Bedingungslose Kapitulation

Kabul fällt. Heute, morgen, übermorgen, egal wann, die Hauptstadt ist reif, wie ja das ganze Land ohne großen Widerstand fällt. Die Taliban haben ihre eigene Zeitrechnung und sie heißt: höllische Eile. Sie warten nicht ab, bis alle Amerikaner Kabul verlassen haben, sie wollen Gericht halten: über die Söldner des Westens, auch wenn sie nur Koch oder Fahrer waren; über die Frauen, die Richterinnen, Professorinnen, Studentinnen oder auch nur Putzfrauen waren; über die politische Elite von Gnaden des Westens.

Vor 20 Jahren schwor Amerika Rache für die Anschläge am 11. September. 20 Jahre später schwören die Taliban Rache für die Vertreibung von der Macht und wollen auslöschen, was zwischendurch entstanden ist. Und niemand kann ihre Rückkehr an die Macht auch nur hinauszögern, so sieht es aus.

Kabul ist das Saigon dieser Tage. Viereinhalb Millionen Menschen leben hier. Zehntausende dürften in den letzten Tagen hierher geflohen sein, aus Kandahar oder Herat oder aus welcher Stadt auch immer, die von den Taliban erobert wurde. Angst müssen sie haben, was denn sonst. Soldaten werden ihre Uniformen verbrennen. Frauen und Mädchen tun gut daran, sich präventiv zu verschleiern, als wären sie nie zur Schule oder Uni gegangen. Wer Verwandte in Amerika oder Europa hat, wird verzweifelt versuchen, noch einen der letzten Flüge zu bekommen.

Amerikaner und Deutsche glaubten Zeit zu haben. Haben sie nicht. Nun müssen sie herbeieilen, um ihre eigenen Leute aus Kabul herauszuholen und wenigstens ein paar Afghanen, die für sie gearbeitet haben, mit nach Hause nehmen. Nicht annähernd alle werden es schaffen. Herzzerreißende Bilder werden wir in den nächsten Tagen ertragen. Schreckensbilder vom Gottesgericht der Taliban.

Präsident Joe Biden rechtfertigt seinen Entschluss, die Truppen abzuziehen, mit diesem Argument: Nichts Entscheidendes ließe sich in den nächsten zwei Jahren ändern. Das stimmt sogar. Die Regierungen von Hamid Karzai bis zu Ashraf Ghani: korrupt, weil Geld in Afghanistan das Schmiermittel für Loyalität ist. Die Streitkräfte: teuer ausgebildet und ausgerüstet, aber kampfesunwillig, wie man jetzt weiß. Afghanistan: ein Land ohne Zentrum und reguläre Wirtschaft, in dem Paschthunen und Tadschiken und Hasaras um die Macht rivalisieren und der Drogenanbau Geld einbringt; und dann diese Taliban, die wie die Vietcong ihr eigenes Leben gering achten.

Die Regierung Ghani kündigt gerade an, sie werde die Macht friedlich übergeben. Auch so kann man bedingungslose Kapitulation definieren. Friedlich? Die Taliban?

Joe Biden hat die Invasion nicht gestartet, das haben die Herren Bush/Cheney/Powell, von denen in diesen Tagen dröhnendes Schweigen zu hören ist. Aber Biden verantwortet den Abzug und seine Folgen. Die Demokraten, die ihn tragen, werden ihr Gewissen schon bald entdecken und ihn fragen: Und die armen Afghanen? Warum hast du das so gemacht, wie du das gemacht hast? 

Auch in Deutschland werden die Kandidaten und die Kandidatin für das Kanzleramt die Hände ringen, was aus den Frauen und Mädchen in Afghanistan nur werden soll. Ja, man kann nur trauern über die verlorenen Lebenschancen, über den ruchlosen Abzug nach 20 Jahren nach dem Motto – dumm gelaufen, nichts wie raus. Man kann nur Wut und Zorn über den Steinzeitislam der Taliban empfinden.

Aber wäre es nicht angebracht gewesen, wenn die SPD und/oder die Grünen in deutschen Städten Solidaritätsdemonstrationen organisiert hätten? Oder sind unsere Linken vielleicht übermäßig mit sich selber beschäftigt – mit Gendern und Diversität und einem Pipifax-Wahlkampf hierzulande? Wie halten sie es eigentlich als Moralweltmeister mit der Weltpolitik?

Amerika kombinierte seine Invasionen immer mit einem moralischen Anspruch, das sein Modell, Demokratie und Marktwirtschaft, jedem anderen Modell überlegen ist. So haben im Westen alle gedacht, vor allem nach dem Mauerfall 1989/90. Dieser Schicksalglaube ist im Irak und in Afghanistan, in Syrien wie in Libyen, gescheitert. Man soll ja niemals niemals sagen, aber ich glaube, dass Amerika niemals wieder irgendwo in der Welt militärisch einschreiten wird: nicht in Taiwan, nicht auf den Philippinen, nicht in Myanmar, egal was dort an Unrecht oder sogar Genozid sich ereignet.

Amerika hat seinen Glauben an sich selbst, an seine Verabredung mit der Geschichte eingebüsst. Und die Deutschen wie die Europäer insgesamt, verlieren mit. Bräuchte es noch einen Grund für die Selbstverantwortung Europas, dann liefert ihn Afghanistan.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Kabul wird fallen

t-online: Herr Ischinger, systematisch erobern die Taliban das Land zurück, aus dem sie vor 20 Jahren durch die Intervention des Westens vertrieben worden waren. Überrascht Sie die Schnelligkeit des Vormarsches?

Ischinger: Ja, denn ich hatte mit größerer Widerstandskraft gerechnet. Die afghanischen Streitkräfte sind ja gut ausgebildet und ausgerüstet. Aber die Taliban sind von einem tiefreligiösen Glauben bewegt, für den sie auch zu sterben bereit sind. Diese Bereitschaft unterscheidet sie von den Truppen der Regierung, denen es eher um den Sold geht und nicht um die Religion.

Mehrere Richterinnen und Journalistinnen töteten die Taliban in den letzten Tagen, auch einen landesweit bekannten Comedian. Sie verhalten sich genau so repressiv und grausam wie vor 20 Jahren. Muss Afghanistan mit dem Schlimmsten rechnen?

In der Sicherheitspolitik ist es immer richtig und sogar vernünftig, vom schlimmsten Fall auszugehen. Ich wäre angenehm überrascht, wenn die Taliban plötzlich zur Teilung der Macht bereit wären und zu einer maßvollen Politik.

Offensichtlich wollen die Taliban die Spuren von 20 Jahren Fremdherrschaft tilgen, wozu die Bestrafung der Menschen gehört, die für Amerikaner oder Kanadier oder Deutsche arbeiteten. Hat sich der Westen zu wenig um Fahrer, Übersetzer oder Sicherheitskräfte gekümmert?

Gerade wir Deutschen saßen und sitzen ja besonders gern auf dem hohen Roß und halten es in der Außenpolitik mit der Moral. Deshalb steht es uns nicht gut zu Gesicht, wenn wir nicht sämtliche örtliche Hilfskräften in Sicherheit bringen. Sonst sind sie in Todesgefahr, kein Zweifel.

Auf Afghanistan nehmen jetzt wieder die Nachbarn Einfluss, allen voran der ISI, der pakistanische Geheimdienst, der immer sein eigenes Spiel spielte: Einerseits unterstützte er den Westen nach 9/11, andererseits fanden die Taliban in Quetta Asyl und Osama bin Laden in Abbottabad. Was verspricht sich Pakistan jetzt von den Taliban?

Es ist einfach wahr, dass Pakistan und vor allem sein Geheimdienst immer auf zwei Schultern getragen haben. Die Regierung wollte und brauchte gute Beziehungen zu den USA und strebte zugleich möglichst großen Einfluss auf Afghanistan an. Als islamisches Land und und direkter Nachbar, der dort wie nirgendwo sonst mitmischen kann, bleibt Pakistan massiv daran interessiert, was und wer die Macht dort innehat. Und natürlich will Pakistan unbedingt verhindern, dass Indien eine größere Rolle zufällt.

Alles, was Pakistan treibt, erfüllt Indien mit tiefstem Misstrauen. Deshalb unterstützt Indien die afghanische Regierung unter Präsident Ashraf Ghani, die um ihr Überleben kämpft. Glauben Sie, dass sie sich halten kann?

So schnell, wie die Taliban vordringen – gerade haben sie Herat und Kandahar, die zweit- und drittgrößte Stadt erobert –, und so gering, wie der Widerstand der afghanischen Streitkräfte ausfällt, wäre es fast ein Wunder, wenn es nicht schon bald um die Macht in Kabul ginge. Präsident Ghani bleibt nur die Hoffnung, dass die Taliban, vielleicht um der internationalen Akzeptanz willen, doch noch die Macht teilen. Nur dann könnte die Vielmillionenstadt Kabul von einer militärischen Auseinandersetzung verschont bleiben.

Auch Iran ist ein wichtiger Faktor. Angeblich leben dort schon zweieinhalb Million Afghanen, Hunderttausende könnten bald folgen. Iran scheint sich damit abzufinden, dass die Taliban die Macht militärisch erobern. Gib es denn überhaupt eine Alternative?

In der Vergangenheit hat sich Iran dem Westen immer wieder als Partner angeboten, eben auch den USA. Iran hat kein Interesse an der Fortsetzung des Krieges durch einen Bürgerkrieg in Afghanistan. Nur wenn dort einigermaßen stabile Zustände herrschen, könnten Hunderttausende Flüchtlinge nach Afghanistan zurückkehren.

Sie sind Diplomat, Diplomaten suchen Kompromisse, wo es keine zu geben scheint. Was würden Sie für Afghanistan vorschlagen?

In Syrien sieht sich der Sicherheitsrat der Uno seit zehn Jahren nicht in der Lage, für Frieden zu sorgen. In Afghanistan könnte es anders sein, weil weder Indien noch Russland und schon gar nicht China Interesse an einem radikalislamischen Regime haben, weil die KP Auswirkungen auf die muslimischen Uiguren befürchten muss. Also könnte es sein, dass der Sicherheitsrat sich diesmal seiner weltpolitischen Aufgabe bewusst wird.

US-Diplomaten verhandelten in Doha mit Taliban-Abgesandten. Ging es ihnen nur darum, die Truppen heimzuholen, und haben sie sich zu wenig um die Zeit nach dem Abmarsch gekümmert?

Der Chefunterhändler Zalmay Khalilzad ist ein guter alter Bekannter von mir. Er stammt aus Afghanistan, ist mit einer Österreicherin verheiratet, seine Kinder sprechen Deutsch. Als Unterhändler habe ich Khalilzad nicht beneidet. Wie sollte er die Taliban zu einem Kompromiss zwingen, da doch die Grundentscheidung zum Abzug lange schon gefallen war? Uns lehrt dieser Vorgang nur eines: Verhandle nie aus einer Position der Schwäche!

Was könnte Deutschland, was Europa jetzt tun?

Nicht sehr viel. Mit anderen internationalen Akteuren könnten wir unsere künftige finanzielle Hilfe an Bedingungen knüpfen. Ob wir damit Eindruck auf die Taliban machen? Das wissen wir erst hinterher.

Welche Bedeutung schreiben Sie Afghanistan unter diesen Umständen weltpolitisch zu?

Der Fall Afghanistan manifestiert geostrategisch die aktuelle Schwäche des Westens. Westlessness? Das verheißt nichts Gutes für andere Konfliktzonen und wird illiberale Strömungen eher stärken. Deshalb ist Afghanistan ein Lackmustest für die Fähigkeit der gesamten internationalen Gemeinschaft, Konflikte zu regeln. In Syrien, im Jemen, in Libyen hat sie Krisenprävention und Krisenmanagement nicht unter Beweis gestellt, um es freundlich zu sagen. Es wäre ein erbärmliches Signal, wenn die Vereinten Nationen in Afghanistan erneut versagen würden.

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.

Der Beelzebub der Stunde

Irgendwie warten wir ja wohl alle darauf, dass der Wahlkampf richtig los geht und nicht mehr nur vor sich hin wabert. Momentan scheint die Frage zu sein, wie schmutzig er wird.

Einen Vorgeschmack gibt es gerade in zahlreichen deutschen Städten, in denen Schmähplakate gegen die Grünen hängen. Sie sind täuschend echt mit sämtlichen Accessoires versehen, nur dass die Sonnenblume den Kopf hängen lässt und solche Leitbegriffe darauf stehen: „Sozialismus. Bevormundung. Verbote.“

Na ja, eher oberlehrerhaft, könnte auch Christian Lindner gesagt haben. Dann steht da aber auch dieser Dreiklang: „Industrievernichtung. Arbeitsplatzvernichtung. Wohlstandsvernichtung.“ Das ist schon härter und das Echo fiel entsprechend aus: CDU und SPD solidarisierten sich umgehend mit den Grünen, den Leidtragenden dieser Kampagne.

Worum es geht, sagt ein anderer Dreiklang aus: „Totalitär. Sozialistisch. Heimatfeindlich.“ Diese Formel stammt aus dem Wehrmachtstornister der Rechten. Der Mann, der die Kampagne orchestriert, heißt David Bendels, war mal in der CSU, die ihm aber zu links war und als sie sich nicht auf selige Strauß-Zeiten („Freiheit oder Sozialismus“) zurückdrehen mochte, wandte er sich der AfD zu. Er nannte sie schon vor Jahren die einzig wählbare Partei und trat dankbar mit Alice Weidel und Alexander Gauland auf.

Bendels ist so was wie ein kleiner deutscher Steve Bannon. Er ist Chefredakteur des „Deutschland-Kurier“ und führt den „Verein zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“. Alles, was er macht, bezahlt er angeblich aus Spenden, aber das muss nicht die ganze Wahrheit sein. In 50 Städten Fake-Plakate kleben zu lassen, ist nicht nur logistisch anspruchsvoll, sondern auch teuer. Vielleicht hören wir da bald mehr.

Viele rechnen ja damit, dass der Hass, der das Netz vergiftet, direkt in die politische Arena schwappt und sie kontaminiert, wie es Donald Trump in Amerika vormachte. Sein Mephisto war damals Steve Bannon, der ihn zum Präsidenten machte, dann aber in Ungnade fiel und seither durch Europa tourt, um die hiesige nationale bis halbfaschistische Rechte zu großen Taten anzuspornen.

Leute wie Bannon und Trump machen keine halben Sachen, sie versuchen Gegner*innen zu zerstören, in den Wahnsinn zu treiben. Dafür ist ihnen kein Mittel zu schade und jeder recht, der sich anbietet. Bei uns gibt es manchmal Anklänge an solche Vorbilder, wie der Umgang der SPD mit Nathanael Liminski zeigt.

Liminski ist jung, 36 Jahre alt, und sehr katholisch. Vor allem aber ist er der Leiter der Staatskanzlei in Düsseldorf und für Armin Laschet eine wichtige Bezugsfigur. Wird Laschet Kanzler, dürfte Liminski ihn auch in Berlin privilegiert beraten.

Vor 14 Jahren, da war er 22, gab Liminski dem „Spiegel“ ein Interview, in dem er Abtreibungen ablehnte und von Homosexuellen sagte, manche täten ihm leid und die Ehe von Mann und Frau sei naturgegeben. Niemand hat ihn gefragt, ob er heute auch noch so denkt oder redet, aber die SPD hat ihm daraus einen Strick gedreht. Wer CDU wähle, wähle „erzkatholische Laschet-Vertraute, für die Sex vor der Ehe ein Tabu ist“, heißt es in einem Wahlkampfspot.

Ziemlich billig, aber eben auch ein abstoßendes Beispiel für negatives Campaigning, wie es im Neudeutschen heißt. Vielleicht fand die SPD die Idee, Laschet über Liminski zu treffen, besonders gelungen. Vielleicht war es aber auch nur ein dümmlicher Trugschluss, weil der geneigte Wähler jenseits von Düsseldorf kaum wissen dürfte, wer dieser Herr Liminski überhaupt ist. Außerdem könnte man ja professionell einwenden: Fällt euch, werte SPD, eigentlich nichts Intelligenteres gegen Armin Laschet ein?

Kann ja noch werden. Muss ja nicht so lau bleiben. Strengt euch mal an.

Wäre mehr los, wäre nicht halb Deutschland im Urlaub, dann wäre David Bendels auch nicht der Beelzebub der Stunde. Ich habe noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass Anfang September Ernst in die Diskussionen einzieht und es endlich um die Themen geht, die wirklich wichtig sind.

Dann ist der Schmutz à la Bendels/Bannon leichter erkennbar als das, was er ist: Schmutz.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der kleine Professor, ganz groß

Man nannte ihn den kleinen Professor und darin steckte die ganze Ambivalenz, die Kurt Biedenkopf wie eine Aura umgab. Er war klug wie wenige Professoren an den Universitäten und wenige Politiker. Und er konnte so arrogant auftreten, dass sich weniger Gebildete die Krätze ärgerten und ihm dann eben, wegen seiner napoleonischen Größe, abschätzig den kleinen Professor nannten.

Er hätte vieles sein können. In Amerika hatte er studiert und dorthin hätte er mit seiner Eloquenz und seiner Rhetorik bestens gepasst. Er arbeitete in der Wirtschaft, beim Henkel-Konzern, und hätte dort Karriere machen können. Er war promovierter Jurist und hätte als Wirtschaftsanwalt viel Geld verdienen können. Und in der Europäischen Union standen ihm ohnehin alle Türen offen.

Aber wie das so ist, mit diesen Vielfachbegabten, sie suchen sich genau das Feld aus, für das sie nicht prädestiniert sind. Darin liegt die Herausforderung ihres Lebens, ja ihr Lebenssinn. Also ging Kurt Biedenkopf in die Politik und nur sein Tagebuch, das er mehr für die Nachwelt als für sich führte, weiß genau, wie oft er diese Entscheidung bereute. Aber aufgeben gab es für ihn nicht. Scheitern war in seinem Eigenbild nicht vorgesehen. Die Welt würde am Ende schon merken, wer er war, und sich ihm fügen.

Biedenkopfs Nemesis war der gleichaltrige Helmut Kohl. Der holte ihn in die Politik, machte ihn zum Generalsekretär und zu seinem Vorzeige-Intellektuellen. Das ging gut, bis Biedenkopf ihn spüren ließ, wie wenig Kohl ihm geistig gewachsen war. Ein Fehler, ein typischer Fehler, eigentlich ein Anfängerfehler. Der angehende Kanzler ließ ihn fallen und verzieh ihm nie.

Was machte Biedenkopf? Er hätte seinen Ausflug in die Politik zum vorübergehenden Vergnügen erklären können. Er hätte nach Bochum, wo er zu den Stars der nagelneuen Universität zählte, zurückgehen können. So vieles stand ihm offen, aber nein, er entschied sich für die Ochsentour, suchte sich einen Wahlkreis im Ruhrgebiet, wurde CDU-Landesvorsitzender und drehte wie gewohnt das ganz große Rad, worüber seine Parteifreunde, im Großdenken ungeübt, nicht amüsiert waren.

Aus dem kleinen Professor wurde ein Musterbeispiel für jemanden, der recht hat, aber nicht recht bekommt. Die Landes-CDU war froh, ihn wieder los zu bekommen und drehte wieder das kleine Rad. Biedenkopf schrieb schlaue Bücher und sorgte im Alleingang dafür, dass er im Gespräch blieb. Er sah in sich Kanzler-Material, wie denn auch nicht. „Spiegel“ und „Zeit“ gaben ihm Gelegenheit, seine Sicht der Dinge auszubreiten. Der kleine Professor war immer ein Ereignis, das Wellen schlug.

Und dann kam die Wiedervereinigung. Und dann holte ihn die Weltgeschichte aus seinem Exil zurück. Und dann gaben ihm die Sachsen die Chance auf Rehabilitation. Sie wählten ihn 1990 zu ihrem Ministerpräsidenten. Er baute die absolute Mehrheit zweimal aus, was aus heutiger Sicht unvorstellbar ist. Nun endlich erntete er, was er eigentlich gar nicht gesät hatte.

Aus dem kleinen Professor wurde König Kurt. Er war beliebt, er sagte, was seine Untertanen dachten. Er renommierte weniger, er repräsentierte. Nun gut, Bundeskanzler wäre er lieber geworden, aber in Dresden freute er sich über das unverhoffte Glück der Wiederauferstehung.

12 Jahre lang blieb er König Kurt. Dann trat er zurück, umgeben von kleinen Affären, aber mehr noch, weil seine Zeit vorbei war.

Er zog sich an den Chiemsee zurück, zum Leben und zum Denken und zum Schreiben. Dort habe ich ihn besucht, sein Studierzimmer war ein eigener Seitenflügel des großen Hauses. Er las mir aus seinen Tagebüchern vor und sorgte mit Kommentaren fürs Verstehen der Zusammenhänge. In seiner Gegenwart schrumpfte nicht nur ich zum Studenten.

Kurt Biedenkopf blieb der Professor, der er von Gemüt und Charakter war. Einer der Großen im Betrieb der alten Republik und am Ende versöhnt mit dem Schicksal, das ihn in die Politik getrieben hatte.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Mein 13. August

Am Tag, als die Mauer gebaut wurde, war ich 11 Jahre alt und saß mit meinen Eltern und meinem Bruder im Wohnzimmer. Die Nachrichten des Tages hörten wir im Radio, einen Fernseher hatten wir nicht. Unser Untermieter war auch da, ein amerikanischer Zivilist, der oben auf der Radarstation arbeitete. Hof, meine Heimatstadt, besaß weltpolitisch strategische Bedeutung, denn sie lag nahe an der Grenze zur DDR (die damals das Pankower Regime oder Ulbrichts Regime hieß) und zur Tschechoslowakei. Unsere Besatzungsmacht Amerika lauschte tief in Feindesländer hinein. Hof stand die größte amerikanische Radarstation in Europa.

Meine Eltern hatten mit uns im Jahr zuvor das Haus in der Hügelstraße 33 bezogen, das sie gebaut hatten. Wir waren eine deutsche Nachkriegsvorzeigefamilie: VW Käfer, Urlaub auf dem Campingplatz in Italien, Haus gebaut, beide Kinder auf dem Gymnasium. Zur Finanzierung des Hauses trugen wechselnde Untermieter bei. Am liebsten waren uns die amerikanischen Soldaten oder Zivilisten, die uns sonntags mit auf die Base nahmen und immer lustig waren. Der Untermieter, der am 13. August bei uns saß, gehörte dem CIA an, wie wir herausfanden, nachdem er einen schweren Unfall hatte und sofort nach Ramstein ausgeflogen wurde. In seinem Wagen hatte er eine Halterung für das Whiskyglas angebracht, damit er nicht trocken in die Hügelstraße fahren musste.

Ich weiß nicht mehr, wie unser Untermieter hieß, aber er ist mir wegen des Dialogs im Gedächtnis geblieben, der sich zwischen meinem Vater und ihm entspann. Meine Vater sagte: „Und wenn es Krieg gibt, dann nimmst du den Friedel mit rüber in die USA, bitte!“ Friedel war mein Bruder, fünf Jahre älter, und er würde also weggehen, so viel verstand ich, als ich wie betäubt zuhörte. Meinen Bruder wollte mein Vater vor dem Krieg verschonen. Irgendwo in den Weiten Amerikas würde er leben, Englisch lernen, ein Ami werden und nie wieder zurückkommen. Ich aber würde dem Krieg, von dem mein Vater ja offensichtlich wusste, dass er kam, nicht verschont bleiben. Ich würde hier bleiben, in Hof, und mein Schicksal abwarten. Ich wusste nicht, was Krieg war, wie sollte ich auch. Aber er musste furchtbar sein, wenn mein Bruder deswegen gerettet werden musste.

Ich wollte schreien: Und warum darf ich nicht mit? Warum soll ich hier bleiben? Aber natürlich schrie ich nur nach innen, war betäubt, hatte Angst. Krieg. Amerika. Mitnehmen. Ich wusste in diesem Moment ganz sicher, dass die Weltgeschichte, die in Berlin eine Mauer baute, nichts Gutes mit mir im Sinn hatte.

Der Krieg war am 13. August ziemlich genau 16 Jahre vorbei. Mein Vater war doppelbeinamputiert. Was ein Wort: doppelbeinamputiert. Bürokratisch gebanntes Leiden. Der Krieg steckte ihm in den Knochen, wie man so schön sagt, nur dass die Knochen zehn Zentimeter unterhalb beider Knie abgesägt worden waren. Mein Vater war ein Bauernsohn. Er jammerte nie. Er trug seine Prothesen. Mit ihnen tanzte er, fuhr Auto, und manchmal waren die Knochen wund vom Laufen und Tanzen.

Heute kann ich mir gut vorstellen, was in ihm vorging, als er von den Berliner Vorgängen hörte. Er war der ältere von zwei Brüdern gewesen. Jetzt wollte er seinen Älteren retten. Wegschicken. In die Sicherheit ausfliegen. Für dieses Abenteuer war ich zu klein. Ich kam für die Rettungsaktion nicht in Frage. Ich musste in der Hügelstraße ausharren. Außerdem konnte der ESV Hof nicht auf seinen Linksaußen verzichten, tröstete ich mich. Krieg hin, Krieg her, wichtiger war für mich der Fußball.

Später habe ich viel über die Ereignisse hinter den Ereignissen gelesen. Chrustschows bäuerliche Auftritte in der Uno. Seine ständigen Drohungen, die Serie an Berlin-Krisen in den fünfziger Jahren. Der schlaue, uralte Adenauer. Der junge kranke JFK, kaltblütig und klug. In die Schweinebucht hatten ihn die Generale getrieben. Nie wieder würde er auf sie hören. Die Zivilisten regierten im Weißen Haus, The Best and the Brightest, wie David Halberstan später schrieb.

Dass ich Geschichte studierte und mich immer wieder für Geschichte interessierte, hat mit Hof zu tun, der weltpolitisch relevanten Stadt in Nordostoberfranken. Mit unserem Untermieter und der Radarstation. Mit dem 13. August 1961, als nicht nur Berlin geteilt war, sondern ganz Deutschland. Und natürlich mit dem ESV Hof, mit dem ich 1962 oberfränkischer Vizemeister wurde (nur Vizemeister, denn der Schiedsrichter, diese Pflaume, brachte uns um den Sieg).

Nichts davon kommt überraschend

In Afghanistan haben die Taliban eine Großoffensive gestartet und erobern im Westen, Südwesten und Norden Provinz auf Provinz und Hauptstadt auf Hauptstadt. Nimrus oder Tachar sagen uns Deutschen nicht viel, aber Kundus ist uns ein Begriff, denn dort war die Bundeswehr stationiert.

In diesem Handelszentrum, das auch ein Hauptumschlagplatz für den Drogenhandel ist, haben die Taliban jetzt die Macht übernommen und werden dort so vorgehen, wie sie überall vorgehen: Rache üben an Menschen, die im Sold des Westen standen; Schulen schließen, in die Mädchen gingen; ihren steinalten Islam zum Gesetz erheben; hängen oder erschießen, wer immer sich gegen sie auflehnt oder erhebt oder auch nur Missfallen äußert.

Nichts davon ist eine Überraschung. Es kommt, wie es kommen musste. Der Westen geht und die Führung der Taliban kommt aus dem pakistanischen Exil in Quetta zurück. Die Taliban übernehmen das Land wieder, das der Westen ihm nach den Anschlägen auf Amerika am 11. September 2001 abgejagt hatte, weil sie Osama bin Laden beherbergten.

Das deutsche Interesse an Afghanistan war immer lau. Dass dort am Hindukusch unsere Sicherheit verteidigt wird, hat ein Verteidigungsminister behauptet, um den Einsatz zu rechtfertigen. Er hieß Peter Struck, er meinte es ernst, auch wenn der Satz heute fast skurril wirkt. Sein Nachfolger, er hieß Franz Josef Jung, verbat sich, dass der Krieg Krieg genannt wurde; er stufte ihn zum Konflikt herab. Auch sehr komisch. In diesem Krieg, der keiner sein durfte, starben 59 deutsche Soldaten.

Auch jetzt wieder, da die Taliban nach Kandahar und Herat auch Kundus unterwarfen, herrscht im Westen große Verlegenheit, in der das Schweigen dröhnt. Aber was sollten sie auch sagen, Joe Biden oder Boris Johnson oder Angela Merkel?

Immerhin meldete sich ein deutscher Politiker zu Wort und allein diesen Umstand muss man ihm hoch anrechnen. Es ist Norbert Röttgen, der gerne geworden wäre, was Armin Laschet ist, nämlich CDU-Vorsitzender. In der Außenpolitik besitzt er Autorität.

Was sich momentan in Afghanistan ereignet, nennt Röttgen ein Desaster, womit er zweifellos Recht hat. Er sagt auch, der Westen dürfe nicht zulassen, dass die Taliban militärisch Fakten schaffen, da dann die Aussicht auf eine politische Lösung schrumpfe. Und er appelliert an Joe Biden, den Vormarsch der Taliban zu stoppen – militärisch, mit europäischer Unterstützung, auch der Bundeswehr.

Na ja, die Verzweiflung darüber, was in Afghanistan seinen Lauf nimmt, verstehe ich nur zu gut. In Kundus gibt es weder Wasser noch Strom. Leidtragende sind wie immer die Zivilisten. Im Fernsehen sind Schreckensbilder zu sehen, die an Syrien erinnern. Grausam. Trostlos. Aussichtslos.

Aber niemand kann ernsthaft glauben, dass sich die Uhr zurückdrehen lässt. 20 Jahre lang standen westliche Soldaten im Land. Milliarden Dollar flossen in Ausrüstung und Ausbildung von Armee und Polizei. US-Diplomaten verhandelten jahrelang mit den Taliban über die Bedingungen eines Abzugs. Die Taliban ließen sich auf keinerlei Kompromiss ein: keine Machtteilung mit der Regierung in Kabul, keine politische Lösung.

Sie wussten, dass der Westen raus will aus Afghanistan. So warteten sie ab und gehen nun militärisch vor. Die Gewalt, die aus den Gewehrläufen kommt, ist ihr Lebenselixier. Auch US-Bomben- oder Drohnenangriffe werden sie nicht davon abhalten, das Land systematisch zu erobern. Wann sie Kabul, die Hauptstadt, einnehmen werden, ist nur eine Frage der Zeit.

Die Taliban sind wie die Vietcong: an Entsagung gewöhnt, militärisch beispielhaft diszipliniert, erfindungsreich in der militärischen Unterlegenheit,  von ihrem Sieg bis zur Selbstaufgabe überzeugt.

Afghanistan ist ein hartes, sperriges, atavistisches Land, an dem noch jeder Eroberer gescheitert ist. Amerika, Vietnam im Gedächtnis, hätte wissen können, wie auch diese Expedition enden würde.

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Zwei Kandidaten für Kleinkleckerland

Die eine Hälfte Deutschlands, der Norden, war weg und kehrt nun heim. Was findet er vor? Ein gepeinigtes Land, das Sintflut und Tod erlitt. Auch ein unlustiges Land, das am zukünftigen Kanzler mit seiner Gabe zum Verheddern keinen Spaß hat. Die andere Hälfte, der Süden, macht sich jetzt auf und kommt dann wieder, wenn die Pandemie wahrscheinlich wieder in Blüte steht.

Die vierte Welle also. Ist halt so. Ist wohl unvermeidlich. Ist vielleicht auch weniger schlimm oder gar tödlich wie Welle 2 oder 3. Wäre vermutlich weniger bedrohlich, wäre das Impfen nicht ins Stocken geraten. Die Frage ist jetzt, was das bedeutet und wie es sich ändern lässt.

Einige Konsequenzen sind ja schon ausgeschlossen worden. Impfpflicht traut sich niemand zu fordern, wäre vielleicht auch rechtlich anfechtbar. Nur mit den Schultern zu zucken, was soll man machen, ist aber auch keine Lösung. Besser hört sich an, fürs Impfen zu werben, indem jeder, der will, einfach ins Impfzentrum spazieren kann, ohne Termin. Und wenn die Menschen nicht ins Zentrum kommen, kann ja das Zentrum zum Menschen kommen: Vielleicht raffen sich dann Menschen, die zu scheu oder zu träge für längere Wege sind, zum Impfen im eigenen Kiez auf, weil sie ja eigentlich nicht grundsätzlich dagegen sind.

Die anderen erreichen weder Werbung noch Bedrohung. Querdenker waren gestern und vorgestern in Berlin unterwegs. Im Konvoi fuhren etwa 100 Autos durch die Stadt. Aus dem Lautsprecher erklangen lockere Sätze vom faschistischen Staat und von den medial verheimlichten Toten durch Impfung. Ehrlich jetzt? Man hört zu, wundert sich und die kalte Wut steigt auf.

Den Wahlkampf hat die vierte Welle noch nicht erreicht. Dass nunmehr wieder Testpflicht für diejenigen Urlauber herrscht, die weder Corona hatten noch doppelt geimpft ist, ist offenbar ohne Streitpotential. Momentan findet ohnehin nichts statt, was den Namen Wahlkampf verdient hätte. Über ihn wird vorrangig geredet und da ging wiederum Markus Söder zuerst im „Spiegel“ und dann im ZDF voran. Er sagte, wie er ist, der Wahlkampf, und wie er sein müsste. Klare Kante, Angriff, basta – eben södermäßig.

Wie immer hat er einerseits Recht und andererseits muss er uns unbedingt beweisen, wie gut er ist – sicher das Urteil, blendend die Rhetorik, die eigentlich nur der mittelfränkische Singsang trübt. Günstig der Kontrast, versteht sich, zu Armin Laschet, der am Sonntag zuvor im ZDF einen kraftlosen Auftritt hingelegt hatte und sich kurz auch noch darauf bezichtigte, in seinem Buch, geschrieben vor 12 Jahren, eine Quelle ungenügend benannt zu haben.

Ach jemine, so weit sind wir schon. Die eine, Annalena Baerbock, ist wirklich beim Abkupfern erwischt worden und entschuldigt sich im „Tagesspiegel“ erneut hingebungsvoll. Und der andere, Laschet, bekommt das große Muffensausen, dass ihn der Plagiatsjäger entlarven könnte, was der aber in richtiger Einschätzung der Sache gar nicht will.

Nur mal so zur Erinnerung: Es handelt sich um Deutschland, das die beiden regieren wollen, nicht um Kleinkleckerland.

Wie geht’s weiter? Grasen wir das Terrain ab.

  1. Die Unzufriedenheit mit dem Kandidaten Laschet wird bleiben. Hat er Glück, geht sie in Apathie über, denn dass er Kanzler wird, scheint unvermeidlich zu sein. Weiß auch Söder.
  2. Annalena Baerbock hat das stolze Reden eingestellt, dass sie Kanzlerin werden möchte. Vorerst. Denn der unausgesprochene Verzicht auf den Hochsitz hilft ihr nicht weiter, weil sie Gefangene ihres Anspruch ist. Die Konkurrenz würde ihr sofort vorhalten: Siehst, du traust dich nicht, unerfahren wie du bist. Also muss sie ihr Lied wieder singen: Ich will es und ich kann es.
  3. Die Kluft zwischen Geimpften und mutwillig Ungeimpften wird rechtzeitig vor der Wahl zunehmen. In Klubs oder Fußballstadien, in Kinos oder Restaurants werden sie die Geimpften vorziehen, was denn sonst. Selbst  Getestete dürften dann als unsichere Gesellen gelten, weil sie morgen Corona haben können, auch wenn sie heute negativ sind. Und warum sollte jemand dieses Risiko eingehen und sie einlassen?
  4. Die Pandemie bleibt ein großes Wahlkampfthema. Die Qualität des zukünftigen Personals auch. Steuern rauf oder runter – bietet sich als Reizthema immer an. Sanfter oder radikaler Wandel beim Klimawandel, das ist die Frage, an der sich entscheidet, wie die Stimmung im Lande ist – und wer regieren darf.

Nichts ist schon gebacken. Überraschungen sind jederzeit möglich. 55 Pandemietage sind es noch bis zur Wahl, eine Ewigkeit. 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.