Jetzt ist sie wieder in vollem Gange, die Debatte übers Asyl. Mit neuem Ernst und Tatendrang und der Ahnung, wie ungemein schwer es fallen wird, die Zahl der Geflüchteten zu reduzieren. 350 000 aus vielen Ländern sollen sich in diesem Jahr dafür bewerben, hier leben zu dürfen. Dazu kommen 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflohen sind und Sonderrechte genießen.
Experten sagen, dass die hohe Zahl der Geflüchteten einem Post-Corona-Effekt zu verdanken sei und natürlich auch der Not in vielen Staaten dieser Erde. Die Menschen kommen aus Somalia und Mali, aus Kolumbien und Venezuela, Syrien, dem Irak und Afghanistan. Mehr als 5 Millionen Menschen haben allein Afghanistan nach der Wiederkehr der Taliban verlassen. Deutschland ist für viele vo ihnen das gelobte Land. Dass die Regierung Merkel im Jahr 2015 die Moralität ihrer Denkungsart unter Beweis stellte, trägt wesentlich zur Anziehungskraft bei.
Was tun? Im neuen „Spiegel“ ist eine Umfrage zitiert, wonach 84 Prozent der Deutschen der Meinung sind, dass zu viele Geflüchtete nach Deutschland kommen und 82 Prozent glauben nicht, dass Politik und Verwaltung die Krise meistern könnten. Die Moralität der Denkungsart, gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine erneut bewiesen, ist mächtig rückläufig.
Die Empathie sinkt mit der Angst um Kontrollverlust. Und die Desillusion, dass der Staat die Kontrolle zurück gewinnen kann, gründet auf Erfahrung. Denn seit vielen Jahrzehnten kreisen die Vorschläge der Parteien immer schon um den Kampf gegen die Schleuserbanden, die Ausweisung nicht anerkannter Asylbewerber und die verschärfte Sicherung der Grenzen als Mittel zur Entlastung der herrschenden Verhältnisse.
Bisher war es so, dass es ohne Zutun der jeweiligen Bundesregierung ein Auf und Ab der Asylbewerber-Zahlen gab. Nun aber stellt sich die Frage, ob die liberale Demokratie, die ohnehin durch schwierigste Debatten über Klima und Ukraine-Krieg und Inflation ramponiert ist, so liberal bleiben kann, wie wir es gewohnt waren, wenn die Asylpolitik das Land zusätzlich spaltet und wiederum der AfD die Segel füllt.
Früher hießen die Schlagzeilen: Das Boot ist voll. Heute redet Markus Söder über Integrationsgrenzen, wofür er die Zahl 200 000 aufführt, die er im Nachtrag allerdings zur Richtgröße aufweicht. Und natürlich sind die Bürgermeister und Oberbürgermeister ans Limit gekommen oder auch schon darüber hinaus. Sie sollen ja für Unterkünfte und Schulen und Kitas und medizinische Versorgung sorgen.
Überhaupt ist es so, um mal etwas Positives zu sagen, dass derzeit Vorschläge und Ideen die Runde machen, über die man ohne Schaum vor dem Mund diskutieren kann. Altbundespräsident Joachim Gauck rechtfertigt neues Denken, er vermag „Spielräume zu entdecken, die uns zunächst unsympathisch sind, weil sie inhuman klingen“. Denn dass es nicht bleiben kann, wie es ist, weiß so ziemlich jeder und gibt es auch zu.
Den weitest gehenden Vorschlag unterbreitet der CDU-Abgeordnete Thorsten Frei. Er empfiehlt, dass deutsche Asylrecht radikal umzubauen, wodurch aus dem individuellen Recht eine Institutsgarantie würde. Die Konsequenz wäre, dass die Europäische Union pro Jahr 300 000 bis 400 000 Schutzbedürftige direkt aus dem Ausland aufnimmt und auf die Mitgliedsstaaten verleiht. Natürlich wäre heute schon gesichert, dass weder Polen noch Ungarn ein Kontingent aufnehmen wollte und deshalb sollten sie nach dem Frei-Plan sich davon mit Geld freikaufen können.
Die Begründung für den Vorschlag ist die Trostlosigkeit, dass schätzungsweise 26 000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken sind und mindestens genau viele auf dem Weg durch die Sahara ihr Leben verließen. Wer kein Herz aus Stein hat, den lässt diese Menschentragik, nicht kalt.
Freis Vorschlag leidet allerdings darunter, dass er nicht im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention steht. Außerdem ist das Problem viel zu komplex, um monokausal gelöst zu werden.
Zahllose deutsche TV-Talkshows, zuletzt gestern Abend mit Anne Will, haben sich mit den real existierenden Verhältnisse in Lampedusa oder Moira, im Mittelmeer und der Sahara, beschäftigt. Mich hat am meisten ein Mann beeindruckt, der enorm kompetent und ohne Tamtam seine Auffassungen vertritt. Er heißt Gerald Knaus und ist ein österreichischer Migrationsforscher. Von ihm stammt einer der wenigen klärenden Sätze in der Kakophonie von halbgaren Meinungen. Knaus sagte im Interview mit dem „Spiegel“: „Es gibt ein Recht auf Asyl, aber nicht auf Migration.“ So sagt es übrigens auch die Flüchtlingsorganisation der Uno, UNHCR.
Das Institut, das Knaus leitet, hat das Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei ausgearbeitet, das im März 2016 in Kraft trat und zur Entspannung beitrug, weilte Zahl der Flüchtlinge von einer Million (im berühmten Jahr 2015) auf 26 000 zurückging. Dieses Abkommen, so meint Knaus, müsste erneuert werden, um den gleichen Effekt wie damals vor sieben Jahren zu entfalten. Besonders Griechenland ist daran interessiert und würde Zehntausende Flüchtlinge aus der Türkei aufnehmen, wenn die Türkei wieder illegal von dort nach Griechenland Geflüchtete aufnähme.
Ein anderer Vorschlag, der auch in der deutschen Debatte nahegelegt wird, betrifft sichere Drittstaaten im Norden Afrikas, in die dann Menschen, die hierzulande einen Antrag auf Asyl gestellt haben, in Aufnahmezentren geschickt werden. Dänemark, von einer Sozialdemokratin regiert, geht einen Schritt weiter und will, dass anerkannte Asylbewerber dann auch dort bleiben.
Am Ende wird sich die Veränderung des real angewandten Asylrechts nicht ohne unsympathische Vorschläge vollziehen, die inhuman klingen. Da Geflüchtete auch über die Route Russland/Belarus an deutsche Grenzen gelangen, geht es kaum noch ohne Schutz der Grenzen, um die Kontrolle nicht noch mehr zu verlieren. Da das Liberale an der deutschen Demokratie bröckelt, könnten Richtgrößen definiert werden, wie viele Geflüchtete das Land verkraften kann. Damit nicht noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, sollten zusätzliche Abkommen mit sicheren Drittstaaten wie Marokko geschlossen werden, in denen dann Asylverfahren stattfinden.
Auf die umsichtige Kombination von Faktoren kommt es an. Frisches Denken empfiehlt sich. Phantasie und Mut zu neuen Lösungen sind willkommen.
In zwei Wochen wählen Bayern und Hessen neue Landtage. Dass die Angst vor Kontrollverlust dabei eine Rolle spielt, ist ziemlich sicher. Hinterher wissen wir, wie groß sie ist.
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.