Erstaunter Blick auf meine Eltern

Bei einem gemütlichen Gespräch in einem beschaulichen Garten kam das Gespräch auf meine Eltern, die ich plötzlich in einem neuen Licht sah. Unsere Gastgeber, ein Schwulen-Ehepaar, hatten zu erkennen gegeben, dass sie uns dankbar waren. Der eine der beiden war Staatssekretär in einem ostdeutschen Bundesland und sein Mann blieb nach einer missglückten Knie-Operation mit ständigen Schmerzen zu Hause. Uns waren sie mehrmals auf offiziellen Anlässen begegnet und wir unterhielten uns mit beiden, was ihnen auffiel. Denn die meisten Menschen konzentrierten sich auf den Staatssekretär und ließen den tätowierten Partner links liegen.

Zur Begründung meines Verhaltens erzählte ich eine Geschichte aus meiner Kindheit. Meine Eltern hatten im Jahr 1960 ein Haus gebaut. Viel Geld hatten sie nicht, sie waren kaufmännische Angestellte. Ein kleines Erbe von der Mutter meines Vaters erleichterte den Baupreis von rund 60 000 Mark. Um sich die Bedienung des Kredits dauerhaft zu erleichtern, bauten sie eine kleine Wohnung im Souterrain ein, die ebenerdig lag und einen eigenen Eingang über den Garten besaß. Die Wohnung bestand aus einem großen Zimmer, einer kleinen Küche auf dem Flur und einer Dusche.

Der erste Mieter war Herr Gleue. Aus irgendeinem Grund kann ich mich an seinen Namen erinnern. Herr Gleue war Chefdramaturg am Städtebundtheater in Hof, ein hoch gewachsener Mann in der zweiten Hälfte der Dreißiger, vermute ich. Herr Gleue kam an jedem Sonntag hoch zu uns zum Mittagessen. Der Besuch bei fränkischen Klößen und Braten nahm rasch Tradition an. Meine Eltern waren auf selbstverständliche Weise freundlich und nett zu Herrn Gleue. Chefdramaturg machte ja auch was her. Meine Eltern hatten ein Abonnement fürs Theater. Sie waren in Maßen kunstsinnig, ohne Bohei daraus zu machen.

Alle paar Wochen bekam Herr Gleue Besuch aus Darmstadt. Herr Gleue war schwul. Sein Freund arbeitete im Hessischen ebenfalls am Theater. Und wenn er da war, luden meine Eltern eben beide zum sonntäglichen Mahl ein.

1960 gab es noch den Paragraphen 175, wonach Homosexualität ein Straftatbestand war. Rechtlich gesehen, leisteten meine Eltern Beistand zu illegalem Verhalten. Menschlich gesehen waren sie erstaunlich liberal, man kann auch sagen, sie waren aufgeklärt. Wenn wir heute aufgeklärt sind, ist das vergleichsweise wohlfeil. Anders als meine Eltern gehen wir keinerlei Risiko damit ein.

Gestern fuhr ich in der Nacht von Nizza zurück nach Sanary-sur-Mer, wo wir Urlaub machen. Dabei ging mir das Gespräch mit den schwulen Freunden durch den Kopf und ich fragte mich, woraus die Liberalität meiner Eltern eigentlich entsprang. Mein Vater war ein Bauernsohn, meine Mutter stammte aus einer verarmten bürgerlichen Familie. Aufgeklärtheit lag biographisch nicht besonders nahe. Ihre entspannte Haltung anderer Lebensform gegenüber war ihre persönliche Leistung. Darin waren sie sich überaus einig.

Als meine Gedanken schweiften – je länger der Tod meiner Eltern zurück liegt, desto näher rücken sie mir – , da fielen mir die Namen einiger Freunde aus dieser Zeit ein, mit denen sie abends in die „Silberspindel“ tranken und tanzten oder im „Strauß“ aßen. Der eine Freund war ein ehemaliger Rennfahrer und Geschäftsmann. Ursprünglich war er Pole und wie er den Krieg und die Nazis überlebt hatte, weiß ich leider nicht. Damals war ich ein Kind, später hätte ich ihn fragen können, habe es aber leider versäumt. Friedo, so hieß er, sah blendend aus und hätte schöne Freundinnen, was ich sehr wohl bemerkt habe.

Das Ehepaar Spitz kam häufig in der Hügelstraße vorbei. Er war Anwalt, ein österreichischer Jude, der in einem KZ-Außenlager Zwangsarbeit verrichten musste, wenn ich mich richtig erinnere. Seine Frau war schön und eher still. Friedo und die Spitzens waren schon länger miteinander befreundet. Wie schade, dass ich nicht mehr von ihnen weiß.

Interessant erscheint mir heute, dass meine Eltern Freunde mit einer ganz anderen Herkunft und Biographie hatten. Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass weder meine Mutter noch mein Vater in Verdacht standen, Nazis gewesen zu sein. Nur deshalb vermochten Menschen wie Friedo und die Spitzens meine Eltern zu akzeptieren.

Heute sieht es für mich so aus, als hätten sie Freunde um sich versammelt, die ein fernes Leben lebten und bunter in der Gegenwart unterwegs waren als meine Eltern, die ein solides Leben führten, das ihnen Sicherheit und Auskommen garantierte, aber eben nicht besonders ereignisreich ausfiel. Privat blieben sie neugierig auf Menschen, mit denen sie jenseits der Freundschaft eigentlich wenig verband.

In diesen Kreis gehörten auch Herr Gleue und sein Freund, die beiden Theatermenschen. Herr Gleue bekam nach zwei, drei Jahren ein Engagement an einem fernen Theater und blieb noch lange in Verbindung mit meinen Eltern.

Friedo blieb eine feste Größe bis ins hohe Alter. Ich glaube, Herr Spitz starb relativ früh, seine Frau zog zurück nach Wien.

Offenbar waren sich meine Eltern gewiss, wo sie im Leben und in der Gesellschaft standen und hingehörten. Was mich im Rückblick besonders freut, ist ihre Aufgeschlossenheit, ihre Bereitschaft anzuerkennen, dass andere Menschen anders lebten, andere Erfahrungen machten und daraus andere Schlüsse zogen.