Jimmy Carter war ein guter Mensch. Seine Moral gründete in seinem Christentum, über das er wie über eine Selbstverständlichkeit redete. Für ihn war Gott keine transzendente Instanz, unerforschlich und fern, sondern ein naher Verwandter, mit dem man innige Gespräche führt. Er sagte, er habe dafür gebetet, dass ihm ein friedliches Ende beschert sein möge. „Ich bat Gott nicht darum, mich leben zu lassen, aber ich bat ihn um eine richtige Haltung gegenüber dem Tod. Und jetzt lebe ich vollkommen und vollständig entspannt auf den Tod hin.“
Im Leben von James Earl Carter, den jedermann Jimmy nennen durfte und musste, waren die letzten Dinge stets gegenwärtig. Die Gläubigkeit geht im amerikanischen Süden tiefer als an den Küsten Neuenglands und Kaliforniens – im Guten wie im Schlechten. Sie verursachte ja auch den Rassismus, der dem 19. Jahrhundert anzugehören schien, wie man denken könnte, aber das war ein grundlegender Irrtum. Diese Ursünde der Gründung Amerikas scheint nicht zu vergehen und nichts an diesem Land lässt sich weniger verstehen als die Segregation oder der Ku-Klux-Klan.
In seinen Anfängen schlug sich Jimmy Carter auf die Seite der Rassisten. Als er 1970 zum ersten Mal Gouverneur von Georgia werden wollte, suchte er die Unterstützung von George Wallace, einer der übelsten Figuren, die sich gegen die Aufhebung der Rassentrennung im Süden wehrte, als sei sie des Teufels. Wie Jimmy Carter diese Verirrung aus Opportunismus seinem Gott erklärte, wüsste ich gern.
Als er Gouverneur war, verwandelte er sich in den Menschen, den wir kennen. Er sagte, die Rassentrennung sei Vergangenheit. Mit diesem Satz war er, man glaubt es kaum, der erste Amtsinhaber im Süden, der Selbstverständliches aussprach. Als er im Jahr 1976 Präsident wurde, war er wiederum ein Phänomen, nämlich der erste Amtsinhaber aus dem tiefen Süden seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg.
Er war der große Unbekannte. Der Erdnussfarmer aus Georgia bildete mit seiner Frau Rosalynn ein Duo, als es noch unüblich war, dass die Ehefrau mehr als Dekor war, nämlich eine Ratgeberin des Präsidenten. „Rosalynn and I“, so leitete er unzählige Sätze ein. Das Paar bildete eine Symbiose und nichts wäre schöner für die beiden gewesen, hätte ihr Gott sie zusammen heimgeholt. Aber Rosalie starb zuerst, am 19. November 2023, mit 96 Jahren.
Ihr Mann Jimmy war ein gläubiger Mensch in einer zynischen Zeit. Als er Präsident wurde lag der Rücktritt Richard Nixons nur zwei Jahre zurück, der Vietnamkrieg nur ein Jahr, die Veteranen kehrten heim in ein Land, das nichts von ihnen wissen wollte, hatten sie doch einen Krieg verloren, in dem sie unfassbar überlegen gewesen waren, was ihnen aber nichts nutzte.
Jimmy Carter war nicht zynisch. In diesem geschichtlichen Augenblick war er das Beste, was seinem Land passieren konnte. Amerika war zwar eine Weltmacht, die aus den falschen Gründen falsche Kriege führte, aber es war auch eine Nation, die sich nach Erlösung sehnte. Carter bot Erlösung an und deshalb durfte er im Januar 1977 ins Weiße Haus einziehen.
Damals begannen zwei Entwicklungen, die bis heute andauern: Amerika wählt, erstens, einigermaßen zuverlässig das genaue Gegenteil des jeweiligen Amtsinhabers. Nixon war ein Ganove, Carter ein Gottesfürchtiger. Und, zweitens, besiegen unbekannte Größen aus der Provinz, die ultimativen Washington-Insider: nach Carter kamen Bill Clinton und Barack Obama, aber auch Donald Trump.
Die schöne Harmonie zwischen Carter und Amerika hielt nicht allzu lange an. Sein annus horribilis war 1979. Zuerst zog Ajatollah Khomeini in Teheran ein und vertrieb Schah Reza Pahlevi, den getreuen Verbündeten der Weltmacht USA. Dann schickte die Sowjetunion ihre Rote Armee nach Afghanistan, weil sie aus dem schrecklichen Krieg der anderen Supermacht in Vietnam nichts gelernt hatte.
Die Folge des Machtwechsels in Iran war die zweite Erdölkrise, die den Westen ins Mark traf. Sie verursachte hohe Inflation und hohe Arbeitslosigkeit in den fortgeschrittenen Industriestaaten, auch in den USA. Damit war das Ende der Eintracht mit seinem Präsidenten erreicht.
Es kam noch schlimmer für Jimmy Carter. Weil die USA dem krebskranken Schah Behandlung im eigenen Land gewährte, besetzten 400 Studenten in Teheran die Botschaft des „großen Satans“ und nahmen 52 Diplomaten zu Geiseln. Sie verlangten die Auslieferung des Schahs, was Carter ablehnte. Das geschah am 4. November 1979.
Was macht ein Präsident in so einer Lage? Er sagt, er werde keine Aktion zur Befreiung erlauben und lässt sie heimlich vorbereiten. In der Nacht zum 25. April 1980 begann das Unternehmen „Adlerklaue“ mit Flügen in die große Salzwüste im Süden Irans. Wegen eines verheerenden Sandsturms musste die Befreiungsaktion sofort abgebrochen werden. Es kam, wie es immer kommt: Beim Start stürzte ein Hubschrauber ab. Acht Soldaten waren sofort tot, vier verletzt. Die Leichen stellte das Regime der Mullahs öffentlich in Teheran aus.
Eine Katastrophe. Eine beispiellose Demütigung. Eine Verhöhnung der Weltmacht. Gepeinigt vom Vietnamkrieg, musste Amerika einen neuerlichen Nachweis für strategisches Unvermögen und militärische Schwäche hinnehmen. Damals wollte die Weltmacht noch unbedingt Weltmacht sein und für Niederlagen suchte sie Schuldige. Einer davon saß im Weißen Haus.
Ajatollah Chomeini machte sich einen Spaß daraus, den nächsten amerikanischen Präsidenten zu bestimmen, dessen Wahl im November 1980 anstand. Die Geiseln ließ er zielsicher am 19. Januar 1981 frei, einen Tag vor der Amtseinführung Ronald Reagans, der mit überwältigender Mehrheit gewählt worden war.
Jimmy Carter zog sich nach Plains zurück, seiner Heimatstadt in Georgia. Für einige Zeit hielt er sich der Öffentlichkeit fern, dann gründete er sein Carter Center und setzte sich fortan für Menschenrechte auf der ganzen Welt ein. Das Center widmet sich der Konfliktverhütung und überwacht Wahlen.
Jimmy Carter selber wirkte als Vermittler in Haiti und Bosnien-Herzegowina, reiste nach Kuba und traf Fidel Castro. Er schrieb ein Buch, für das er einen beredeten Titel wählte: „Palestine Peace, not Apartheid“, in dem er Israel die Hauptschuld an den unhaltbaren Zuständen gab.
Da war er wieder, der Moralist Jimmy Carter. Ihm machte der Aufschrei über sein Buch in Israel und Amerika nichts aus. Er bewegte sich ja jetzt auf seinem eigenen Planeten, allein seinem Gewissen verpflichtet. Um Humanität ging es ihm, um Demokratie und Gerechtigkeit. Politik und Selbstanpreisung war gestern. Die Freiheit vom Schaugeschäft genoss er, keine Frage. Und, man glaubt es kaum, er freundete sich mit Bob Dylan an, dem großen Schweiger.
Im Jahr 2002 erhielt Jimmy Carter den Friedensnobelpreis, die maximale Genugtuung für das unrühmliche Ende seiner Präsidentschaft. Als Zivilist, als Amerikaner, als Weltbürger ehrte ihn das Norwegische Nobelkomitee.
Jimmy Carter lebte nach dem Auszug aus dem Weißen Haus noch 43 Jahre, länger als jeder andere Präsident vor ihm. Bis zuletzt reiste er, empfing Gäste und gab Sonntags Erwachsenen Unterricht an der Maranatha Baptist Church in Plains. Das Kleine und das Große waren ihm gleich wichtig. Dann zog er sich, gemeinsam mit Rosalynn zum Sterben zurück.
Jetzt folgt Jimmy seiner Rosalynn und hält Einzug bei seinem Gott, ein gläubiger Baptist des tiefen Südens.
Veröffentlicht uf t-online.de, gestern.