Auf Bill Clinton geht ein Gesetz aus dem Jahr 1996 zurück, das in guter Absicht beschlossen wurde, aber unabsehbare Folgen zeitigt. Damals war das Internet noch jung und es schien nötig zu sein, die neuen digitalen Plattformen vor staatlicher Zensur zu schützen. Mit der Konsequenz, dass die Betreiber keinerlei Verantwortung für Veröffentlichtes übernehmen müssen, leben wir heute.
Elon Musk darf schreiben und veröffentlichen, was er will, es sei denn es ist strafrechtlich relevant. Der übergroße Rest, egal wie schwachsinnig oder erkenntnisreich, steht unter dem Gebot der Meinungsfreiheit.
Seit dem Attentat von Magdeburg halten sich Politiker aller Parteien mit Äußerungen zurück. Nicht etwa, weil Weihnachten bevorsteht oder weil sie den Wahlkampf in christlicher Absicht scheuen, sondern weil der Fall zu schwierig ist, zu ungewöhnlich, so dass selbst geübte Scharfmacher, etwa in Bayern, die üblichen Reflexe vermissen lassen.
Taleb al-Abdulmohsen, 50, Arzt, aus Saudi-Arabien, seit 18 Jahren hier, Arbeit in einem Gefängnis, anti-islamischer Aktivist, massiv in den sozialen Medien unterwegs. Nicht etwa ein Syrer, des Lesens und Schreibens unkundig und islamisch radikalisiert – eben nicht der Archetyp des illegalen Immigranten, den die Rechte an die Wand malt, von der AfD bis zur „Heimat“, wie die NPD sich nun nennt.
Nicht einmal die AfD wagte es zunächst, routiniert nach Remigration zu verlangen und schaute erst einmal in den Mitgliederlisten nach, ob der Attentäter etwa einer von ihnen war. War er wohl nicht. Nur auf Björn Höcke ist Verlass. Er meldete sich alsbald auf auf seinem Telegram-Kanal zu Wort: Die Bemühungen von Politik und Medien, den Verdacht auf einen islamistischen Hintergrund „zu zerstreuen, sprechen Bände“. Ironischerweise spricht Bände, dass sich Höcke und der Attentäter-Arzt einig sind in ihrem Hass auf den Islamismus.
Im Netz findet sich passende Gesellschaft, denn auch dort kommt es auf die schnelle scharfe Andeutung an, die wilde Verschwörungstheorie. Dort darf jeder, der Laptop/Handy/Tablet bedienen kann, seine maßgebliche Meinung faktenfern kundtun: Er habe sich nur verstellt und sich niemals vom Islam losgesagt, dieser Taleb al-Abdulmohsen. Er sei in Wahrheit ein Geheimdienstagent gewesen, der saudiarabische Dissidenten in Deutschland ausgespäht habe. Oder war er vielleicht gar kein Arzt?
Die Wahrheit ist langweilig. Sie beruht auf Fakten, kann zwar hin und her gewendet werden, bietet aber so etwas wie eine allgemein gültige Grundlage für jedwede Auslegung und damit eine gewisse Verbindlichkeit. Aufregender ist jedoch die Zwischenspanne, die Phase, wenn das schreckliche Ereignis noch nicht lange her ist und sich die spintisierende Spekulation ungehemmt ins Netz ergießen kann.
Da kann man alles behaupten und ist für nichts verantwortlich. Diese Erregung, dieses Voyeurhafte, diese völlig losgelöste Amoralität breitet sich rasend schnell aus und erzeugt eine Grundstimmung, die jederzeit abrufbar ist.
Wenn es gut geht, bleibt es beim Dualismus von vorsichtiger Behandlung in der Öffentlichkeit und der Raserei im Netz. Unter den herrschenden Umständen ist das aber fast schon eine Utopie. In Amerika wird Donald Trump, der ungezügelt redet und denkt wie die Enthemmten in den sozialen Medien, zum zweiten Mal Präsident.
Verantwortungsvolle Demokratien tun gut daran innezuhalten, wenn Attentäter wie in Magdeburg oder auf dem Berliner Breitscheidplatz wahllos so viele Menschen töten und verletzen wollen, wie sie können. Fassungslosigkeit verschlägt die Sprache. Gesten, wie das Blumen-und Kerzenmeer vor der Magdeburger Johanniskirche, sind im Schock beredter als Worte.
Demokratien müssen dann aber auch wieder die richtigen Worte bei Andachten und Trauergottesdienst finden. Darauf haben die Angehörigen der Getöteten und Verletzten ein Anrecht. Und unsere Politiker, die nach Magdeburg kamen, haben ein Anrecht auf Respekt, was denn sonst.
Natürlich wollen wir so schnell wie möglich alles über die Biographie dieses Arztes wissen, um zu verstehen, was ihn dazu antrieb, in einen Wagen zu steigen, Gas zu geben und drei Minuten lang Menschen auf einem Weihnachtsmarkt zu töten und zu verletzen. Wie so viele andere Attentäter vor ihm tobte er sich zunächst in den sozialen Medien aus, beschloss dann aber, dass ihm dieses Toben nicht mehr genug war und schockte eine Stadt und ein ganzes Land.
Aber lässt sich vermeiden, dass irregeleitete Existenzen Unglück über Menschen bringen, die nichts als vorweihnachtliche Freude genießen wollen? Wie denn?
Veröffentlicht auf t-online.de, heute.