Alon Liel, 74, ist ein israelischer Karrierediplomat, diente als Botschafter in Südafrika und der Türkei, war Berater mehrerer Premierminister und wird noch immer als Vermittler herangezogen, zum Beispiel gerade von Familien der Entführten. In der Woche vor dem Krieg war er in Pforzheim, wo die Familie Löbl bis 1939 gelebt hatte. In einer Zeremonie wurden Stolpersteine für seine Großeltern eingeweiht.
t-online: Herr Liel, wie geht es Ihnen und wo leben Sie in Israel?
Ich lebe in Herzlyia, zehn Kilometer nördlich von Tel Aviv. Am Samstagmorgen um 6.30 Uhr weckten meine Frau und mich die Sirenen und wir rannten in den Bunker. Seitdem waren wir sechs- oder siebenmal dort. Gerade kam ich von einem Begräbnis eines liebenswerten Studenten zurück. Wie die meisten Israelis stehe ich wahrscheinlich immer noch unter Schock.
Sind Verwandte oder Freunde unter den Geißeln der Hamas?
Ja, Vivian Silver, eine gute Freundin und Friedensaktivistin. Sie ist 76 Jahre alt und gemeinsam setzen wir uns seit mindestens dreißig Jahren für Frieden ein. Sie lebt im Kibbuz Be’eri, ihr Haus haben sie am 7. Oktober niedergebrannt und sie ist nicht aufzufinden. Die unabweisbare Schlussfolgerung lautet, dass die Hamas sie entführt hat.
Ausländer – zum Beispiel Deutsche und Amerikaner – sind unter den Geißeln. Sie sind ein erfahrener Diplomat: Glauben Sie, dass es Geheimgespräche mit Iran oder Ägypten gibt, die Einfluss auf die Hamas haben? Und wem vertrauen Sie am meisten – immer noch den USA?
Soweit ich es überblicke, besitzen etwa ein Drittel der Entführten einen ausländischen Pass. Übrigens hat Vivian auch die kanadische Staatsbürgerschaft. Deutsche gehören zu den Geißeln und der deutsche Botschafter traf einige ihrer Familien. Sie suchen nun den direkten Kontakt zum Außenministerium in Berlin und ich wurde um Hilfe gebeten. Einige Regierungen haben sich als Vermittler angeboten, genießen aber nicht das Vertrauen beider Seiten.
In der Vergangenheit galt Deutschland als verlässlicher Vermittler. Was kann unsere Regierung in dieser Situation tun?
Deutschland kommt eine Schlüsselrolle zu. Katar hat keine diplomatischen Beziehungen mit Israel und der türkische Präsident Erdogan wird in Jerusalem nicht als ehrlicher Makler betrachtet.
Es galt als ausgemacht, dass Israel rasch eine kompromisslose Bodenoffensive nach den schrecklichen Überfällen starten würde. Allerdings scheint eine Invasion fast unmöglich zu sein, solange die Hamas ungefähr 150 Geißeln in Händen hält.
Eine Bodenoffensive braucht Zeit zur Vorbereitung. Die Luftwaffe flog schon bisher routinemäßig Angriffe, besonders in Syrien. Es war uns klar, dass auch die israelische Vergeltung im Gaza aus der Luft beginnen würde. Wo die Geißeln sich befinden, weiß Israel nicht. Wir vermuten, dass die Hamas sie gut versteckt hält und auf Austausch wartet. Für die Hamas sind sie ein strategischer Trumpf.
Offenbar verlangt eine Mehrheit der Israelis nach Vergeltung. Erwarten Sie auch Rache?
Danach ist die allgemeine Stimmung im Land, auch in der Führungsriege und den Generälen der Reserve, die sich in den Medien äußern. Netanjahu hat das Wort Rache in den Mund genommen. Nur einige zivilgesellschaftliche Organisationen verlangen nach Zurückhaltung und warnen davor, vor lauter Rachegelüsten die Sicherheit unbeteiligter Zivilisten im Gaza zu vernachlässigen.
Augenscheinlich erwartete weder die Regierung noch die Militärführung oder der Geheimdienst einen Angriff aus Gaza. Beruht diese Fehleinschätzung auf Hochmut?
Zweifellos war die Ahnungslosigkeit ein kolossales Versagen. Die Haltung war,: Wir sind unschlagbar und die Hamas ist gar nicht fähig, uns ernsthaften Schaden zuzufügen. Deshalb wurden während der Feiertage Truppen aus Gaza ins Westjordanland verlegt, um die Siedler zu schützen. Unsere politischen Führer werden nach dem Krieg nicht an der Macht bleiben. Sie müssen den Preis für ihre unverzeihlichen Fehler bezahlen.
Für Europäer sind der Mossad und Shin Beth die besten Geheimdienste unter den Besten. Finden Sie eine Erklärung, weshalb sie nicht geahnt haben, was auf das Land zukommt?
Nein, ich habe keine Erklärung. Keiner versteht es. Neue Informationen besagen, dass es Warnungen gab, aber sie wurden nicht nach oben weiter gereicht. Netanjahu wachte wie wir alle um 6.30 am Samstagmorgen auf. Die Informationen aus den unteren Ebenen hatten ihn nicht erreicht. Ein gewaltiges Versagen.
Arabische Länder fordern Israel zur Mäßigung auf. Hört man in Israel unter den gegebene Umständen auf sie?
Ich glaube nicht, dass Israel momentan bereit ist, auf solche Forderungen zu hören.
Was ist ihr bestes Szenario: Dass die Geißeln freigelassen werden und Israel auf eine Bodenoffensive verzichtet?
Ich glaube nicht, dass eine voll entfaltete Bodenoffensive unter Garantie kommen wird. Viel hängt von der Wirkung der Luftschläge und allerlei technologischen Operationen ab, auf die Israel zunächst zurückgreifen kann.
Was ist ihr schlimmstes Szenario: Ein großer Krieg nicht nur gegen Hamas und Hisbollah, sondern auch mit Iran?
Das Schlimmste ist schon passiert, der 7. Oktober ist der schlimmste Tag für Israel seit der Gründung und der schlimmste Tag seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es ist, als ob wir uns schon in einem Krieg mit Iran befänden, da die Hamas Unterstützung von dort bekommt.
Wie beurteilen Sie Benjamin Netanjahus Verhalten vor dem Samstag und seither?
Netanjahus politische Rolle ist vorbei, auch wenn er noch da ist. Er und seine Regierung waren besessen davon, die Siedler im Westjordanland zu verteidigen. Er ist für das Desaster am 7. Oktober verantwortlich. Sein Rücktritt wird als ein weiterer Sieg für die Hamas verstanden werden. Auch deswegen ist es noch nicht passiert.
Jetzt hat sich ein Kriegskabinett aus fünf Mitgliedern etabliert, zu denen auch Vertreter der Opposition wie Bobby Gantz gehören. Liegt darin eine Chance, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden?
Ist der Krieg vorbei, ist es auch mit dem Kriegskabinett vorbei. Die Einheit Israels wird auch nur so lange vorhalten, wie Krieg herrscht. Die Kluft wird sofort wieder aufreißen, wenn die Frage nach der Schuld für den 7. Oktober aufgerollt wird.
Das Westjordanland war ein beständiger Unruheherd, weil die Siedler ihre arabischen Nachbarn drangsalierten und Teile der Regierung die Auseinandersetzungen noch anheizten. Geht das nach dem Krieg genauso weiter?
Meiner Meinung nach waren die Siedlungen schon immer eine Bürde für Israel und kein Trumpf. Ich war immer davon überzeugt, dass der Rückhalt in der Regierung das Land auseinander reißen wird. Noch immer sehe ich darin ein Hindernis für Frieden und verstehe nicht, warum Europa die Expansion und die Brutalität schweigend hinnimmt.
Israel ist ins Mark getroffen, weil Israel mit sich selber im Übermaß beschäftigt war. Was folgt aus dieser Heimsuchung?
Nichts wird so bleiben, wie es war. Der Sieg über Israel am 7. Oktober wird wie ein Damoklesschwert über uns hängen, selbst wenn die Hamas zerstört werden sollte. In der Geschichte Israels, des Zionismus und Judaismus wird für immer diese eine schreckliche Seite geschrieben stehen und uns dazu zwingen, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Dafür ist es noch zu früh in diesem Krieg, aber die langfristigen Auswirkungen werden von enormer Tragweite sein. Ich hoffe sehr, dass wir imstande sein werden, den Dingen eine konstruktive Richtung zu geben.
Vor vielen Jahren haben Sie einen Fußballklub gegründet, dessen Mannschaft aus Israelis und Arabern besteht. Bilden sie heute trotz allem noch ein Team?
Aber sicher doch. Die Spieler haben eine WhatsApp-Gruppe gegründet, in der die arabischen Spieler ihren Abscheu über die Brutalität der Hamas äußern. Meine palästinensischen Freunde, die sehr kritisch gegenüber Israel sind, befürchten jetzt, dass die Barbarei der Hamas ihnen schaden wird. Ich erhoffe mir, dass der israelisch-arabische Dialog, um den ich mich sehr bemüht habe, einschließlich einer palästinensischen Liste für die Gemeindewahlen in Jerusalem, die Stimmung beeinflussen kann.
Herr Liel, danke für dieses Gespräch.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.