t-online: Herr Ischinger, systematisch erobern die Taliban das Land zurück, aus dem sie vor 20 Jahren durch die Intervention des Westens vertrieben worden waren. Überrascht Sie die Schnelligkeit des Vormarsches?
Ischinger: Ja, denn ich hatte mit größerer Widerstandskraft gerechnet. Die afghanischen Streitkräfte sind ja gut ausgebildet und ausgerüstet. Aber die Taliban sind von einem tiefreligiösen Glauben bewegt, für den sie auch zu sterben bereit sind. Diese Bereitschaft unterscheidet sie von den Truppen der Regierung, denen es eher um den Sold geht und nicht um die Religion.
Mehrere Richterinnen und Journalistinnen töteten die Taliban in den letzten Tagen, auch einen landesweit bekannten Comedian. Sie verhalten sich genau so repressiv und grausam wie vor 20 Jahren. Muss Afghanistan mit dem Schlimmsten rechnen?
In der Sicherheitspolitik ist es immer richtig und sogar vernünftig, vom schlimmsten Fall auszugehen. Ich wäre angenehm überrascht, wenn die Taliban plötzlich zur Teilung der Macht bereit wären und zu einer maßvollen Politik.
Offensichtlich wollen die Taliban die Spuren von 20 Jahren Fremdherrschaft tilgen, wozu die Bestrafung der Menschen gehört, die für Amerikaner oder Kanadier oder Deutsche arbeiteten. Hat sich der Westen zu wenig um Fahrer, Übersetzer oder Sicherheitskräfte gekümmert?
Gerade wir Deutschen saßen und sitzen ja besonders gern auf dem hohen Roß und halten es in der Außenpolitik mit der Moral. Deshalb steht es uns nicht gut zu Gesicht, wenn wir nicht sämtliche örtliche Hilfskräften in Sicherheit bringen. Sonst sind sie in Todesgefahr, kein Zweifel.
Auf Afghanistan nehmen jetzt wieder die Nachbarn Einfluss, allen voran der ISI, der pakistanische Geheimdienst, der immer sein eigenes Spiel spielte: Einerseits unterstützte er den Westen nach 9/11, andererseits fanden die Taliban in Quetta Asyl und Osama bin Laden in Abbottabad. Was verspricht sich Pakistan jetzt von den Taliban?
Es ist einfach wahr, dass Pakistan und vor allem sein Geheimdienst immer auf zwei Schultern getragen haben. Die Regierung wollte und brauchte gute Beziehungen zu den USA und strebte zugleich möglichst großen Einfluss auf Afghanistan an. Als islamisches Land und und direkter Nachbar, der dort wie nirgendwo sonst mitmischen kann, bleibt Pakistan massiv daran interessiert, was und wer die Macht dort innehat. Und natürlich will Pakistan unbedingt verhindern, dass Indien eine größere Rolle zufällt.
Alles, was Pakistan treibt, erfüllt Indien mit tiefstem Misstrauen. Deshalb unterstützt Indien die afghanische Regierung unter Präsident Ashraf Ghani, die um ihr Überleben kämpft. Glauben Sie, dass sie sich halten kann?
So schnell, wie die Taliban vordringen – gerade haben sie Herat und Kandahar, die zweit- und drittgrößte Stadt erobert –, und so gering, wie der Widerstand der afghanischen Streitkräfte ausfällt, wäre es fast ein Wunder, wenn es nicht schon bald um die Macht in Kabul ginge. Präsident Ghani bleibt nur die Hoffnung, dass die Taliban, vielleicht um der internationalen Akzeptanz willen, doch noch die Macht teilen. Nur dann könnte die Vielmillionenstadt Kabul von einer militärischen Auseinandersetzung verschont bleiben.
Auch Iran ist ein wichtiger Faktor. Angeblich leben dort schon zweieinhalb Million Afghanen, Hunderttausende könnten bald folgen. Iran scheint sich damit abzufinden, dass die Taliban die Macht militärisch erobern. Gib es denn überhaupt eine Alternative?
In der Vergangenheit hat sich Iran dem Westen immer wieder als Partner angeboten, eben auch den USA. Iran hat kein Interesse an der Fortsetzung des Krieges durch einen Bürgerkrieg in Afghanistan. Nur wenn dort einigermaßen stabile Zustände herrschen, könnten Hunderttausende Flüchtlinge nach Afghanistan zurückkehren.
Sie sind Diplomat, Diplomaten suchen Kompromisse, wo es keine zu geben scheint. Was würden Sie für Afghanistan vorschlagen?
In Syrien sieht sich der Sicherheitsrat der Uno seit zehn Jahren nicht in der Lage, für Frieden zu sorgen. In Afghanistan könnte es anders sein, weil weder Indien noch Russland und schon gar nicht China Interesse an einem radikalislamischen Regime haben, weil die KP Auswirkungen auf die muslimischen Uiguren befürchten muss. Also könnte es sein, dass der Sicherheitsrat sich diesmal seiner weltpolitischen Aufgabe bewusst wird.
US-Diplomaten verhandelten in Doha mit Taliban-Abgesandten. Ging es ihnen nur darum, die Truppen heimzuholen, und haben sie sich zu wenig um die Zeit nach dem Abmarsch gekümmert?
Der Chefunterhändler Zalmay Khalilzad ist ein guter alter Bekannter von mir. Er stammt aus Afghanistan, ist mit einer Österreicherin verheiratet, seine Kinder sprechen Deutsch. Als Unterhändler habe ich Khalilzad nicht beneidet. Wie sollte er die Taliban zu einem Kompromiss zwingen, da doch die Grundentscheidung zum Abzug lange schon gefallen war? Uns lehrt dieser Vorgang nur eines: Verhandle nie aus einer Position der Schwäche!
Was könnte Deutschland, was Europa jetzt tun?
Nicht sehr viel. Mit anderen internationalen Akteuren könnten wir unsere künftige finanzielle Hilfe an Bedingungen knüpfen. Ob wir damit Eindruck auf die Taliban machen? Das wissen wir erst hinterher.
Welche Bedeutung schreiben Sie Afghanistan unter diesen Umständen weltpolitisch zu?
Der Fall Afghanistan manifestiert geostrategisch die aktuelle Schwäche des Westens. Westlessness? Das verheißt nichts Gutes für andere Konfliktzonen und wird illiberale Strömungen eher stärken. Deshalb ist Afghanistan ein Lackmustest für die Fähigkeit der gesamten internationalen Gemeinschaft, Konflikte zu regeln. In Syrien, im Jemen, in Libyen hat sie Krisenprävention und Krisenmanagement nicht unter Beweis gestellt, um es freundlich zu sagen. Es wäre ein erbärmliches Signal, wenn die Vereinten Nationen in Afghanistan erneut versagen würden.
Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online.de, gestern.