„Bloss nicht zündeln!“

Wolfgang Ischinger ist ein deutscher Diplomat und leitete jahrelang die Münchner Sicherheitskonferenz. Heute sitzt er deren Stiftung vor.

t-online: Herr Ischinger, offenbar sind viele Vermittler im Nahen Osten unterwegs, allen voran der US-Außenminister Tony Blinken, um eine Ausweitung des Krieges im Gaza auf die ganze Region zu verhindern. Haben Sie den Eindruck, der Versuch gelingt?

Ischinger: Das hoffe ich sehr, denn eine Ausweitung wäre eine militärische und humanitäre Katastrophe. Schon jetzt handelt es sich um eine gefährliche Krise, die sich global auswirkt. Denn nicht nur im Verhältnis zwischen Palästinensern und Israelis ist ein Tiefpunkt erreicht, sondern auch die westliche Iran-Politik und Nahost-Politik liegt blank. 

Was kann zum Beispiel die Hisbollah daran hindern, eine zweite Front zu eröffnen?

Erstens hoffentlich die Abschreckung durch die Präsenz der US-Marine in der Region und zweitens hoffentlich der iranische Einfluss, denn Iran kann aktuell eigentlich nicht an einem großen Krieg gelegen sein. Aber sicher kann man sich da nicht sein, denn Hass ist stärker als Vernunft.

Iran ist die entscheidende Macht, die Hamas und Hisbollah in jeder Hinsicht alimentiert. Haben Sie den Eindruck, dass es Versuche gibt, mit dem Regime in Teheran zu reden?

Natürlich gibt es solche Versuche. Die USA waren gerade auf gutem Wege, mit Iran einen Kompromiss über die Begrenzung und Überwachung des Atomprogramms auszuhandeln. Dazu gab und gibt es viele Gespräche, aber natürlich auch zwischen Iran und anderen Mächten wie Russland und China.

Welche Botschaft sollte Iran mitgeteilt werden?

Bloß nicht zündeln! Wenn Iran in dieser Lage Zurückhaltung und Verantwortungsbereitschaft zeigen sollte, könnten unter Umständen einige Sanktionen in der Folge erleichtert werden. Mir fehlt allerdings, was die Mullahs anbelangt, der Glaube an der Bereitschaft zur Mäßigung.

Welches Land könnte am ehesten in Teheran Gehör finden

China hat es geschafft, Iran und Saudi-Arabien zum Händeschütteln zu bewegen; darauf lässt sich aufbauen. Die USA besitzen die Sanktionswaffe. Wir Europäer haben nichts.

Was kann Diplomatie in Zeiten von Krieg eigentlich erreichen?

Diplomatie kann auch schon im Krieg eine wichtige Rolle übernehmen. Aber um Krieg führende Parteien zum Frieden zu bewegen, reicht Diplomatie allein oft nicht aus. Konfliktdiplomatie ohne militärische Machtoption bleibt meistens ein zahnloser Tiger. Das wollten wir in Deutschland mit unserer Vorliebe für „Frieden schaffen ohne Waffen“ allzu lange nicht wahrhaben. 

Wie lässt sich Vertrauen aufbauen, wenn doch Hass und Rachsucht überwiegen?

Vertrauen, so sagt man unter Diplomaten, ist die Währung der Diplomatie. Vertrauen ist leicht zu verlieren – siehe Putins Lügengespinst um den Großangriff auf die Ukraine. Vertrauen ist nur sehr schwer zurück zu gewinnen und dauert oft Jahre. Mein Rezept für Unterhändler lautet so: Ganz klein anfangen. Der Getreide-Deal wäre ein guter Beitrag für Vertrauensbildung gewesen, wenn Russland ihn dauerhaft respektiert hätte.

Wie kann Vertrauen entstehen, wenn doch Misstrauen aus Erfahrung tief verwurzelt ist?

In der Rüstungskontrollpolitik sagt man: Vertraut nicht, verifiziert! Das konkrete Handeln muss überprüft werden, zum Beispiel mit Satellitendaten. Daraus kann das Pflänzchen Vertrauen erwachsen. Doch das ist mühsam und langwierig.

Sie haben Erfahrung im Umgang mit Mächten im Krieg. Was würden Sie Ihren Kollegen heute empfehlen?

Wir haben bei früheren Konflikten gute Erfahrungen mit Kontaktgruppen aus mehreren respektablen Ländern gemacht. Ich empfehle dringend, sowohl im Fall der Ukraine wie im Nahen Osten, die Bildung einer solchen Gruppe – zum ersten Mal unter Beteiligung Chinas. China will nicht mehr vom Spielfeldrand zuschauen, soviel ist klar.

Welche Länder, welche Diplomaten betrachten sowohl Israel als auch Hamas als respektable Vermittler?

Jedenfalls leider nicht die in sich zerstrittene Europäische Union und auch dem Uno-Generalsekretär verfügt wegen des dysfunktionalen Sicherheitsrates nicht über die notwendige Glaubwürdigkeit und Autorität, jedenfalls nicht in Israel. Als Vermittler kommen die USA wegen ihrer militärischen Präsenz in der Region in Frage, aber eben auch eventuell China. Russland und die Türkei würden gerne eine hervorgehobene Rolle übernehmen, geniessen aber weder in Israel noch im Westen das nötige Vertrauen. Europa? Fehlanzeige.

Uno-Generalsekretär António Guterres hat einen humanitären Waffenstillstand empfohlen. Auf welcher Grundlage fusst sein Vorschlag?

Gegen eine Feuerpause aus humanitären Gründen ist eigentlich nichts einzuwenden. Aber sowohl für Gaza als auch für den Donbass gilt: Wer verhindert dann den Nachschub an Soldaten in der Ukraine und Terroristen im Gaza? Wer verhindert den Nachschub mit Waffen und Munition? Was wäre gewonnen, wenn nach der Feuerpause der Krieg umso erbitterter geführt wird und umso länger dauert? Nichts wäre gewonnen

Dass die Europäische Union einen erbärmlichen Eindruck hinterlässt, gilt als ausgemacht. Warum entsteht fast zwangsläufig dieses Bild in Krisen und Kriegen?

Weil sich die EU nicht vom Prinzip der Einstimmigkeit verabschieden konnte. Sie verhandelt in grotesker Kleinstaaterei wie im 19. Jahrhundert. Wir brauchen neben der wirtschaftlichen Integration, eine zweite Idee für Europa – ein Europa, das schützt, wie Emmanuel Macron sagt, ein wehrhaftes Europa.

Ob sich der Krieg im Gaza zu einem großen Krieg ausweitet, hängt auch von der erwarteten Bodenoffensive ab. Momentan bleibt sie aus, weil die Hamas immer mal einige wenige Geiseln freilässt.

So ist es, aber vielleicht ist die Bodenoffensive gar nicht im strategischen Interesse Israels, denn militärisch könnte es in die Falle der Hamas tappen. Die Hamas hofft auf möglichst blutige Bilder aus Gaza, das ist nach dem genozidartigen Terror am 7. Oktober natürlich der Gipfel des Zynismus. Vergeltung allein aber macht noch keinen strategischen Sieg aus. Die Führung der Hamas kann vielleicht liquidiert werden, aber der Hydra wachsen sicherlich neue Köpfe, wenn dem Krieg kein politisches Konzept folgt.

Die Hamas kann noch wochenlang immer einige wenige Geiseln freigeben. Wie lange, glauben Sie, macht Israel dieses Geduldsspiel noch mit?

Hoffentlich so lange, bis alle Geiseln frei sind. Mir ist sehr wohl bewusst, wieviel Mäßigung und Zurückhaltung Israel abverlangt wird, fast zu viel. Das alles ist nach dem Hamas-Massaker vor allem für die Angehörigen der zahllosen Terror-Opfer unendlich bitter.

Reichen die täglichen Luftschläge im Gaza, die Zerstörung der Tunnels und die Tötung von Hamas-Kommandeuren als Vergeltung für den Mord an so vielen israelischen Zivilsten aus?

Nichts, aber auch gar nicht reicht aus, um Vergeltung zu üben. Aber bestimmte Maßnahmen wie die Zerstörung des Tunnelsystems sind vermutlich zwingend notwendig, um die Wiederholung eines solchen Massenmordes zu verhindern. Israel darf, kann und muss seine Bevölkerung schützen. Da gibt es nichts zu relativieren. Dem Argument, dass sich Israel nicht an Uno-Resolutionen gehalten hat, ist entgegenzuhalten, dass Terror-Organisationen wie die Hamas die totale Auslöschung Israels zum Ziel haben. Mit Terroristen verhandelt man nicht. Eine Ausnahme kann es allenfalls zum Zweck der Befreiung der Geiseln geben.

In Amerika kursiert der Vorschlag, dass Israel die Bodenoffensive mit dem Vorschlag zur Rückkehr über die Zwei-Staaten-Lösung begleiten sollte. Eine gute Idee?

Wann wäre ein klug gewählter Zeitpunkt für einen neuen Friedensplan? Im Prinzip je früher dest besser. Aber mit schnellem Vorpreschen ist niemandem gedient. Ein Friedensplan muss sehr sorgfältig mit vielen Akteuren abgestimmt sein, wenn daraus kein Rohrkrepierer hervorgehen soll. Denn was am 7. Oktober 2023 geschehen ist, so hat es Richard Chaim Schneider geschrieben, erschüttert Israel grundsätzlicher und nachhaltiger als alles, was Juden seit 1945 widerfahren ist. Schlagartig macht sich wieder das Gefühl der Schutzlosigkeit breit. 

Benjamin Netanjahu macht sich den Vorschlag wohl kaum zu eigen. Wer dann?

Ob Netanjahu diesen Epochenbruch übersteht, bleibt abzuwarten. Viele Israelis machen ihn persönlich dafür verantwortlich dass er mehr an den Erhalt seiner Macht als an die Zukunft seines Landes gedacht hat.

Wie beurteilen Sie das Verhalten des amerikanischen Präsidenten Joe Biden in diesen Tagen?

Fehlerlos. Gottseidank haben wir in Joe Biden einen erfahrenen Kenner des Nahen Ostens und Europas. Kein Anzeichen von Senilität! 

Im Irak, im Libanon und in Syrien hat sich der amerikanische Einfluss dezimiert. Wie viel Gewicht bleibt den USA im Nahen Osten?

Immer noch sehr viel. Im Falle des Falles wären die USA die einzige Macht in der Region, die militärische glaubwürdig abschrecken und intervenieren könnte. Russland ist wegen des verfehlten Krieges gegen die Ukraine militärisch geschwächt und politisch angeschlagen.

Zugleich bleibt Amerika in alten Konfliktzonen gefangen, obwohl es sich seit vielen Jahren auf den Systemwettbewerb mit China konzentrieren will, auch militärisch. Ist das nicht ein ziemlich großes Dilemma?

Ja, das ist es. Es entsprach sicherlich nicht dem Kalkül der USA, ihre militärische Präsenz im Nahen Osten und in Europa zu verstärken. Es rächt sich eben, das ist das Fazit, Konflikte ungelöst vor sich hindämmern zu lassen in der Hoffnung, sie erledigten sich allmählich von selber. Tun sie aber nicht, siehe Nahost, siehe aber auch Kosovo oder Nagorny-Karabach.

Hegen Sie, wie so viele, die Befürchtung, dass Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt und die amerikanische Außenpolitik auf den Kopf stellt?

Ich bleibe Optimist und sehe Trump eher vor Gericht als im Weißen Haus.

Herr Ischinger, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online, heute.

I

Der perfekte Sturm zieht auf

Vor ein paar Tagen fiel mir ein Büchlein in die Hände, das den erstaunlichen Titel trägt: Das Vergnügen am Hass. Geschrieben im Jahr 1826 hat es ein Brite namens William Hazlitt in der Zeit nach der Französischen Revolution mit ihren Exzessen und dem Wirbel der napoleonische Kriege. Der zentrale Satz lautet: Liebe verwandelt sich, bei einer gewissen Nachgiebigkeit, in Gleichgültigkeit oder Abscheu. Der Hass aber ist unsterblich.

Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, dann ist der Hass seine Triebfeder. Die Geschichte ist voll davon und die Ereignisse im Nahen Osten seit jenem Samstagmorgen, als die Hamas Zivilisten abschlachtete, inklusive Babys und Kleinkinder, und Menschen entführte, vom einjährigen Kind bis zur 85 Jährigen, sind ein trostloses Beispiel für den Hass, der nicht aufhört und Schreckliches anrichtet.

Aber das ist ja nur der Anfang, der sich beliebig steigern kann. In den letzten Tagen waren viele Warnungen zu hören, dass aus dem Krieg im Gaza ein großer Krieg in der gesamten Region hervorgehen könnte. Der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian sagte, die Region sei wie ein Pulverfass und alles sei möglich. Damit hat er zweifelsohne recht, denn niemand weiß besser als er, dass sein Land andere Milizen vorschickt und alimentiert, die Hamas wie die Hisbollah. Die Nummer 2 der Hisbollah sagte, „wir sind im Herzen der Schlacht“, womit er wohl meinte: Wir würden gern mitmischen, liefert uns bitte den Vorwand. Der Sprecher der israelischen Streitkräfte wiederum sagte, sein Land werde mit unvorstellbarer Härte zuschlagen, wenn die Hisbollah im Libanon eine zweite Front eröffnen sollte.

Jeder traut hier jedem alles zu. Jeder macht sich riesengroß. Jedermann gibt vor, dass er sich vor Weiterungen des Krieges überhaupt nicht fürchtet, sondern auf alles, was da kommen möge, optimal vorbereitet sei. Die Verachtung, der Hass, die Rachsucht sind auf allen Seiten übermächtig. Die schlafwandlerischen Voraussetzungen, dass aus einem begrenzten ein großer Krieg entsteht, sind vorhanden.

Da braut sich etwas zusammen. Da baut sich womöglich ein perfekter Sturm auf, von dem niemand wissen kann, wen er am Ende wegfegen wird und was danach übrig bleibt.

Die Hamas hat jedes Interesse daran, so viele Akteure in ihren Krieg hineinzuziehen wie möglich. Das ist die Falle, von der Weitsichtige schon  gewarnt haben, als Israel 300 000 Soldaten zusammenzog – das Bombardement auf Gaza würde viele zivile Opfer töten, was in den Augen der arabischen Welt die Schuld der Hamas mehr als aufwiegen könnte. Der Beschuss des Krankenhauses mitten in Gaza kam der Hamas denn auch zupass, weil sie in Jordanien oder Ägypten, in Paris oder Berlin sowieso nicht hören wollen, dass eine irregeleitete Rakete aus Gaza die Ursache für die vielen Toten gewesen ist.

Zum Hass gehört es, dass jeder sich als Opfer versteht. Die wahren Opfer sind allerdings diejenigen, die im Gaza leben und mit der Hamas nichts am Hut haben. Oder die Menschen im Libanon, die den Todeskult der Hisbollah ablehnen. Von den Menschen in Iran, denen das Regime ein Mühlstein am Halse ist, ganz zu schweigen. Und selbstverständlich sind die Israelis die Opfer eines beispiellosen Überfalls.

Ein zwangsläufiges Opfer ist wie immer die Wahrheit. Iranische Diplomaten streuen das Gerücht, sie seien genauso wie der Rest der Welt vom Angriff der Hamas überrascht worden. Auch aus Katar ist zu hören, dass die Hamas ohne Anleitung oder Absprache gehandelt hat. Selig, wer es glaubt. Anders gesagt: Selbst wenn es stimmen sollte, würde man es aus der Erfahrung mit dieser Region nicht glauben.

Natürlich sind viele Diplomaten permanent darum bemüht, dass noch mehr Lastwagen voller Lebensmittel aus dem ägyptischen Raffah hinein nach Gaza fahren dürfen. Zahllose Vermittler pendeln von Amman über Doha nach Kairo und Riad, um mehr Geiseln als die beiden Amerikanerinnen freizubekommen. Wie man hört, hat der amerikanische Präsident Joe Biden den israelischen Premier Benjamin Netanjahu beschworen, mit der Bodenoffensive zu warten und vor allem darum, kühlen Kopf zu bewahren. Amerika hat nach 9/11 schlechte Erfahrungen mit schnellen Entscheidungen aus Rachsucht gemacht.

Die Bemühungen um Beschwichtigung stehen neben den Vorbereitungen zum perfekten Sturm. Noch während die Welt auf die Bodenoffensive wartet, fliegt die israelische Luftwaffe Angriffe auf Damaskus und Aleppo, um den iranischen Einfluss in Syrien zu stören. Weitere 14 Dörfer in der Nähe der Grenze zu Libanon ließ die Armee räumen. Auf die Raketen aus den Stellungen der Hisbollah antwortet Israel mit Artillerie und Drohnenangriffen. Die USA schickt, zusätzlich zu den beiden Flugzeugträgern, ein Raketenabwehrsystem vom Typ Thaad und weitere Boden-Luft-Raketen vom Typ Patriot in die Region, in der es an vielem mangelt, aber nicht an Waffensystemen jedweder Art.

Was könnte den perfekten Sturm beruhigen? In Amerika kursiert de Empfehlung an die Israelis zu einer Doppelstrategie, die so aussehen könnte: Wenn schon Bodenoffensive, dann sollte sie von einem neuen Anlauf zur Zwei-Staaten-Lösung begleitet sein. Davon wollte Netanjahu bislang nichts wissen. Im Gegenteil lieferte ihm die Hamas das Alibi zu sagen: Mit denen ist kein Friede zu machen, genauso wenig wie auf die Palästinensische Autonomiebehörde Verlass ist. Die Siedlungen im Westjordanland haben sich seit Netanjahus erstem Amtsantritt 1996 verdreifacht.

Netanjahu hat versagt und nach dem Krieg wird Gericht über ihn gehalten. Und dann? Viele Israelis halten die Siedlungspolitik und die Verachtung, den Hass gegenüber den Palästinensern als Mittel der Politik für einen verhängnisvollen Irrweg, aber sie haben die Mehrheit im Land an die nationalistische Rechte verloren. Wer also könnte den Faden aufgreifen und die Zwei-Staaten-Lösung aus der Versenkung holen?

Erst einmal herrscht Krieg. Herrscht Hass. Für den perfekten Sturm ist vorgesorgt. In diesem Teil der Welt wird in vielen Zungen zu Gott gebetet. Er sollte zur Abwechslung mal ein Einsehen haben.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

„Nichts bleibt, wie es war“

Alon Liel, 74, ist ein israelischer Karrierediplomat, diente als Botschafter in Südafrika und der Türkei, war Berater mehrerer Premierminister und wird noch immer als Vermittler herangezogen, zum Beispiel gerade von Familien der Entführten. In der Woche vor dem Krieg war er in Pforzheim, wo die Familie Löbl bis 1939 gelebt hatte. In einer Zeremonie wurden Stolpersteine für seine Großeltern eingeweiht.

t-online: Herr Liel, wie geht es Ihnen und wo leben Sie in Israel?

Ich lebe in Herzlyia, zehn Kilometer nördlich von Tel Aviv. Am Samstagmorgen um 6.30 Uhr weckten meine Frau und mich die Sirenen und wir rannten in den Bunker. Seitdem waren wir sechs- oder siebenmal dort. Gerade kam ich von einem Begräbnis eines liebenswerten Studenten zurück. Wie die meisten Israelis stehe ich wahrscheinlich immer noch unter Schock.

Sind Verwandte oder Freunde unter den Geißeln der Hamas?

Ja, Vivian Silver, eine gute Freundin und Friedensaktivistin. Sie ist 76 Jahre alt und gemeinsam setzen wir uns seit mindestens dreißig Jahren für Frieden ein. Sie lebt im Kibbuz Be’eri, ihr Haus haben sie am 7. Oktober niedergebrannt und sie ist nicht aufzufinden. Die unabweisbare Schlussfolgerung lautet, dass die Hamas sie entführt hat.

Ausländer – zum Beispiel Deutsche und Amerikaner – sind unter den Geißeln. Sie sind ein erfahrener Diplomat: Glauben Sie, dass es Geheimgespräche mit Iran oder Ägypten gibt, die Einfluss auf die Hamas haben? Und wem vertrauen Sie am meisten – immer noch den USA?

Soweit ich es überblicke, besitzen etwa ein Drittel der Entführten einen ausländischen Pass. Übrigens hat Vivian auch die kanadische Staatsbürgerschaft. Deutsche gehören zu den Geißeln und der deutsche Botschafter traf einige ihrer Familien. Sie suchen nun den direkten Kontakt zum Außenministerium in Berlin und ich wurde um Hilfe gebeten. Einige Regierungen haben sich als Vermittler angeboten, genießen aber nicht das Vertrauen beider Seiten.

In der Vergangenheit galt Deutschland als verlässlicher Vermittler. Was kann unsere Regierung in dieser Situation tun?

Deutschland kommt eine Schlüsselrolle zu. Katar hat keine diplomatischen Beziehungen mit Israel und der türkische Präsident Erdogan wird in Jerusalem nicht als ehrlicher Makler betrachtet.

Es galt als ausgemacht, dass Israel rasch eine kompromisslose Bodenoffensive nach den schrecklichen Überfällen starten würde. Allerdings scheint eine Invasion fast unmöglich zu sein, solange die Hamas ungefähr 150 Geißeln in Händen hält.

Eine Bodenoffensive braucht Zeit zur Vorbereitung. Die Luftwaffe flog schon bisher routinemäßig Angriffe, besonders in Syrien. Es war uns klar, dass auch die israelische Vergeltung im Gaza aus der Luft beginnen würde. Wo die Geißeln sich befinden, weiß Israel nicht. Wir vermuten, dass die Hamas sie gut versteckt hält und auf Austausch wartet. Für die Hamas sind sie ein strategischer Trumpf.

Offenbar verlangt eine Mehrheit der Israelis nach Vergeltung. Erwarten Sie auch Rache?

Danach ist die allgemeine Stimmung im Land, auch in der Führungsriege und den Generälen der Reserve, die sich in den Medien äußern. Netanjahu hat das Wort Rache in den Mund genommen. Nur einige zivilgesellschaftliche Organisationen verlangen nach Zurückhaltung und warnen davor, vor lauter Rachegelüsten die Sicherheit unbeteiligter Zivilisten im Gaza zu vernachlässigen.

Augenscheinlich erwartete weder die Regierung noch die Militärführung oder der Geheimdienst einen Angriff aus Gaza. Beruht diese Fehleinschätzung auf Hochmut?

Zweifellos war die Ahnungslosigkeit ein kolossales Versagen. Die Haltung war,: Wir sind unschlagbar und die Hamas ist gar nicht fähig, uns ernsthaften Schaden zuzufügen. Deshalb wurden während der Feiertage Truppen aus Gaza ins Westjordanland verlegt, um die Siedler zu schützen. Unsere politischen Führer werden nach dem Krieg nicht an der Macht bleiben. Sie müssen den Preis für ihre unverzeihlichen Fehler bezahlen. 

Für Europäer sind der Mossad und Shin Beth die besten Geheimdienste unter den Besten. Finden Sie eine Erklärung, weshalb sie nicht geahnt haben, was auf das Land zukommt?

Nein, ich habe keine Erklärung. Keiner versteht es. Neue Informationen besagen, dass es Warnungen gab, aber sie wurden nicht nach oben weiter gereicht. Netanjahu wachte wie wir alle um 6.30 am Samstagmorgen auf. Die Informationen aus den unteren Ebenen hatten ihn nicht erreicht. Ein gewaltiges Versagen.

Arabische Länder fordern Israel zur Mäßigung auf.  Hört man in Israel unter den gegebene Umständen auf sie?

Ich glaube nicht, dass Israel momentan bereit ist, auf solche Forderungen zu hören.

Was ist ihr bestes Szenario: Dass die Geißeln freigelassen werden und Israel auf eine Bodenoffensive verzichtet?

Ich glaube nicht, dass eine voll entfaltete Bodenoffensive unter Garantie kommen wird. Viel hängt von der Wirkung der Luftschläge und allerlei technologischen Operationen ab, auf die Israel zunächst zurückgreifen kann.

Was ist ihr schlimmstes Szenario:  Ein großer Krieg nicht nur gegen Hamas und Hisbollah, sondern auch mit Iran?

Das Schlimmste ist schon passiert, der 7. Oktober ist der schlimmste Tag für Israel seit der Gründung und der schlimmste Tag seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist, als ob wir uns schon in einem Krieg mit Iran befänden, da die Hamas Unterstützung von dort bekommt.

Wie beurteilen Sie Benjamin Netanjahus Verhalten vor dem Samstag und seither?

Netanjahus politische Rolle ist vorbei, auch wenn er noch da ist. Er und seine Regierung waren besessen davon, die Siedler im Westjordanland zu verteidigen. Er ist für das Desaster am 7. Oktober verantwortlich. Sein Rücktritt wird als ein weiterer Sieg für die Hamas verstanden werden. Auch deswegen ist es noch nicht passiert.

Jetzt hat sich ein Kriegskabinett aus fünf Mitgliedern etabliert, zu denen auch Vertreter der Opposition wie Bobby Gantz gehören. Liegt darin eine Chance, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden?

Ist der Krieg vorbei, ist es auch mit dem Kriegskabinett vorbei. Die Einheit Israels wird auch nur so lange vorhalten, wie Krieg herrscht. Die Kluft wird sofort wieder aufreißen, wenn die Frage nach der Schuld für den 7. Oktober aufgerollt wird.

Das Westjordanland war ein beständiger Unruheherd, weil die Siedler ihre arabischen Nachbarn drangsalierten und Teile der Regierung die Auseinandersetzungen noch anheizten. Geht das nach dem Krieg genauso weiter?

Meiner Meinung nach waren die Siedlungen schon immer eine Bürde für Israel und kein Trumpf. Ich war immer davon überzeugt, dass der Rückhalt in der Regierung das Land auseinander reißen wird. Noch immer sehe ich darin ein Hindernis für Frieden und verstehe nicht, warum Europa die Expansion und die Brutalität schweigend hinnimmt.

Israel ist ins Mark getroffen, weil Israel mit sich selber im Übermaß beschäftigt war. Was folgt aus dieser Heimsuchung?

Nichts wird so bleiben, wie es war. Der Sieg über Israel am 7. Oktober wird wie ein Damoklesschwert über uns hängen, selbst wenn die Hamas zerstört werden sollte. In der Geschichte Israels, des Zionismus und Judaismus wird für immer diese eine schreckliche Seite geschrieben stehen und uns dazu zwingen, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dafür ist es noch zu früh in diesem Krieg, aber die langfristigen Auswirkungen werden von enormer Tragweite sein. Ich hoffe sehr, dass wir imstande sein werden, den Dingen eine konstruktive Richtung zu geben. 

Vor vielen Jahren haben Sie einen Fußballklub gegründet, dessen Mannschaft aus Israelis und Arabern besteht. Bilden sie heute trotz allem noch ein Team?

Aber sicher doch. Die Spieler haben eine WhatsApp-Gruppe gegründet, in der die arabischen Spieler ihren Abscheu über die Brutalität der Hamas äußern. Meine palästinensischen Freunde, die sehr kritisch gegenüber Israel sind, befürchten jetzt, dass die Barbarei der Hamas ihnen schaden wird. Ich erhoffe mir, dass der israelisch-arabische Dialog, um den ich mich sehr bemüht habe, einschließlich einer palästinensischen Liste für die Gemeindewahlen in Jerusalem, die Stimmung beeinflussen kann.

Herr Liel, danke für dieses Gespräch.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Liebesgaben aus Teheran

Zehn junge Leute quetschten sich in ein Auto und rasten im Zickzack davon. Palästinensische Kommandos, die wahrscheinlich durch Tunnels aus Gaza in den Süden Israels gekommen waren, schossen ihnen hinterher. Die Zehn, die das Musikfestival nahe dem Grenzstreifen besucht hatten, schafften es.

Drei Mädchen rannten und rannten, als die Kommandos das Festival stürmten und um sich schossen. Sie rannten mehr als zwei Kilometer lang. Sie schafften es in eine Siedlung, die Einwohner nahmen sie mit in den Schutzraum im Keller. Palästinenser aber drangen ein und ermordeten alle Menschen, die sich dort gerade noch sicher geglaubt hatten.

Diese Geschichten erzählten uns Freunde und Verwandte. Viele israelische Familien beklagen den Tod eines Kindes, eines Neffen, eines Freundes. Schreckliche Geschichten aus dem Echoraum des Irrsinns, der Naher Osten genannt wird. Der Überfall der Hamas wird ins Geschichtsbuch eingehen. Die Hamas berauscht sich daran. Für die Israelis ist der 7. Oktober 2023 ein Alptraum. 7/10 ist ihr 9/11.

Das Datum ist kein Zufall. Am 6. Oktober waren es 50 Jahre, dass Ägypten Israel angriff und Israel völlig überrascht davon war. Damals hatte der Geheimdienst gewarnt und kein Politiker wollte es hören. Diesmal haben die über alles geschätzten Mossad und Shin Beth offenkundig nichts gehört und nichts gesehen und folglich komplett versagt. So konnte das Unerhörte, das Unbegreifliche sich entfalten. Nicht vom Westjordanland, wo die Siedler die palästinensischen Nachbarn mit heller Freude provoziert hatten, ging der Krieg aus, sondern vom sogenannten Gaza-Streifen, der in Wahrheit ein doppeltes Gefängnis ist, abgeriegelt von Israel und beherrscht von der Hamas, die Blut säen will.

Die Hamas ist, genauso wie die Hisbollah im Libanon, abhängig von Iran. Ohne das Einverständnis, ohne die Aufforderung zum Handeln, wären die Kommandos nicht aus der Luft und auf dem Boden nach Israel eingedrungen und hätten einen Krieg verursacht. Die erstaunlich hohe Anzahl an Raketen, die für die bewunderte Flugabwehr der Israelis eine echte Herausforderung darstellen, sind wohl auch eine Liebesgabe aus Iran. Gut möglich außerdem, dass entführte israelische Soldaten nach Teheran gebracht werden. So hielt es die Hisbollah in den 1980er Jahren, als sie CIA-Agenten in Beirut gekidnappt hatte. Wer im Gewahrsam der Revolutionsgaden ist, kann nicht befreit werden, das ist die Logik.

Denn natürlich wird die israelische Armee in aller Brutalität zurückschlagen, weil sie überrumpelt worden ist und viele Tote, viele Verwundete und dazu viele Geiseln zu beklagen hat. Auge um Auge, Toter um Toter, so halten sie es hier. Das Erbarmungslose, das Unmenschliche gehört wie selbstverständlich zum Nahen Osten. Dass junge Menschen Musik hören wollten, wie junge Menschen auf der ganzen Welt es tun, machte sie für die Hamas zu willkommenen Opfern. Ein Zivilist, so denken sie, lässt sich leicht ermorden, weil er unbewaffnet ist und arglos. 

Was im Alltag als Spannung in Israel, im Westjordanland und nahe dem Gaza zu spüren ist, als Bombe, die nur gezündet werden muss, explodiert nun mit aller Gewalt. Auf eine Intifada, bei der Kinder und Jugendliche Steine und Molotowcocktails werfen, waren sie in Israel eingestellt. Der kriegerische Überfall am frühen Samstagmorgen hat sie kalt erwischt. Dass Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nun die Zivilisten im Gaza auffordert, von dort wegzugehen, ist purer Zynismus. Wohin sollten sie denn gehen? 

Gerade noch war Israel gespalten. Die radikale Regierung unter dem Manipulations-Artisten Netanyahu will das Land entdemokratisieren. Damit hat er Reservisten und Teile des Geheimdiensts und das halbe Land gegen sich aufgebracht. Irgendwann wird Israel danach fragen, wer Schuld am Versagen der hochgelobten Institutionen trägt und auf Netanyahu kommen.

Aber zuerst einmal tobt der Krieg gegen Gaza, der große Rachefeldzug, gesteigert noch durch die unerwartete Invasion der Hamas. Darauf muss dieser Krieg allerdings nicht beschränkt bleiben. Warum sollte Iran nicht auf die Idee verfallen, die Hisbollah nicht nur vereinzelt angreifen, sondern eine zweite Front eröffnen lassen? Wer sollte die Mullahs daran hindern – Amerika etwa? Und wer könnte Netanyahu davon abhalten, ausgiebig Rache zu üben? Auch im Gaza werden viele Zivilisten sterben, während sich die Hamas-Führung in Sicherheit bringt.

Der Nahe Osten ist eine Region zum Verzweifeln. Schlimmer kann es nimmer werden, gilt nicht, sondern das Gegenteil. Das Schlimmstmögliche lässt sich hier beliebig steigern. Die nächsten Tage und Woche werden Beispiele ohne Ende liefern.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Die Angst vor dem Kontrollverlust

Jetzt ist sie wieder in vollem Gange, die Debatte übers Asyl. Mit neuem Ernst und Tatendrang und der Ahnung, wie ungemein schwer es fallen wird, die Zahl der Geflüchteten zu reduzieren. 350 000 aus vielen Ländern sollen sich in diesem Jahr dafür bewerben, hier leben zu dürfen. Dazu kommen 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflohen sind und Sonderrechte genießen.

Experten sagen, dass die hohe Zahl der Geflüchteten einem Post-Corona-Effekt zu verdanken sei und natürlich auch der Not in vielen Staaten dieser Erde. Die Menschen kommen aus Somalia und Mali, aus Kolumbien und Venezuela, Syrien, dem Irak und Afghanistan. Mehr als 5 Millionen Menschen haben allein Afghanistan nach der Wiederkehr der Taliban verlassen. Deutschland ist für viele vo ihnen das gelobte Land. Dass die Regierung Merkel im Jahr 2015 die Moralität ihrer Denkungsart unter Beweis stellte, trägt wesentlich zur Anziehungskraft bei.

Was tun? Im neuen „Spiegel“ ist eine Umfrage zitiert, wonach 84 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass zu viele Geflüchtete nach Deutschland kommen und 82 Prozent glauben nicht, dass Politik und Verwaltung die Krise meistern könnten. Die Moralität der Denkungsart, gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine erneut bewiesen, ist mächtig rückläufig.

Die Empathie sinkt mit der Angst um Kontrollverlust. Und die Desillusion, dass der Staat die Kontrolle zurück gewinnen kann, gründet auf Erfahrung. Denn seit vielen Jahrzehnten kreisen die Vorschläge der Parteien immer schon um den Kampf gegen die Schleuserbanden, die Ausweisung nicht anerkannter Asylbewerber und die verschärfte Sicherung der Grenzen als Mittel zur Entlastung der herrschenden Verhältnisse.

Bisher war es so, dass es ohne Zutun der jeweiligen Bundesregierung ein Auf und Ab der Asylbewerber-Zahlen gab. Nun aber stellt sich die Frage, ob die liberale Demokratie, die ohnehin durch schwierigste Debatten über Klima und Ukraine-Krieg und Inflation ramponiert ist, so liberal bleiben kann, wie wir es gewohnt waren, wenn die Asylpolitik das Land zusätzlich spaltet und wiederum der AfD die Segel füllt.

Früher hießen die Schlagzeilen: Das Boot ist voll. Heute redet Markus Söder über Integrationsgrenzen, wofür er die Zahl 200 000 aufführt, die er im Nachtrag allerdings zur Richtgröße aufweicht. Und natürlich sind die Bürgermeister und Oberbürgermeister ans Limit gekommen oder auch schon darüber hinaus. Sie sollen ja für Unterkünfte und Schulen und Kitas und medizinische Versorgung sorgen.

Überhaupt ist es so, um mal etwas Positives zu sagen, dass derzeit Vorschläge und Ideen die Runde machen, über die man ohne Schaum vor dem Mund diskutieren kann. Altbundespräsident Joachim Gauck rechtfertigt neues Denken, er vermag „Spielräume zu entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“. Denn dass es nicht bleiben kann, wie es ist, weiß so ziemlich jeder und gibt es auch zu.

Den weitest gehenden Vorschlag unterbreitet der CDU-Abgeordnete Thorsten Frei. Er empfiehlt, dass deutsche Asylrecht radikal umzubauen, wodurch aus dem individuellen Recht eine Institutsgarantie würde. Die Konsequenz wäre, dass die Europäische Union pro Jahr 300 000 bis 400 000 Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufnimmt und auf die Mitgliedsstaaten verleiht. Natürlich wäre heute schon gesichert, dass weder Polen noch Ungarn ein Kontingent aufnehmen wollte und deshalb sollten sie nach dem Frei-Plan sich davon mit Geld freikaufen können. 

Die Begründung für den Vorschlag ist die Trostlosigkeit, dass schätzungsweise 26 000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken sind und mindestens genau viele auf dem Weg durch die Sahara ihr Leben verließen. Wer kein Herz aus Stein hat, den lässt diese Menschentragik, nicht kalt.

Freis Vorschlag leidet allerdings darunter, dass er nicht im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention steht. Außerdem ist das  Problem viel zu komplex, um monokausal gelöst zu werden.

Zahllose deutsche TV-Talkshows, zuletzt gestern Abend mit Anne Will, haben sich mit den real existierenden Verhältnisse in Lampedusa oder Moira, im Mittelmeer und der Sahara, beschäftigt. Mich hat am meisten ein Mann beeindruckt, der enorm kompetent und ohne Tamtam seine Auffassungen vertritt. Er heißt Gerald Knaus und ist ein österreichischer Migrationsforscher. Von ihm stammt einer der wenigen klärenden Sätze in der Kakophonie von halbgaren Meinungen. Knaus sagte im Interview mit dem „Spiegel“: „Es gibt ein Recht auf Asyl, aber nicht auf Migration.“ So sagt es übrigens auch die Flüchtlingsorganisation der Uno, UNHCR.

Das Institut, das Knaus leitet, hat das Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei ausgearbeitet, das im März 2016 in Kraft trat und zur Entspannung beitrug, weilte Zahl der Flüchtlinge von einer Million (im berühmten Jahr 2015) auf 26 000 zurückging. Dieses Abkommen, so meint Knaus, müsste erneuert werden, um den gleichen Effekt wie damals vor sieben Jahren zu entfalten. Besonders Griechenland ist daran interessiert und würde Zehntausende Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen, wenn die Türkei wieder illegal von dort nach Griechenland Geflüchtete aufnähme.

Ein anderer Vorschlag, der auch in der deutschen Debatte nahegelegt wird, betrifft sichere Drittstaaten im Norden Afrikas, in die dann Menschen, die hierzulande einen Antrag auf Asyl gestellt haben, in Aufnahmezentren geschickt werden. Dänemark, von einer Sozialdemokratin regiert, geht einen Schritt weiter und will, dass anerkannte Asylbewerber dann auch dort bleiben.

Am Ende wird sich die Veränderung des real angewandten Asylrechts nicht ohne unsympathische Vorschläge vollziehen, die inhuman klingen. Da Geflüchtete auch über die Route Russland/Belarus an deutsche Grenzen gelangen, geht es kaum noch ohne Schutz der Grenzen, um die Kontrolle nicht noch mehr zu verlieren. Da das Liberale an der deutschen Demokratie bröckelt, könnten Richtgrößen definiert werden, wie viele Geflüchtete das Land verkraften kann. Damit nicht noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, sollten zusätzliche Abkommen mit sicheren Drittstaaten wie Marokko geschlossen werden, in denen dann Asylverfahren stattfinden.

Auf die umsichtige Kombination von Faktoren kommt es an. Frisches Denken empfiehlt sich. Phantasie und Mut zu neuen Lösungen sind willkommen.

In zwei Wochen wählen Bayern und Hessen neue Landtage. Dass die Angst vor Kontrollverlust dabei eine Rolle spielt, ist ziemlich sicher. Hinterher wissen wir, wie groß sie ist.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Der große Unvollendete

Der Oskar wird heute 80, Glückwunsch, rundes Alter nach einem wilden Leben. Er ist schon noch der alte Oskar, wenn auch in seinen Augen das Verschmitzte nicht mehr so häufig aufblitzt, diese mit Arroganz gewürzte Ironie, die eine politische Zuspitzung auskostet und auf das Echo bei den Zuhörern lauscht.

Weißt du noch? Vor kurzem empfing Oskar Lafontaine einen alten Bekannten, an dem er verzweifelt war und von dem er sich betrogen fühlte: Gerhard Schröder. Der ehemalige Kanzler der SPD und der ehemalige Parteivorsitzende der SPD saßen also bei Rotwein zusammen und mögen über ihre großen Zeiten geplaudert haben. Als sie den Helmut Kohl abräumten. Als sie das geniale Tandem ihrer Partei waren. Als sie fast so etwas wie Freunde waren, aus denen dann bittere Gegner wurden. Und bestimmt haben sie auch über ihre Nachfolger gelästert, was denn sonst, den Olaf und die anderen, die ihnen nicht das Wasser reichen können.

Von Gerhard Schröder ist nichts mehr zu erwarten, außer Golfen und schönen Bildern aus dem trauten Heim in sozialen Medien, von Gattin Nummer 5 biedermeierlich kommentiert. Oskar Lafontaine hingegen ist noch für Überraschungen gut, zum Beispiel wenn er demnächst gemeinsam mit Sarah Wagenknecht, Gattin Nummer 4, eine Partei gründet, was ja durchaus möglich erscheint, obwohl die Ausrufung arg lange auf sich warten lässt.

Unter anderen Umständen wäre zum 80. Geburtstag eine große Sause fällig, mit vielen Rednern aus vielen Staatsämtern, die an die Saar tingeln und ihn in die Geschichtsbücher einordnen. Oskar Lafontaine ist ja nun wirklich eine historische Figur, die vieles konnte und vieles war. Immer der Jüngste, immer der Schnellste, das Großtalent seiner Generation, geboren noch im großen Krieg, vaterlos aufgewachsen in einem katholischen Arbeiterhaushalt. Oberbürgermeister von Saarbrücken mit 33, Ministerpräsident mit 41, Kanzlerkandidat mit 47.

Sein Leben lang hat er die Menschen fasziniert und polarisiert. Er baute auf und warf um. In ihm hat man keinen, auf den Verlass wäre. Von je her hat er viel über Moral in der Politik geredet, aber wenn es ihm zu viel wurde, wenn er die Nummer Eins nicht sein durfte, brach er alle Brücken ab. Von jetzt auf gleich

Woher kommt das – dieses Jähe, diese weidwunden Befreiungsschläge, der verzweifelte Rückzug, wie an jenem 11. März 1999, als er, der Finanzminister der Regierung Schröder/Fischer die Brocken hinwarf, einfach so?

Seine beste Zeit war im Saarland als OB und Ministerpräsident. Kleines Land, große Probleme, vor allem die Transformation der Kohle- und Stahlindustrie, bei der er sich bleibende Verdienste erwarb. Das war Oskar, der Realist, der die Dinge nahm, wie sie waren, und das Beste aus ihnen machte.

Aber er war größer als das Saarland. Er wollte ins Reich, wie man dort so sagt. Aber wie sollte er aus diesem kleinen Bundesland am Rande der Republik zur nationalen Figur werden?

Durch Provokation und Rebellentum. In der dauerhaften Opposition zur SPD-geführten Bundesregierung, deren Kanzler Helmut Schmidt hieß. Über ihn sagte Lafontaine, das Pflichtgefühl, die Machbarkeit und Berechenbarkeit, von denen Schmidt immer rede, das seien Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ führen könnte. Ja, Lafontaine konnte maßlos sein, wenn er sich im Recht glaubte.

Oskar Lafontaine stand nicht allein. Er genoss die Protektion der Galionsfigur der SPD, Willy Brandts; so glückte das Experiment Wie-werde-ich-bedeutend. Dazu kam das Wohlwollen der  Medien, von „Spiegel“ bis „Bild“ , die den Aufstieg nicht nur begleiteten, sondern flankierten. Fortan war Lafontaine nur noch der Oskar für Freund und Feind. Die Reduktion auf den Vornamen war ein Symbol für das Ankommen auf der großen Bühne der Politik. Im Ausland hielt man ihn wegen seiner Polemik und Unberechenbarkeit bald für den gefährlichsten deutschen Politiker.

Willy Brandt sagte einmal über Lafontaine, der Junge sei eine Mischung aus Bebel und Mussolini. Der Oskar bewegte sich ja rhetorisch gerne in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, zu deren Gründungsvätern August Bebel gehört hatte. Das mit dem Duce meinte der große Vorsitzende vermutlich als Mahnung, den Hang zum populistischen Schwadronieren zu zähmen.

Denn in diesen Jahren des Aufstiegs mauserte sich der hedonistische Saarländer zu einem großen Rechthaber. Es ist allerdings die entscheidende Frage, ob einer, der recht zu haben glaubt, auch recht bekommt. 

Lafontaine gehörte in den 1970er Jahren zur Avantgarde der ökologischen Bewegung und der Friedensbewegung. Unter den aufstrebenden Politikern galt er als Intellektueller auf der Höhe der Zeit. Auf diese Weise war Oskar Lafontaine die große Hoffnung der SPD und des Regierungs-Projektes mit den Grünen. Der Gerd, der Oskar und der Joschka bildeten das scheinbar unaufhaltsame Trio, das Helmut Kohl bald schon in Rente schicken würde.

Aber dann kam 1989. Die Demonstrationen in der DDR. Der Zusammenbruch der SED. Die Aussicht auf Wiedervereinigung. Die Geschichte raste und erwischte Lafontaine auf dem falschen Fuß. Paris lag ihm grundsätzlich näher als Dresden. Von einem großen Deutschland hielt er nichts. Er stemmte sich gegen die Geschichte. Er beschwor die DDR-Bürger, drüben zu bleiben. Er hielt die Währungsreform für Irrsinn. Das Ganze passte ihm nicht.

Dann kam der 25. April 1990, der Tag, als ihm Adelheid Streidel ihr Messer in den Hals rammte, gleich neben der Halsschlagader. Hinterher sagte die psychisch kranke Frau, sie habe Lafontaine töten wollen, um vor Gericht über die unterirdischen Fabriken reden zu können, in denen Menschen körperlich und geistig umfunktioniert würden. Daran knüpften in der Pandemie die Verschwörungsgläubigen an.

Das Attentat muss ein grauenhafter Schock gewesen sein, was denn sonst. Normalsterbliche hätten sich auskuriert, wären in die Reha gefahren, hätten womöglich mit Psychologen über das Geschehene gesprochen und überhaupt darüber nachgedacht, wie sie weiterleben wollten. Nichts war ja wie vorher. Auch die Binnenwelt stand urplötzlich auf dem Kopf.

Aber Lafontaine machte so schnell wie möglich weiter, als wäre nichts Schlimmes passiert. Arbeit sollte die Therapie sein. Die Alternative wäre Rückzug von der Kanzlerkandidatur gewesen. Doch diesen Bruch nahm er nicht auf sich. Was ihn tief innen bewegte, hat er vielleicht am ehesten mit Wolfgang Schäuble beredet, dem Leidensgenossen, der ein halbes Jahr später angeschossen worden war.

Dann kam die schwere Wahlniederlage gegen Helmut Kohl: 33,5 Prozent (minus 3,5 Punkte) gegen 43,8 (minus 0,5). Die DDR-Bürger wollten die Einheit und bekamen sie. Ihr Held war Helmut Kohl. Für sie war Lafontaine der Mann, der die Einheit nicht wollte.

Erstmals zog sich Oskar Lafontaine ins Saarland zurück. Jetzt war er wieder nur der Ministerpräsident, aber in sicheren Gefilden. Am ehesten konnten die Wunden hier heilen. Hier liebten sie ihn. Hier war er ihr Oskar.

Auch der zweite Ausflug in die große Politik erwies sich als Fiasko.1998, endlich der ersehnte Machtwechsel. Rot-Grün in der Regierung. Seine Freunde rieten ihm zum Fraktionsvorsitz, er aber wollte in die Regierung und als Finanzminister und SPD-Vorsitzender die Zügel halten. Er verkannte die Lage. Die Nummer Eins war ein anderer.

Oskar Lafontaine scheiterte an Gerhard Schröder, dem besseren Machtpolitiker und Strategen. Der Bruch am 11. März 1999 gründete auf einer unnachahmlichen Mischung aus verletzter Eitelkeit und politischen Gegensätzen über die notwendigen Reformen. Dass Lafontaine alles hinwarf und flüchtete, bleibt ein beispielloser Akt in der deutschen Nachkriegspolitik. Der Austritt aus der SPD 2005 war der konsequente Schritt.

Dritter Anlauf: Auch der Aufbau der Linken basierte auf einer Männerfreundschaft, diesmal mit Gregor Gysi. Ihr gemeinsamer Traum war es, die SPD als linke Volkspartei abzulösen. Der Traum war schon zerstoben, als Oskar Lafontaine an Krebs erkrankte und wiederum den Rückzug ins Saarland antrat. Er genas und katapultierte seine Landespartei in ungeahnte Höhen. Dann legte er sich mit Provinzchargen der Linken an, und trat verbittert auch aus dieser Partei aus.

80 ist er heute und bestimmt ein bisschen weise. Ein Unikat bleibt er, der große Unvollendete der deutschen Politik. Einer, der vieles konnte, noch mehr wollte, aber immer kleinere Pirouetten drehen musste. Und natürlich hat es etwas Tragisches, wenn eine große Begabung sich nicht erfüllen kann. 

Veröffentlicht auf t-online.de, am Samstag.

Eine halbtote Mannschaft wachgeküsst

Gestern haben sie wieder seinen Namen in Dortmund gesungen, wie sie seinen Namen immer schon gesungen haben: Ruuuudi Völler. Und wenn es eine Volksabstimmung unter den Anhängern des deutschen Fußballs gäbe, wer Bundestrainer werden soll, dann bekäme der Ruuuudi Völler knapp unter 100 Prozent.

Das hat er nun davon. Sie wollen ihn behalten, weil die Mannschaft, die er zusammenstellte, endlich mal wieder gewonnen hat, endlich mal wieder schöne Tore geschossen hat, endlich mal wieder das Publikum mit sich gerissen hat, was in Dortmund, zugegeben, leichter ist als anderswo, aber egal. Was für eine Erleichterung, welcher Balsam auf unseren Seelen.

Der junge Rudi Völler, da hatte er noch diese enorme Matte auf dem Kopf, sagte mal einen Satz, der nach Angabe klingt, aber zutrifft: Ich bin einer, der noch nicht da war. Er meinte seine Eigenart zu spielen, denn er war ja nicht der riesengroße Mittelstürmer, er musste sich also etwas ausdenken, um eine Tore zu schießen, genau so wie sein großer Vorgänger Gerd Müller. Er bugsierte den Ball mit sämtlichen Körperteilen ins Tor, er ließ sich immer einiges einfallen.

Heute ist er immer noch einer wie keiner. Ein erfahrener Fahrensmann, weitergereist aus Offenbach über Bremen nach Rom (Spielführer in dieser uritalienischen Mannschaft!) und Marseille. Er war alles, was man nur sein kann: Opfer einer Spuckattacke (Rjikard!), Weltmeister, Trainer einer deutschen Vize-Weltmeister-Elf, Wut-Redner gegen den beamtenhaften Gerhard Delling, Sportdirektor – und jetzt also Interimstrainer zum Wachküssen einer halbtoten Mannschaft.

Geht noch mehr? Ginge nur, wenn er wollte. Fürs Wollen braucht es nicht viel. Glauben wir ernsthaft, dass sich Julian Nagelsmann im zarten Alter von 36 Jahren den Job als Bundestrainer antut? Könnte nur sein, wenn er es sich nicht zutraut, den nächsten trainerlosen Verein in London (Chelsea) oder Spanien (nach Ancelotti bei Real Madrid) zu übernehmen.

Wer wäre sonst noch da? Oliver Glasner: ein Österreicher! Stefan Kuntz? Müsste erst vom türkischen Verband geschasst werden. Das war’s schon, im Wesentlichen. Da der DFB nicht vorgesorgt hat, zum Beispiel durch verschärftes Nachdenken über einen Plan B, ist es fast wahrscheinlich, dass Aki Watzke und Bernd Neuendorf Völler demnächst bearbeiten werden: Du, Rudi, du hast es so gut gemacht, mach’s doch noch ein bisschen weiter so gut, nur noch die EM im nächsten Jahr, denn, weißt du, dann haben wir mehr Zeit, einen richtig guten Trainer zu finden.

Es gibt nur ein’ Rudi Völler und der ist ein Gemütsmensch, ein Arbeiterkind, das weiß, worauf es im Leben ankommt, zum Beispiel dass Fußball eine Sache ist, der mit Kopf und Herz gespielt wird, mit Mut und Leidenschaft. So einer macht eben immer mal vieles richtig, indem er Jonathan Tah und Benjamin Henrichs aufstellt, wobei sicherlich die Abwesenheit von Joshua Kimmich dem deutschen Spiel gut tat, was denn sonst.

Er hat unsere Seele gestreichelt und uns allen ein sehr ansehnliches Spiel gegönnt, wie schön. Also, liebe Leute vom DFB, wenn ihr nicht eine ganz tolle Lösung präsentieren könnt, bleibt doch einfach erst mal bei Ruuuudi Völler! 

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Die Loyalität der Verlierer schwindet

Neulich habe ich gelesen, dass 48 Prozent aller Länder auf Gottes Erdboden Demokratien sind. Nicht schlecht, fast die Hälfte, hätte ich nicht gedacht. Natürlich zählen auch Staaten wie Indien, das sich gerade auf dem G-20-Gipfel als Sprecher des Südens versuchte, mit seinem Kasten-System und seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Armut dazu. Als Vergleichsmaßstab diente das Jahr 2006, als noch 58 Prozent der Länder zu den Demokratien gezählt werden durften. 

Demokratien kommen und gehen. Sie verändern sich, nehmen autokratische Züge an wie in Polen oder Ungarn. Liberale Demokratien hingegen sind im Rückzug begriffen, siehe Großbritannien oder die USA. Demokratien sind erfahrungsgemäß keine Selbstläufer. Man kann froh sein, wenn die Institutionen funktionieren, zum Beispiel der Rechtsstaat, der eben jetzt Donald Trump anklagt für den Versuch, seine Wahlniederlage in einen Sieg umzumünzen.

Und wie steht es mit unserer Demokratie? Nicht besonders erfreulich, schon wahr. Soeben ist das Heizungsgesetz im Bundestag verabschiedet worden, kein Glanzstück der Regierungskunst. Die CDU hat in Gestalt von Jens Spahn angekündigt, sie würde, sollte sie nach der nächsten Wahl regieren, das Gesetz rückgängig zu machen. Ernsthaft? Entweder wird sich Spahn, ein flinker Gedächtniskünstler, dann nicht mehr an seine Worte von heute erinnern, oder er wird in der nächsten Regierung wieder nicht Kanzler. Aber damit sind wir bei einem Problem, das die Parteien im Umgang miteinander aufwerfen. Zur Demokratie gehört die Loyalität der Verlierer. Sie sollten die Niederlage akzeptieren und nicht so tun, als sei die herrschende Koalition ein tumber Haufen von Dilettanten. Die CDU/CSU hatte einst geschworen, sie würde die Entspannungspolitik niemals hinnehmen – und akzeptierte sie nach dem Machtwechsel. Die SPD hatte dereinst gegen die Westbindung übel polemisiert – und akzeptierte sie schließlich.

Das Heizungsgesetz ist ein schönes Beispiel für große Politik, die in den Alltag ihrer Bürger hineinreicht. Geht es gut, sehen die Menschen ein, dass die Veränderung notwendig ist und akzeptieren sie. Vor allem in der eigenen Lebenswelt muss sich das, was im großen Ganzen die Transformation der Gesellschaft heißt, bewähren. Das Fiasko besteht darin, dass zuerst die Verunsicherung über das anstehende Gesetz wuchs und sich dann ein Ausweg aus der auferlegten Not eröffnete: Schnell eine neue Ölheizung, damit die Wärmepumpe warten muss.

Zeit zu gewinnen ist ein alter politischer Trick. Vielleicht tritt aber ein anderer Effekt in diesem Interim ein: die Gewöhnung an das Notwendige. Vielleicht legt sich die Aufregung über die Zumutung der Regierung, zumal ja der Staat zur Investition beiträgt. Gut wär’s ja.

Momentan haben die Grünen, durchaus selbstverschuldet, den Schaden. Sie sind die Beelzebuben. Im Netz werden sie schon mal zur „Todessekte“ erklärt. Markus Söder will niemals und wenn überhaupt, nur über seine Leiche mit den Grünen regieren. Friedrich Merz erklärt sie zum Hauptgegner. Ziemlich leichtfertig, wenn die konservative Seite über die Grünen herzieht, als seien sie noch die Linksradikalen, die sie mal waren. Da spielen sie anderen in die Hände.

Vielleicht leben wir in einem Zwischenraum. Die Ampel-Koalition dürfte keinen Bestand haben. Da fügt sich nichts von selber. Und es muss ja nicht schlecht sein, wenn denn nach der nächsten Wahl eine funktionstüchtige Regierung entstünde – am besten aus CDU/CSU und Grünen. Warum? Weil die Union überzeugend darlegen könnte, der Umbau der Industriegesellschaft sei ja nun einmal nicht ihre Herzensangelegenheit, aber dummerweise unerlässlich und deshalb bei ihr kompetent aufgehoben. 

Die deutsche Nachkriegsdemokratie hatte immer das Glück, dass unverdächtige Koalitionen historisch Notwendiges auf sich nahmen. Konrad Adenauer überzeugte das verunsicherte Bürgertum von der Westbindung, die es stets abgelehnt hatte. Die Entspannungspolitik, für die die Union nicht zu haben war, setzte die SPD-FDP-Koalition ins Werk. Die SPD, die der Wiedervereinigung zu großen Teilen nichts abgewinnen konnte, war in der Opposition und Helmut Kohl besaß im Ausland das erforderliche Renommee, so dass die Einheit erstaunlich geschmeidig zustande kam. 

Die Transformation zur Klimaneutralität hat mindestens genau so viel Gewicht und historische Bedeutung. Nach dem Gesetz der Serie könnte eine Unions-geführte Regierung befriedende Wirkung haben, weil ihr niemand Ideologie unterstellt. Dass Markus Söder für diese Oktober-Wahl ganz auf die Freien Wähler setzt, steht nicht im Widerspruch. Heute würde es die CSU zerreißen, wenn der Ministerpräsident seine Vorliebe für die Grünen entdeckte. Bayern bleibt fürs Erste ein Sonderfall. Noch.

Natürlich kommt es auf die richtigen Leute an. Friedrich Merz kann ihnen den Weg ebnen, mehr bleibt ihm nicht. Mit den Grünen regiert die CDU zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Schleswig-Holstein. Dort könnte sch eine Figur herausbilden, die Sinn für Teamarbeit hat und Verständnis für die besondere deutsche Tradition, Fortschritt zu organisieren.  

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Nichts stimmt in dieser Mannschaft

Das Freudvolle vorneweg: Wir sind Weltmeister. Im Basketball. Waren wir noch nie. Eine Mannschaft ist über sich hinausgewachsen, jeder kämpfte für jeden. Der Team-Spirit war überwältigend. Das war so, wie die deutsche Mannschaft damals in Brasilien, 2014, als sie Argentinien in einem irrsinnig intensiven Spiel schlug. Argentinien foulte und foulte, Schweinsteiger blutete aus vielen Wunden, und keiner in dieser Elf ließ sich aus der Ruhe bringen. Sie glaubte an sich, das war’s!

Wir sollten uns unbedingt noch mal auf YouTube die letzten 14 Minuten dieses Endspiels anschauen. Götzes Tor! Wir müssen uns ja an der Vergangenheit wärmen. Für die Älteren unter uns ergeht die Empfehlung: Mexico 1970 Deutschland gegen Italien, das Jahrhundertspiel, Italien gewann nach Verlängerung 4:3. Oder vier Jahre später Deutschland gegen Niederlande, Beckenbauer gegen Cruyff. 2:1.

Von 2014 an ging’s bergab. Seit neun Jahren. Die längste Flaute. Zwei Weltmeisterschaften versiebt. Gab es noch nie. Chile 1962 war unschön, aber vier Jahre später: Endspiel gegen England. 1974 Weltmeister, 1978 schlimm, 1982 Finale gegen Italien. Das war der Rhythmus, damit konnte man leben. Aber so?

Vorgestern fand die Beerdigung des deutschen Gegenwartsfußballs statt. 1:4 gegen Japan, keine Übermannschaft, um das Mindeste zu sagen. Pein, nichts als Pein. Mich beschlich  das Gefühl, dass in dieser Mannschaft nichts stimmt. Totes Holz. Vielleicht hat sie sich ans Verlieren gewöhnt, traut sich jedenfalls nichts zu, zieht sich gegenseitig herunter. Und draußen stand dieser glücklose Trainer, ein anständiger Mensch, der sich etwas einfallen ließ, aber das Falsche, der eine Bullenabwehr aufstellte, die jedoch groteske Fehler beging.

Folglich muss Hansi Flick gehen. Er wird der Letzte sein, der sich darüber beschwert. Das Geschäft kennt er. Ihm bleibt München, die Krönungsmesse beim Triple. Und uns bleibt das Rätsel, wie ein dermaßen erfolgreicher Vereinstrainer dermaßen erfolglos als Bundestrainer sein kann.

Wer kein Herz aus Stein hat, dem blutet es. Wir haben uns schon mit weniger Talent begnügt ( ich sage nur: Schwarzenbeck! Briegel! Jeremies!), aber weniger Talent hat trotzdem gewonnen. Mit unbändigem Willen. Eine dieser Rumpelfußball-Mannschaften, das war 1990, ist sogar Weltmeister geworden.

Mit den Spielern, die im System Flick versagt haben, muss der nächste Trainer zurecht kommen. Es gibt ja keine anderen. Was sich schon abzeichnete, ist nicht zu ignorieren. Die Generation der Gnabry/Sané/Goretzka/Kimmich stagniert seit geraumer Zeit. Viel Anspruch, wenig Erfüllung, geschweige denn dauerhaft. Die Kunst jedes neuen Trainers wird darin bestehen, diesen Komplex der knapp unter Dreißigjährigen aufzubrechen und mit jüngeren Spielern zu durchmischen. Florian Wirtz ist sicherlich einer, Karim Adeyemi ein anderer. Mehr fallen mir auf Anhieb auch nicht ein. Aber bitte nie wieder Nico Schlotterbeck als Außenverteidiger. Und ist Ilkay Gündogan wirklich der richtige Chef im Mittelfeld?

Nun also erst einmal am Dienstag gegen Frankreich. Ein seltsames Trio wird sich auf die  Bank quetschen: Rudi Völler, als Bundestrainer vor vielen, vielen Jahren gescheitert; dazu Hannes Wolf, als Vereinstrainer in Stuttgart/Hamburg/Leverkusen gefeuert; und Sandro Wagner, immerhin ein Erfolgstrainer, mit Unterhaching aufgestiegen, ein Lernender, so definiert er sich. Es wird doch wohl niemand auf die Idee kommen, einen der Drei zum Bundestrainer zu ernennen, obwohl man dem DFB allerlei zutrauen muss.

Wer soll’s werden? Genauer gefragt: Wer ist gerade arbeitslos und nicht auf dem Weg nach Saudi-Arabien? Na denn, viel Glück bei der Suche. Und lasst uns mit Enttäuschungsfestigkeit wappnen für die Europameisterschaft 2024 in Deutschland.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.

Aiwanger war gestern, Augenklappe ist heute

Zunächst einmal gilt Olaf Scholz unser geballtes Mitleid. Wer sich dermaßen die rechte Gesichtshälfte verschandelt, muss schon ganz schön übel gestürzt sein. Vielleicht ist er über einen Stein gestolpert, vielleicht hat er eine Wurzel übersehen, vielleicht ist er beim prüfenden Blick hoch zum verdunkelten Himmel ins Straucheln geraten. Leider kennen wir noch nicht den gesamtumfänglichen Hergang des dramatisch herunter gespielten Unfalls, aber die harten Jungs aus den Recherche-Pools werden nicht ruhen, bis sie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit heraus gefunden haben. Wir erwarten ihre Erkenntnisse voller Spannung. Aiwanger war gestern, die Augenklappe ist heute.

Ja, joggen ist gefährlich. Fussgänger sind grundsätzlich unberechenbar, Radfahrer gemeingefährlich, von den Weg kreuzenden Wildschweinen nicht zu reden. Vor kurzem kam der Präsident der Universität Bayreuth, bekannt durch KT zu Guttenberg, beim Joggen zu Tode. Er war aushäusig unterwegs gewesen, auf der Kölner Rheinpromenade, überquerte einen Bahnübergang bei Rot und ein Zug erfasste ihn. Oder die US-Schauspielerin Reese Witherspoon („Sweet Home Alabama“), die in Santa Monica über einen Zebrastreifen nach Hause joggen wollte, als ein Automobil sie erfasste. Überlebt hat sie, mit Schrammen und Prellungen, ähnlich wie der Kanzler.

Wie das immer so ist, fallen unsereinem bei einem neuen Sportunfall noch viel schlimmere Vorkommnisse ein, hinter denen die Augenklappe und die Gesichtsblessuren von Olaf Scholz verblassen. Dabei sollten wir aber nicht vergessen, welch ungeheurer Vorteil darin liegt, dass ein deutscher Kanzler sich gleichbleibend schlank joggt, anstatt sich mit Saumagen voll zu stopfen (Kohl) oder Currywürste in sich hinein zu schaufeln (Schröder). Schon einmal aus diesem Grund überlassen wir anspielungsreiche Witzchen der Konkurrenz, etwa wie: Nicht mal das Joggen kriegt dieser Kanzler hin oder sicherlich hat ihm einer seiner Bodyguards im Auftrag von Putin in die Beine getreten.

Wer joggt, hat meine Sympathie. Vielleicht bewältigt Olaf Scholz die Irrsinnsbelastung im Kanzleramt auf diese Weise besser. Vielleicht trägt der gelegentlich Adrenalinschub zur Erheiterung seines Gemüts bei. Deshalb möchten wir ihm zurufen: Weiter joggen, Herr Bundeskanzler! Nur schade um die rechte Augenklappe, denn mit der Klappe auf dem linken Auge sähe er wenigstens aus wie der israelische Kriegsheld Mosche Dajan, was natürlich in Zeiten des Ukraine-Krieges die Sympathie von Selenskji eingebracht hätte. Aber sei’s drum, man kann nicht alles haben.

Und wenn Olaf Scholz jetzt das Joggen vergangen sein sollte, bleibt immer noch der Trost, den der ewige Zigarrenraucher Winston Churchill spendete. Gefragt nach dem Geheimnis seines hohen Alters, antwortete er: No sports.

Veröffentlicht auf t-online.de, heute.