiel mit den Gedanken ab, ohne dass er daran etwas ändern könnte. Es ereignet sich ohne Ankündigung. Es lässt sich nicht abstellen. Man kann es nur aushalten. Verliert Agassi aus Ungeduld noch mehr an Konzentration, verliert er den Satz. Findet er nicht aus dem inneren Abschweifen zurück auf den Platz, verliert er ganz schnell das Spiel.

Eindrucksvoll an diesem Buch ist diese Schonungslosigkeit, mit der Agassi seine Schwächen bloßlegt. Die Selbstgespräche enden entweder in Selbstmitleid oder Selbsthass. Nur zu oft schleicht er vom Platz und versteckt sich in seinem Hotel, seinem Haus. Niederlagen sind grausam, wenn es nur Tennis gibt. Niederlagen werden erträglich, wenn ein Leben wartet.

Das happy Ending auf dem langen Weg über Rom/Paris/Melbourne/Wimbledon zu André Agassi ereignet sich in zwei Stufen. Auf der ersten Stufe gründet er eine Charterschule in einem armen Viertel von Las Vegas. Charterschulen sind private Gründungen, die der Staat unterstützt. Agassi bietet armen Kindern aus dysfunktionalen Familien alles, was sie nicht haben: eine Schuluniform, einen Schlafplatz, eine tolle Schule mit engagierten Lehrern, den Antrieb zur Bildung und das Ziel, aufs College zu gehen. Was er nicht hatte, haben diese Kinder vom Kindergarten bis zum High-School-Abschluss: Lebenslernchancen.

Für seine Schule spielt er nun, denn darauf verwendet er seine Preisgelder. Das Tennisspielen hat seither einen Zweck und ein Ziel. Zuvor freute er sich nicht über seine Grand Slams, jetzt schon. Die ewige Wut, sein Vatererbe, ebbt ab. Siege sind nicht mehr alles. Niederlagen versetzen nicht mehr in Depression. Tennis ist nicht alles. Dieses IchIchIch reicht nicht für ein Leben. Es gibt etwas Größeres als André Agassi. Übrigens eine Erfahrung, die dem verhassten Boris Becker verschlossen blieb.

Die zweite Stufe zum Glück ist Stefanie Graf. Sie versteht, was ihn treibt. Sein Gemüt. Seine Obsessionen. Aus eigner Erfahrung kennt sie alles, was es zu kennen gibt. André Agassi ist schon vor der Ehe mit Brooke Shields fasziniert von Stefanie Graf, schwärmt von ihr, prallt aber an ihr ab. Kein Interesse. Keine Ablenkung. Tiefenscharf konzentriert ist sie auf das Spielen, das Gewinnen. Dann hört sie auf, mit 29, gerade in den Tagen, als sie damit anfangen zu telefonieren, zu reden. Der Körper will nicht mehr und sie hört auf ihren Körper. Ohne Drama endet ihre einzigartige Karriere. Eine große Spielerin mit einem Charakter, der sie nicht trügt, der sie nicht in die Irre führt. Viel früher als André wusste sie, wer sie war.

André Agassi spielt noch, als seine Tochter und sein Sohn schon zugucken, wenn er spielt, und zuhören, wie er stöhnt und stampft und brütet und wütet und tatsächlich noch einmal die Nummer 1 in der Welt wird, die älteste Nummer 1 je. Mit 36 hört er mit dem Spielen auf. Versöhnt mit sich und dem Tennis und seinem Vater.

Eine schöne Geschichte erzählt Moehringer alias Agassi aus diesem langen Tennisleben, das die Suche nach einem Sinn jenseits des Courts ist. Fast zu schön, um wahr zu sein. Aber egal, sollen sie glücklich werden, ich gönne es ihnen.