Mein 13. August

Am Tag, als die Mauer gebaut wurde, war ich 11 Jahre alt und saß mit meinen Eltern und meinem Bruder im Wohnzimmer. Die Nachrichten des Tages hörten wir im Radio, einen Fernseher hatten wir nicht. Unser Untermieter war auch da, ein amerikanischer Zivilist, der oben auf der Radarstation arbeitete. Hof, meine Heimatstadt, besaß weltpolitisch strategische Bedeutung, denn sie lag nahe an der Grenze zur DDR (die damals das Pankower Regime oder Ulbrichts Regime hieß) und zur Tschechoslowakei. Unsere Besatzungsmacht Amerika lauschte tief in Feindesländer hinein. Hof stand die größte amerikanische Radarstation in Europa.

Meine Eltern hatten mit uns im Jahr zuvor das Haus in der Hügelstraße 33 bezogen, das sie gebaut hatten. Wir waren eine deutsche Nachkriegsvorzeigefamilie: VW Käfer, Urlaub auf dem Campingplatz in Italien, Haus gebaut, beide Kinder auf dem Gymnasium. Zur Finanzierung des Hauses trugen wechselnde Untermieter bei. Am liebsten waren uns die amerikanischen Soldaten oder Zivilisten, die uns sonntags mit auf die Base nahmen und immer lustig waren. Der Untermieter, der am 13. August bei uns saß, gehörte dem CIA an, wie wir herausfanden, nachdem er einen schweren Unfall hatte und sofort nach Ramstein ausgeflogen wurde. In seinem Wagen hatte er eine Halterung für das Whiskyglas angebracht, damit er nicht trocken in die Hügelstraße fahren musste.

Ich weiß nicht mehr, wie unser Untermieter hieß, aber er ist mir wegen des Dialogs im Gedächtnis geblieben, der sich zwischen meinem Vater und ihm entspann. Meine Vater sagte: „Und wenn es Krieg gibt, dann nimmst du den Friedel mit rüber in die USA, bitte!“ Friedel war mein Bruder, fünf Jahre älter, und er würde also weggehen, so viel verstand ich, als ich wie betäubt zuhörte. Meinen Bruder wollte mein Vater vor dem Krieg verschonen. Irgendwo in den Weiten Amerikas würde er leben, Englisch lernen, ein Ami werden und nie wieder zurückkommen. Ich aber würde dem Krieg, von dem mein Vater ja offensichtlich wusste, dass er kam, nicht verschont bleiben. Ich würde hier bleiben, in Hof, und mein Schicksal abwarten. Ich wusste nicht, was Krieg war, wie sollte ich auch. Aber er musste furchtbar sein, wenn mein Bruder deswegen gerettet werden musste.

Ich wollte schreien: Und warum darf ich nicht mit? Warum soll ich hier bleiben? Aber natürlich schrie ich nur nach innen, war betäubt, hatte Angst. Krieg. Amerika. Mitnehmen. Ich wusste in diesem Moment ganz sicher, dass die Weltgeschichte, die in Berlin eine Mauer baute, nichts Gutes mit mir im Sinn hatte.

Der Krieg war am 13. August ziemlich genau 16 Jahre vorbei. Mein Vater war doppelbeinamputiert. Was ein Wort: doppelbeinamputiert. Bürokratisch gebanntes Leiden. Der Krieg steckte ihm in den Knochen, wie man so schön sagt, nur dass die Knochen zehn Zentimeter unterhalb beider Knie abgesägt worden waren. Mein Vater war ein Bauernsohn. Er jammerte nie. Er trug seine Prothesen. Mit ihnen tanzte er, fuhr Auto, und manchmal waren die Knochen wund vom Laufen und Tanzen.

Heute kann ich mir gut vorstellen, was in ihm vorging, als er von den Berliner Vorgängen hörte. Er war der ältere von zwei Brüdern gewesen. Jetzt wollte er seinen Älteren retten. Wegschicken. In die Sicherheit ausfliegen. Für dieses Abenteuer war ich zu klein. Ich kam für die Rettungsaktion nicht in Frage. Ich musste in der Hügelstraße ausharren. Außerdem konnte der ESV Hof nicht auf seinen Linksaußen verzichten, tröstete ich mich. Krieg hin, Krieg her, wichtiger war für mich der Fußball.

Später habe ich viel über die Ereignisse hinter den Ereignissen gelesen. Chrustschows bäuerliche Auftritte in der Uno. Seine ständigen Drohungen, die Serie an Berlin-Krisen in den fünfziger Jahren. Der schlaue, uralte Adenauer. Der junge kranke JFK, kaltblütig und klug. In die Schweinebucht hatten ihn die Generale getrieben. Nie wieder würde er auf sie hören. Die Zivilisten regierten im Weißen Haus, The Best and the Brightest, wie David Halberstan später schrieb.

Dass ich Geschichte studierte und mich immer wieder für Geschichte interessierte, hat mit Hof zu tun, der weltpolitisch relevanten Stadt in Nordostoberfranken. Mit unserem Untermieter und der Radarstation. Mit dem 13. August 1961, als nicht nur Berlin geteilt war, sondern ganz Deutschland. Und natürlich mit dem ESV Hof, mit dem ich 1962 oberfränkischer Vizemeister wurde (nur Vizemeister, denn der Schiedsrichter, diese Pflaume, brachte uns um den Sieg).